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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Lin Abend bei den musikalischen Meiningern.

ist -- Mg.to.Siren! Wie gesagt -- man kann an dieser Stelle andrer Meinung
sein; es führen auch hier mehrere Wege nach Rom. Wie diejenigen Unrecht
haben, welche diese eine Art der Wiedergabe für ausschließlich richtig halten,
so sind auch die andern zu tadeln, welche diese selbe Art unbedingt verwerfen,
deshalb verwerfen, weil sie prinzipiell die Tempvmodifikation im Orchestervor-
trnge verwerfen. Ein Teil der letztern Herren thut dies aus Bequemlichkeit
und Ängstlichkeit, auch aus Besorgnis vor dein Unfug, welcher gerade im
Orchester aus dein Mißbräuche der Tempofreiheit entstehen kaun. Hanslick ist
diesen Naturen mit einem Bonmot entgegengekommen, indem er meint, die freie
Temponahme beim Orchestervortrage erzeuge "musikalische Seekrankheit." Das
thut sie hier ebensowenig, als wenn sich Joachim ihrer beim Vortrage des
Beethovenschen Violinkonzerts bedient. Es kommt darauf an, wie weit diesem
Vortragsmittel das Orchester gewachsen ist und ob es der Dirigent innerlich
künstlerisch anwendet oder mir äußerlich prahlend wie ungefähr die italienischen
Sänger ihre Fermaten und Kadenzen.

Herr von Bülow ist mit den Tempoveränderungen im allgemeinen ma߬
voll. Es ist immer schlimm, wenn sie beim Zuhören auffallen, und das begab
sich bei der Coriolanouvertüre mit dem rit^i-ela-nao vor dem Eintritt des zweiten
Themas, in dem ersten Satze der Eroica bei dem Clarinettenthemci. Das klang
nicht wie gefühlt, sondern wie gemacht. Besser nahm sich die auffällige Tempo-
bcschleunigung im letzten Satze der Sinfonie aus, nach Schluß der Flöteu-
passage, beim Anfang der 6-moll-Episode. Wer noch in Ausstellungen fortfahren
wollte, würde diese bei dem Vortrage des zweiten Themas der Coriolanouver¬
türe anbringen können. Dieses klang etwas kühl galant, während es doch von
innigster Natur ist und sich auch so ganz einfach darstellen läßt, wenn das
erste Viertel in den Melodieinstrumenten etwas breiter gespielt wird. Herr
von Bülow hat sich schon als Klavierspieler durch Wärme des Gefühls nie
hervorgethan. Auch seine Individualität hat ihre sterbliche Seite. Aber er hat der
Kunst mit dem, was er besitzt, große Dienste geleistet, und wenn er die Vorzüge
seiner Musikbehandlung jetzt prinzipiell dem allgemeinen Interesse des Orchester-
vortrags will zu Gute kommen lassen, so können wir uns nur alle dazu gratu-
liren. Die Lebhaftigkeit seines Temperaments und die Schärfe seines Ver¬
standes sind wirklich ungewöhnlich. Er übersieht nichts in der Partitur, und
von den Fäden des Jnstrumentengewebes entgeht ihm keiner, sei er noch so
versteckt. Man sollte doch meinen, in Beethovenschen Partituren sei nichts Neues
mehr zu entdecken. Wie aber seinerzeit Mendelssohn die Leipziger Musiker,
welche die neunte Sinfonie schon so häufig gehört hatten, mit einem Spaß
überraschte, welchen Beethoven der Baßposaune zugedacht und welchen bis dahin
niemand im Gewandhause gemerkt hatte, so machte uns Bülow auf eine artige
Kleinigkeit im Tripelkvnzert aufmerksam. Das ist die liegende Hornstimme in
dem langsamen Satze, die bis jetzt wohl niemand außer Bülow so scharf hervor-


Lin Abend bei den musikalischen Meiningern.

ist — Mg.to.Siren! Wie gesagt — man kann an dieser Stelle andrer Meinung
sein; es führen auch hier mehrere Wege nach Rom. Wie diejenigen Unrecht
haben, welche diese eine Art der Wiedergabe für ausschließlich richtig halten,
so sind auch die andern zu tadeln, welche diese selbe Art unbedingt verwerfen,
deshalb verwerfen, weil sie prinzipiell die Tempvmodifikation im Orchestervor-
trnge verwerfen. Ein Teil der letztern Herren thut dies aus Bequemlichkeit
und Ängstlichkeit, auch aus Besorgnis vor dein Unfug, welcher gerade im
Orchester aus dein Mißbräuche der Tempofreiheit entstehen kaun. Hanslick ist
diesen Naturen mit einem Bonmot entgegengekommen, indem er meint, die freie
Temponahme beim Orchestervortrage erzeuge „musikalische Seekrankheit." Das
thut sie hier ebensowenig, als wenn sich Joachim ihrer beim Vortrage des
Beethovenschen Violinkonzerts bedient. Es kommt darauf an, wie weit diesem
Vortragsmittel das Orchester gewachsen ist und ob es der Dirigent innerlich
künstlerisch anwendet oder mir äußerlich prahlend wie ungefähr die italienischen
Sänger ihre Fermaten und Kadenzen.

Herr von Bülow ist mit den Tempoveränderungen im allgemeinen ma߬
voll. Es ist immer schlimm, wenn sie beim Zuhören auffallen, und das begab
sich bei der Coriolanouvertüre mit dem rit^i-ela-nao vor dem Eintritt des zweiten
Themas, in dem ersten Satze der Eroica bei dem Clarinettenthemci. Das klang
nicht wie gefühlt, sondern wie gemacht. Besser nahm sich die auffällige Tempo-
bcschleunigung im letzten Satze der Sinfonie aus, nach Schluß der Flöteu-
passage, beim Anfang der 6-moll-Episode. Wer noch in Ausstellungen fortfahren
wollte, würde diese bei dem Vortrage des zweiten Themas der Coriolanouver¬
türe anbringen können. Dieses klang etwas kühl galant, während es doch von
innigster Natur ist und sich auch so ganz einfach darstellen läßt, wenn das
erste Viertel in den Melodieinstrumenten etwas breiter gespielt wird. Herr
von Bülow hat sich schon als Klavierspieler durch Wärme des Gefühls nie
hervorgethan. Auch seine Individualität hat ihre sterbliche Seite. Aber er hat der
Kunst mit dem, was er besitzt, große Dienste geleistet, und wenn er die Vorzüge
seiner Musikbehandlung jetzt prinzipiell dem allgemeinen Interesse des Orchester-
vortrags will zu Gute kommen lassen, so können wir uns nur alle dazu gratu-
liren. Die Lebhaftigkeit seines Temperaments und die Schärfe seines Ver¬
standes sind wirklich ungewöhnlich. Er übersieht nichts in der Partitur, und
von den Fäden des Jnstrumentengewebes entgeht ihm keiner, sei er noch so
versteckt. Man sollte doch meinen, in Beethovenschen Partituren sei nichts Neues
mehr zu entdecken. Wie aber seinerzeit Mendelssohn die Leipziger Musiker,
welche die neunte Sinfonie schon so häufig gehört hatten, mit einem Spaß
überraschte, welchen Beethoven der Baßposaune zugedacht und welchen bis dahin
niemand im Gewandhause gemerkt hatte, so machte uns Bülow auf eine artige
Kleinigkeit im Tripelkvnzert aufmerksam. Das ist die liegende Hornstimme in
dem langsamen Satze, die bis jetzt wohl niemand außer Bülow so scharf hervor-


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[0523] Lin Abend bei den musikalischen Meiningern. ist — Mg.to.Siren! Wie gesagt — man kann an dieser Stelle andrer Meinung sein; es führen auch hier mehrere Wege nach Rom. Wie diejenigen Unrecht haben, welche diese eine Art der Wiedergabe für ausschließlich richtig halten, so sind auch die andern zu tadeln, welche diese selbe Art unbedingt verwerfen, deshalb verwerfen, weil sie prinzipiell die Tempvmodifikation im Orchestervor- trnge verwerfen. Ein Teil der letztern Herren thut dies aus Bequemlichkeit und Ängstlichkeit, auch aus Besorgnis vor dein Unfug, welcher gerade im Orchester aus dein Mißbräuche der Tempofreiheit entstehen kaun. Hanslick ist diesen Naturen mit einem Bonmot entgegengekommen, indem er meint, die freie Temponahme beim Orchestervortrage erzeuge „musikalische Seekrankheit." Das thut sie hier ebensowenig, als wenn sich Joachim ihrer beim Vortrage des Beethovenschen Violinkonzerts bedient. Es kommt darauf an, wie weit diesem Vortragsmittel das Orchester gewachsen ist und ob es der Dirigent innerlich künstlerisch anwendet oder mir äußerlich prahlend wie ungefähr die italienischen Sänger ihre Fermaten und Kadenzen. Herr von Bülow ist mit den Tempoveränderungen im allgemeinen ma߬ voll. Es ist immer schlimm, wenn sie beim Zuhören auffallen, und das begab sich bei der Coriolanouvertüre mit dem rit^i-ela-nao vor dem Eintritt des zweiten Themas, in dem ersten Satze der Eroica bei dem Clarinettenthemci. Das klang nicht wie gefühlt, sondern wie gemacht. Besser nahm sich die auffällige Tempo- bcschleunigung im letzten Satze der Sinfonie aus, nach Schluß der Flöteu- passage, beim Anfang der 6-moll-Episode. Wer noch in Ausstellungen fortfahren wollte, würde diese bei dem Vortrage des zweiten Themas der Coriolanouver¬ türe anbringen können. Dieses klang etwas kühl galant, während es doch von innigster Natur ist und sich auch so ganz einfach darstellen läßt, wenn das erste Viertel in den Melodieinstrumenten etwas breiter gespielt wird. Herr von Bülow hat sich schon als Klavierspieler durch Wärme des Gefühls nie hervorgethan. Auch seine Individualität hat ihre sterbliche Seite. Aber er hat der Kunst mit dem, was er besitzt, große Dienste geleistet, und wenn er die Vorzüge seiner Musikbehandlung jetzt prinzipiell dem allgemeinen Interesse des Orchester- vortrags will zu Gute kommen lassen, so können wir uns nur alle dazu gratu- liren. Die Lebhaftigkeit seines Temperaments und die Schärfe seines Ver¬ standes sind wirklich ungewöhnlich. Er übersieht nichts in der Partitur, und von den Fäden des Jnstrumentengewebes entgeht ihm keiner, sei er noch so versteckt. Man sollte doch meinen, in Beethovenschen Partituren sei nichts Neues mehr zu entdecken. Wie aber seinerzeit Mendelssohn die Leipziger Musiker, welche die neunte Sinfonie schon so häufig gehört hatten, mit einem Spaß überraschte, welchen Beethoven der Baßposaune zugedacht und welchen bis dahin niemand im Gewandhause gemerkt hatte, so machte uns Bülow auf eine artige Kleinigkeit im Tripelkvnzert aufmerksam. Das ist die liegende Hornstimme in dem langsamen Satze, die bis jetzt wohl niemand außer Bülow so scharf hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/523>, abgerufen am 26.06.2024.