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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Lin Abend bei den musikalischen Meiningern.

gäbe des musikalischen Gedankengangs. Das Wort bezeichnet eine sehr einfache
Forderung, und es erregt vielleicht manchem Leser Befremden, das; in dieser
Beziehung jene Mcininger Kleinstädter sich etwas Besondres wissen wollen. In
Wirklichkeit ist aber die Klarheit bei Orchestervorträgen keine leichte Sache, und
berühmte wie unberühmte Orchester bleiben ihr zeitweilig vieles schuldig. Jeder
nachdenkende Konzertbesuchcr kann das aus seiner eignen Erfahrung bestätigen.
Spielt er seine Beethovenschen Sinfonien zu Hause am Klavier, so ist ihm
alles verständlich; hört er sie im Orchester, so kommt es vor, daß er den Anhalt
verliert. Gutmütig läßt er diese Thatsache auf sich beruhen und setzt gelegentlich
einem jungen Freunde anseinander, daß es ziemlich schwer sei, einem Orchester¬
stück genau und ununterbrochen zu folgen. "Das liegt in der Natur der Sache,
fügt er hinzu, und das menschliche Ohr muß erst allmählich und mühsam die
Fertigkeit erwerben, sich in dem Gebrause und Gewirr der vielen Jnstrnmcnten-
stimmen zurecht zu finden." Die Undeutlichkeit liegt aber nicht in der Natur
der Sache, sondern ganz wo anders; die Dirigenten selbst sind sich derselben
selten bewußt. Die fortwährende Wiederholung derselben Kompositionen hat sie
mit sich gebracht. Wohl sollte sich der Vortrag bei jeder neuen Aufführung
eines klassischen Werkes verfeinern. Aber in der Regel verfällt er der Gefahr,
zu verflachen. Ausführende und Zuhörende kennen das Werk oder glauben es
zu kennen. Was sie nicht wirklich hören, ergänzen sie aus Eigenem, und so
schleichen sich Mängel ein, die von den Eiugepfarrten des betreffenden Musik¬
sprengels gar keiner merkt. Die Herren Rezensenten natürlich inbegriffen!

Moritz Hciuptmann giebt in seinen Briefen wiederholt der Verwunderung
und dem Unwillen Ausdruck, welche ihm der Anblick des allzu großen Autori¬
tätsglaubens einflößte, der ihm in der deutsche" Musikwclt häufig ausstieß. Er
ärgert sich über deu "dummen Respekt," mit welchem seine "Qnintenschüler"
jedes seiner Worte entgegennehmen, er ist unzufrieden mit dem allzu klassische"
Zuschnitt der Programme in den Leipziger Gcwnndthanskonzerten, weil dabei
die Zuhörer in eine gedankenlose Bewunderung verfielen. Noch viel frappanter
aber als in diesen Fällen nimmt sich das blinde Vertrauen des deutschen
Musikfreundes dann aus, wenn ein anerkanntes Meisterwerk durch eine wohl-
akkreditirte Kapelle ausgeführt wird. Da stehen sie nun oben, die Herren Mu¬
siker, und spielen den ersten Satz der Eroiea, das kühnste Stück, das Beethoven
als Sinfoniker hingestellt hat. Es kommt die Hauptstelle, wo ein Kampf greif¬
bar im Orchester wütet, wo sich die streitenden Parteien so im leidenschaftlichsten
Ringen und Stürmen erhitzen und verwirren, daß beiden der Atem ausgeht und
mitten in der schneidendsten und schärfsten Dissonanz abgebrochen werden muß.
Es ist eine fürchterliche Stelle, und beim bloßen Lesen der Partitur wird
einem kalt und warm zugleich. Aber dieses um seine "ausgezeichnete Pflege
der Klassiker" weitgepriesene Orchester spielt sie ruhig und gelassen wie ein Abend¬
lied. Wir sind indignirt. Das verehrliche Publikum aber -- spendet am Ende


Lin Abend bei den musikalischen Meiningern.

gäbe des musikalischen Gedankengangs. Das Wort bezeichnet eine sehr einfache
Forderung, und es erregt vielleicht manchem Leser Befremden, das; in dieser
Beziehung jene Mcininger Kleinstädter sich etwas Besondres wissen wollen. In
Wirklichkeit ist aber die Klarheit bei Orchestervorträgen keine leichte Sache, und
berühmte wie unberühmte Orchester bleiben ihr zeitweilig vieles schuldig. Jeder
nachdenkende Konzertbesuchcr kann das aus seiner eignen Erfahrung bestätigen.
Spielt er seine Beethovenschen Sinfonien zu Hause am Klavier, so ist ihm
alles verständlich; hört er sie im Orchester, so kommt es vor, daß er den Anhalt
verliert. Gutmütig läßt er diese Thatsache auf sich beruhen und setzt gelegentlich
einem jungen Freunde anseinander, daß es ziemlich schwer sei, einem Orchester¬
stück genau und ununterbrochen zu folgen. „Das liegt in der Natur der Sache,
fügt er hinzu, und das menschliche Ohr muß erst allmählich und mühsam die
Fertigkeit erwerben, sich in dem Gebrause und Gewirr der vielen Jnstrnmcnten-
stimmen zurecht zu finden." Die Undeutlichkeit liegt aber nicht in der Natur
der Sache, sondern ganz wo anders; die Dirigenten selbst sind sich derselben
selten bewußt. Die fortwährende Wiederholung derselben Kompositionen hat sie
mit sich gebracht. Wohl sollte sich der Vortrag bei jeder neuen Aufführung
eines klassischen Werkes verfeinern. Aber in der Regel verfällt er der Gefahr,
zu verflachen. Ausführende und Zuhörende kennen das Werk oder glauben es
zu kennen. Was sie nicht wirklich hören, ergänzen sie aus Eigenem, und so
schleichen sich Mängel ein, die von den Eiugepfarrten des betreffenden Musik¬
sprengels gar keiner merkt. Die Herren Rezensenten natürlich inbegriffen!

Moritz Hciuptmann giebt in seinen Briefen wiederholt der Verwunderung
und dem Unwillen Ausdruck, welche ihm der Anblick des allzu großen Autori¬
tätsglaubens einflößte, der ihm in der deutsche» Musikwclt häufig ausstieß. Er
ärgert sich über deu „dummen Respekt," mit welchem seine „Qnintenschüler"
jedes seiner Worte entgegennehmen, er ist unzufrieden mit dem allzu klassische«
Zuschnitt der Programme in den Leipziger Gcwnndthanskonzerten, weil dabei
die Zuhörer in eine gedankenlose Bewunderung verfielen. Noch viel frappanter
aber als in diesen Fällen nimmt sich das blinde Vertrauen des deutschen
Musikfreundes dann aus, wenn ein anerkanntes Meisterwerk durch eine wohl-
akkreditirte Kapelle ausgeführt wird. Da stehen sie nun oben, die Herren Mu¬
siker, und spielen den ersten Satz der Eroiea, das kühnste Stück, das Beethoven
als Sinfoniker hingestellt hat. Es kommt die Hauptstelle, wo ein Kampf greif¬
bar im Orchester wütet, wo sich die streitenden Parteien so im leidenschaftlichsten
Ringen und Stürmen erhitzen und verwirren, daß beiden der Atem ausgeht und
mitten in der schneidendsten und schärfsten Dissonanz abgebrochen werden muß.
Es ist eine fürchterliche Stelle, und beim bloßen Lesen der Partitur wird
einem kalt und warm zugleich. Aber dieses um seine „ausgezeichnete Pflege
der Klassiker" weitgepriesene Orchester spielt sie ruhig und gelassen wie ein Abend¬
lied. Wir sind indignirt. Das verehrliche Publikum aber — spendet am Ende


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[0518] Lin Abend bei den musikalischen Meiningern. gäbe des musikalischen Gedankengangs. Das Wort bezeichnet eine sehr einfache Forderung, und es erregt vielleicht manchem Leser Befremden, das; in dieser Beziehung jene Mcininger Kleinstädter sich etwas Besondres wissen wollen. In Wirklichkeit ist aber die Klarheit bei Orchestervorträgen keine leichte Sache, und berühmte wie unberühmte Orchester bleiben ihr zeitweilig vieles schuldig. Jeder nachdenkende Konzertbesuchcr kann das aus seiner eignen Erfahrung bestätigen. Spielt er seine Beethovenschen Sinfonien zu Hause am Klavier, so ist ihm alles verständlich; hört er sie im Orchester, so kommt es vor, daß er den Anhalt verliert. Gutmütig läßt er diese Thatsache auf sich beruhen und setzt gelegentlich einem jungen Freunde anseinander, daß es ziemlich schwer sei, einem Orchester¬ stück genau und ununterbrochen zu folgen. „Das liegt in der Natur der Sache, fügt er hinzu, und das menschliche Ohr muß erst allmählich und mühsam die Fertigkeit erwerben, sich in dem Gebrause und Gewirr der vielen Jnstrnmcnten- stimmen zurecht zu finden." Die Undeutlichkeit liegt aber nicht in der Natur der Sache, sondern ganz wo anders; die Dirigenten selbst sind sich derselben selten bewußt. Die fortwährende Wiederholung derselben Kompositionen hat sie mit sich gebracht. Wohl sollte sich der Vortrag bei jeder neuen Aufführung eines klassischen Werkes verfeinern. Aber in der Regel verfällt er der Gefahr, zu verflachen. Ausführende und Zuhörende kennen das Werk oder glauben es zu kennen. Was sie nicht wirklich hören, ergänzen sie aus Eigenem, und so schleichen sich Mängel ein, die von den Eiugepfarrten des betreffenden Musik¬ sprengels gar keiner merkt. Die Herren Rezensenten natürlich inbegriffen! Moritz Hciuptmann giebt in seinen Briefen wiederholt der Verwunderung und dem Unwillen Ausdruck, welche ihm der Anblick des allzu großen Autori¬ tätsglaubens einflößte, der ihm in der deutsche» Musikwclt häufig ausstieß. Er ärgert sich über deu „dummen Respekt," mit welchem seine „Qnintenschüler" jedes seiner Worte entgegennehmen, er ist unzufrieden mit dem allzu klassische« Zuschnitt der Programme in den Leipziger Gcwnndthanskonzerten, weil dabei die Zuhörer in eine gedankenlose Bewunderung verfielen. Noch viel frappanter aber als in diesen Fällen nimmt sich das blinde Vertrauen des deutschen Musikfreundes dann aus, wenn ein anerkanntes Meisterwerk durch eine wohl- akkreditirte Kapelle ausgeführt wird. Da stehen sie nun oben, die Herren Mu¬ siker, und spielen den ersten Satz der Eroiea, das kühnste Stück, das Beethoven als Sinfoniker hingestellt hat. Es kommt die Hauptstelle, wo ein Kampf greif¬ bar im Orchester wütet, wo sich die streitenden Parteien so im leidenschaftlichsten Ringen und Stürmen erhitzen und verwirren, daß beiden der Atem ausgeht und mitten in der schneidendsten und schärfsten Dissonanz abgebrochen werden muß. Es ist eine fürchterliche Stelle, und beim bloßen Lesen der Partitur wird einem kalt und warm zugleich. Aber dieses um seine „ausgezeichnete Pflege der Klassiker" weitgepriesene Orchester spielt sie ruhig und gelassen wie ein Abend¬ lied. Wir sind indignirt. Das verehrliche Publikum aber — spendet am Ende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/518>, abgerufen am 26.06.2024.