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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Glcidstone und die parlamentarische Redefreiheit.

und Verschleppung erfahren, daß die Geduld des Publikums nahezu erschöpft worden
und eine ungünstige Stimmung gegen alle Minoritäten sast allgemein geworden
ist. Es wäre nicht gut für England, wenn dieselbe sich erhielte. Zwar besitzen
Minoritäten keinen Talisman, der sie vor Irrthümern bewahrt, viele erstrebten
Thörichtes, viele sind verdientermaßen immer kleiner und schwächer geworden,
bis sie zuletzt ganz von der Bildfläche verschwanden, wie zum Exempel bei uns
die Altliberalen, die Vincke kommandirte. Andrerseits aber kann man die parla¬
mentarische Geschichte aller Länder als eine Reihenfolge von Kapiteln bezeichnen,
deren jedes uns eine Minorität zeigt, welche sich mit dem Rechte, gehört zu
werden, allmählich in eine Majorität verwandelt und dann die Geschicke des
Reiches, ja ganz Europas, bestimmen hilft. Beaeonsficld sagte einmal in Bezug
ans den Vorschlag, den Minderheiten eine Vertretung zu geben: "Der beste
Weg für eine Minderheit, Geltung zu erlangen, ist der, daß sie zur Mehrheit
zu werden strebt." Aber zu diesem Zwecke muß sie Redefreiheit haben. Eng¬
land verdankt die Ausbildung seiner Verfassung dem Herkommen, nach welchem
die Mehrheit des Unterhauses genötigt war, ihren wenigen und unbeliebten
Gegnern Gehör zu geben. Die Fürsprecher der Emanzipation der Katholiken,
die Freunde der Parlamcntsreform waren anfänglich ein kleines Häuflein, als
es zur Abstimmung kam, aber die überwältigenden Mehrheiten, die ihnen gegen¬
überstanden, hatten ihre Gründe zu hören, und da dieselben im Parlamente vorge¬
tragen wurden, hallten sie im ganzen Lande wieder und warben dort sür die Reform.
Der Kampf war ein langwieriger und sehr erregter, und wären die Freunde des
Alten damals mit der Olöwrs bewaffnet gewesen, so hätten sie den Sieg der
Wahrheit und Gerechtigkeit Jcchrzentc lang aufhalten können. Auch in der
jüngsten Zeit finden wir Beispiele, wo sehr schwache Minderheiten das Rechte
und sehr starke Mehrheiten Irriges vertraten. Statt mehrerer Fälle nur einen,
der aber sehr charakteristisch ist. Mit größter Beschleunigung beschloß auf das
Drängen des Ministeriums Beaconsfield das Parlament vor einigen Jahren
das Gesetz, welches die Republik Transvaal dem brittischen Reiche einverleibte.
Entschlossen, aber vergeblich widersetzte sich das Parlamentsmitglied Cvnrtney
der Maßregel. Ein paar irische Kollegen, die ans Gründen, welche nichts mit der
Sache zu thun hatten, die Gelegenheit ergriffen, Opposition zu machen, unter¬
stützten ihn wiederholt bei der Abstimmung, und es kam zu einer Sitzung, welche
die ganze Nacht hindurch währte. Die winzige Minorität unterlag, niemand
rührte sich für sie im Lande, und als die Einverleibung endlich mit großer
Stimmenmehrheit beschlossen worden, sprach sich die öffentliche Meinung sehr
abfällig über das halbe Dutzend Parlamentarier aus, welche deu Mut gehabt
hatten, zu dieser Ungerechtigkeit nein zu sagen. Aber kaum war viel mehr als
ein Jahr ins Land gegangen, als die Ereignisse der Opposition Recht gaben.
Man hätte viel klüger gethan, die Boers ungeschoren zu lasse", wenn mau die
Annexion in so kläglicher Weise, wie geschehen, rückgängig machen mußte. Hätte


Glcidstone und die parlamentarische Redefreiheit.

und Verschleppung erfahren, daß die Geduld des Publikums nahezu erschöpft worden
und eine ungünstige Stimmung gegen alle Minoritäten sast allgemein geworden
ist. Es wäre nicht gut für England, wenn dieselbe sich erhielte. Zwar besitzen
Minoritäten keinen Talisman, der sie vor Irrthümern bewahrt, viele erstrebten
Thörichtes, viele sind verdientermaßen immer kleiner und schwächer geworden,
bis sie zuletzt ganz von der Bildfläche verschwanden, wie zum Exempel bei uns
die Altliberalen, die Vincke kommandirte. Andrerseits aber kann man die parla¬
mentarische Geschichte aller Länder als eine Reihenfolge von Kapiteln bezeichnen,
deren jedes uns eine Minorität zeigt, welche sich mit dem Rechte, gehört zu
werden, allmählich in eine Majorität verwandelt und dann die Geschicke des
Reiches, ja ganz Europas, bestimmen hilft. Beaeonsficld sagte einmal in Bezug
ans den Vorschlag, den Minderheiten eine Vertretung zu geben: „Der beste
Weg für eine Minderheit, Geltung zu erlangen, ist der, daß sie zur Mehrheit
zu werden strebt." Aber zu diesem Zwecke muß sie Redefreiheit haben. Eng¬
land verdankt die Ausbildung seiner Verfassung dem Herkommen, nach welchem
die Mehrheit des Unterhauses genötigt war, ihren wenigen und unbeliebten
Gegnern Gehör zu geben. Die Fürsprecher der Emanzipation der Katholiken,
die Freunde der Parlamcntsreform waren anfänglich ein kleines Häuflein, als
es zur Abstimmung kam, aber die überwältigenden Mehrheiten, die ihnen gegen¬
überstanden, hatten ihre Gründe zu hören, und da dieselben im Parlamente vorge¬
tragen wurden, hallten sie im ganzen Lande wieder und warben dort sür die Reform.
Der Kampf war ein langwieriger und sehr erregter, und wären die Freunde des
Alten damals mit der Olöwrs bewaffnet gewesen, so hätten sie den Sieg der
Wahrheit und Gerechtigkeit Jcchrzentc lang aufhalten können. Auch in der
jüngsten Zeit finden wir Beispiele, wo sehr schwache Minderheiten das Rechte
und sehr starke Mehrheiten Irriges vertraten. Statt mehrerer Fälle nur einen,
der aber sehr charakteristisch ist. Mit größter Beschleunigung beschloß auf das
Drängen des Ministeriums Beaconsfield das Parlament vor einigen Jahren
das Gesetz, welches die Republik Transvaal dem brittischen Reiche einverleibte.
Entschlossen, aber vergeblich widersetzte sich das Parlamentsmitglied Cvnrtney
der Maßregel. Ein paar irische Kollegen, die ans Gründen, welche nichts mit der
Sache zu thun hatten, die Gelegenheit ergriffen, Opposition zu machen, unter¬
stützten ihn wiederholt bei der Abstimmung, und es kam zu einer Sitzung, welche
die ganze Nacht hindurch währte. Die winzige Minorität unterlag, niemand
rührte sich für sie im Lande, und als die Einverleibung endlich mit großer
Stimmenmehrheit beschlossen worden, sprach sich die öffentliche Meinung sehr
abfällig über das halbe Dutzend Parlamentarier aus, welche deu Mut gehabt
hatten, zu dieser Ungerechtigkeit nein zu sagen. Aber kaum war viel mehr als
ein Jahr ins Land gegangen, als die Ereignisse der Opposition Recht gaben.
Man hätte viel klüger gethan, die Boers ungeschoren zu lasse», wenn mau die
Annexion in so kläglicher Weise, wie geschehen, rückgängig machen mußte. Hätte


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[0492] Glcidstone und die parlamentarische Redefreiheit. und Verschleppung erfahren, daß die Geduld des Publikums nahezu erschöpft worden und eine ungünstige Stimmung gegen alle Minoritäten sast allgemein geworden ist. Es wäre nicht gut für England, wenn dieselbe sich erhielte. Zwar besitzen Minoritäten keinen Talisman, der sie vor Irrthümern bewahrt, viele erstrebten Thörichtes, viele sind verdientermaßen immer kleiner und schwächer geworden, bis sie zuletzt ganz von der Bildfläche verschwanden, wie zum Exempel bei uns die Altliberalen, die Vincke kommandirte. Andrerseits aber kann man die parla¬ mentarische Geschichte aller Länder als eine Reihenfolge von Kapiteln bezeichnen, deren jedes uns eine Minorität zeigt, welche sich mit dem Rechte, gehört zu werden, allmählich in eine Majorität verwandelt und dann die Geschicke des Reiches, ja ganz Europas, bestimmen hilft. Beaeonsficld sagte einmal in Bezug ans den Vorschlag, den Minderheiten eine Vertretung zu geben: „Der beste Weg für eine Minderheit, Geltung zu erlangen, ist der, daß sie zur Mehrheit zu werden strebt." Aber zu diesem Zwecke muß sie Redefreiheit haben. Eng¬ land verdankt die Ausbildung seiner Verfassung dem Herkommen, nach welchem die Mehrheit des Unterhauses genötigt war, ihren wenigen und unbeliebten Gegnern Gehör zu geben. Die Fürsprecher der Emanzipation der Katholiken, die Freunde der Parlamcntsreform waren anfänglich ein kleines Häuflein, als es zur Abstimmung kam, aber die überwältigenden Mehrheiten, die ihnen gegen¬ überstanden, hatten ihre Gründe zu hören, und da dieselben im Parlamente vorge¬ tragen wurden, hallten sie im ganzen Lande wieder und warben dort sür die Reform. Der Kampf war ein langwieriger und sehr erregter, und wären die Freunde des Alten damals mit der Olöwrs bewaffnet gewesen, so hätten sie den Sieg der Wahrheit und Gerechtigkeit Jcchrzentc lang aufhalten können. Auch in der jüngsten Zeit finden wir Beispiele, wo sehr schwache Minderheiten das Rechte und sehr starke Mehrheiten Irriges vertraten. Statt mehrerer Fälle nur einen, der aber sehr charakteristisch ist. Mit größter Beschleunigung beschloß auf das Drängen des Ministeriums Beaconsfield das Parlament vor einigen Jahren das Gesetz, welches die Republik Transvaal dem brittischen Reiche einverleibte. Entschlossen, aber vergeblich widersetzte sich das Parlamentsmitglied Cvnrtney der Maßregel. Ein paar irische Kollegen, die ans Gründen, welche nichts mit der Sache zu thun hatten, die Gelegenheit ergriffen, Opposition zu machen, unter¬ stützten ihn wiederholt bei der Abstimmung, und es kam zu einer Sitzung, welche die ganze Nacht hindurch währte. Die winzige Minorität unterlag, niemand rührte sich für sie im Lande, und als die Einverleibung endlich mit großer Stimmenmehrheit beschlossen worden, sprach sich die öffentliche Meinung sehr abfällig über das halbe Dutzend Parlamentarier aus, welche deu Mut gehabt hatten, zu dieser Ungerechtigkeit nein zu sagen. Aber kaum war viel mehr als ein Jahr ins Land gegangen, als die Ereignisse der Opposition Recht gaben. Man hätte viel klüger gethan, die Boers ungeschoren zu lasse», wenn mau die Annexion in so kläglicher Weise, wie geschehen, rückgängig machen mußte. Hätte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/492>, abgerufen am 26.06.2024.