Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Wilhelm Raabe.

rechnen will. Indeß wird wohl die Mehrzahl der Leser Raabcs darin mit
uns übereinstimmen, daß die Geschichte" "Der Däumling" (1872), "Christoph
Pensum" (1873), "Wunnigel" (1878) und "Deutscher Adel" (1880) im wesent¬
lichen Prachtstücke der ersteren, die Erzählungen "Horacker" (1877), "Alte Nester"
(1879) und "Das Horn Ma Wanza" (1881) solche der letzteren Gattung sind.

Wir können dem Schriftsteller unmöglich durch alle Einzelheiten seiner reichen
Erfindungskraft und seiner treuen, scharfen Lebensbcobachtung in allen diesen
Geschichten folgen. Jede derselben entfaltet einen der Vorzüge Rnabes zu be¬
sondrer Bedeutung. Drastischer ist vielleicht niemals die phantastische Origi¬
nalität, die sich mit all ihrem Witz die eigne Grube gräbt, dargestellt worden,
als in der Gestalt des königlich preußischen Regierungsrath a. D. und Archäo¬
logen Wunnigcl, der sich in Rom hinter dem Rücken seiner Kinder zum zweitenmal
verheiratet und daran untergeht; köstlicher niemals das neueste deutsche Streber¬
tum und sich frech übersehende Selbstbewußtsein persistirt worden, als in der
Gestalt und den Erlebnissen des Oberlehrers Dr. Neubauer, welcher im "Horacker"
den gewinnenden, innerlich lebensvollen Figuren des Korrektor Eckerbusch, des
Zeichenlehrers Windwebel, des Pfarrers Christian Winkler und ihrer trefflichen
Frauen, mit seiner eignen einsamen Größe gegenübersteht; stimmungsreicher kann
Jugendglück und sein herzerhebender Nachhall auch in späten Tagen im Wort
nicht festgehalten werden, als es in Naabes "Alten Nestern" geschieht. Sollten
wir jedem Zuge in diesen Geschichten gerecht werden, so würde die Aufzählung
ein wenig lang ausfallen. Ein eigentümlicher Vorzug aller ist, daß der Autor
überall mit seinen flüchtigsten Andeutungen die Mitthätigkeit seiner Leser weckt.
Die Phantasie folgt ihm gern in die Fernen Hinalls, welche er mitten im Ver¬
lauf oder beim Schluß seiner Erzählungen aufthut; die Empfindung des Lesers
geht leis, unmerklich aus der Anteilnahme in die Mitempfindung über. Hier
liegt denn anch das Geheimnis, warum sich kaum jemand über die störenden
Seitensprünge, die gelegentlichen Dunkelheiten, die einigermaßen willkürlichen
Weiterführuugen einer Handlung, welche bei Raabe so häufig sind, beklagt. Er
besitzt das Geheimnis, im rechten Moment den Leser selbst verknüpfen und er¬
gänzen zu lassen; wer in die Grundstimmung seiner Erzählungen hineingezogen
ist, füllt die Lücken, die der Autor läßt, unwillkürlich mit aus. Natürlich der¬
jenige am besten, der mit den letzten Anschauungen des Schriftstellers voll über¬
einstimmt und seine Neigung zu pessimistischer Betrachtung gewisser Welter-
scheimmgcn, wie seine ganze Hingabe an die Zauber teilt, welche auch in einer,
alt und vielfach müde gewordenen Welt die Heimat noch immer besitzt.

Der deutsche Individualismus im guten Wortsin" lebt in Raabes
Schöpfungen auf; sollen wir sagen noch einmal auf, oder dürfen wir hoffen,
daß er so unverwüstlich, so "kernhaft und auf die Dauer" (wie der alte Matthias
Claudius singt) sei, "in noch so manchem Autor Stoff zu heiterem und scharfem
Spott, Anlaß zu freudiger und heiliger Rührung zu geben? Niemand weiß


Wilhelm Raabe.

rechnen will. Indeß wird wohl die Mehrzahl der Leser Raabcs darin mit
uns übereinstimmen, daß die Geschichte» „Der Däumling" (1872), „Christoph
Pensum" (1873), „Wunnigel" (1878) und „Deutscher Adel" (1880) im wesent¬
lichen Prachtstücke der ersteren, die Erzählungen „Horacker" (1877), „Alte Nester"
(1879) und „Das Horn Ma Wanza" (1881) solche der letzteren Gattung sind.

Wir können dem Schriftsteller unmöglich durch alle Einzelheiten seiner reichen
Erfindungskraft und seiner treuen, scharfen Lebensbcobachtung in allen diesen
Geschichten folgen. Jede derselben entfaltet einen der Vorzüge Rnabes zu be¬
sondrer Bedeutung. Drastischer ist vielleicht niemals die phantastische Origi¬
nalität, die sich mit all ihrem Witz die eigne Grube gräbt, dargestellt worden,
als in der Gestalt des königlich preußischen Regierungsrath a. D. und Archäo¬
logen Wunnigcl, der sich in Rom hinter dem Rücken seiner Kinder zum zweitenmal
verheiratet und daran untergeht; köstlicher niemals das neueste deutsche Streber¬
tum und sich frech übersehende Selbstbewußtsein persistirt worden, als in der
Gestalt und den Erlebnissen des Oberlehrers Dr. Neubauer, welcher im „Horacker"
den gewinnenden, innerlich lebensvollen Figuren des Korrektor Eckerbusch, des
Zeichenlehrers Windwebel, des Pfarrers Christian Winkler und ihrer trefflichen
Frauen, mit seiner eignen einsamen Größe gegenübersteht; stimmungsreicher kann
Jugendglück und sein herzerhebender Nachhall auch in späten Tagen im Wort
nicht festgehalten werden, als es in Naabes „Alten Nestern" geschieht. Sollten
wir jedem Zuge in diesen Geschichten gerecht werden, so würde die Aufzählung
ein wenig lang ausfallen. Ein eigentümlicher Vorzug aller ist, daß der Autor
überall mit seinen flüchtigsten Andeutungen die Mitthätigkeit seiner Leser weckt.
Die Phantasie folgt ihm gern in die Fernen Hinalls, welche er mitten im Ver¬
lauf oder beim Schluß seiner Erzählungen aufthut; die Empfindung des Lesers
geht leis, unmerklich aus der Anteilnahme in die Mitempfindung über. Hier
liegt denn anch das Geheimnis, warum sich kaum jemand über die störenden
Seitensprünge, die gelegentlichen Dunkelheiten, die einigermaßen willkürlichen
Weiterführuugen einer Handlung, welche bei Raabe so häufig sind, beklagt. Er
besitzt das Geheimnis, im rechten Moment den Leser selbst verknüpfen und er¬
gänzen zu lassen; wer in die Grundstimmung seiner Erzählungen hineingezogen
ist, füllt die Lücken, die der Autor läßt, unwillkürlich mit aus. Natürlich der¬
jenige am besten, der mit den letzten Anschauungen des Schriftstellers voll über¬
einstimmt und seine Neigung zu pessimistischer Betrachtung gewisser Welter-
scheimmgcn, wie seine ganze Hingabe an die Zauber teilt, welche auch in einer,
alt und vielfach müde gewordenen Welt die Heimat noch immer besitzt.

Der deutsche Individualismus im guten Wortsin» lebt in Raabes
Schöpfungen auf; sollen wir sagen noch einmal auf, oder dürfen wir hoffen,
daß er so unverwüstlich, so „kernhaft und auf die Dauer" (wie der alte Matthias
Claudius singt) sei, »in noch so manchem Autor Stoff zu heiterem und scharfem
Spott, Anlaß zu freudiger und heiliger Rührung zu geben? Niemand weiß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86591"/>
          <fw type="header" place="top"> Wilhelm Raabe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1921" prev="#ID_1920"> rechnen will. Indeß wird wohl die Mehrzahl der Leser Raabcs darin mit<lb/>
uns übereinstimmen, daß die Geschichte» &#x201E;Der Däumling" (1872), &#x201E;Christoph<lb/>
Pensum" (1873), &#x201E;Wunnigel" (1878) und &#x201E;Deutscher Adel" (1880) im wesent¬<lb/>
lichen Prachtstücke der ersteren, die Erzählungen &#x201E;Horacker" (1877), &#x201E;Alte Nester"<lb/>
(1879) und &#x201E;Das Horn Ma Wanza" (1881) solche der letzteren Gattung sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1922"> Wir können dem Schriftsteller unmöglich durch alle Einzelheiten seiner reichen<lb/>
Erfindungskraft und seiner treuen, scharfen Lebensbcobachtung in allen diesen<lb/>
Geschichten folgen. Jede derselben entfaltet einen der Vorzüge Rnabes zu be¬<lb/>
sondrer Bedeutung. Drastischer ist vielleicht niemals die phantastische Origi¬<lb/>
nalität, die sich mit all ihrem Witz die eigne Grube gräbt, dargestellt worden,<lb/>
als in der Gestalt des königlich preußischen Regierungsrath a. D. und Archäo¬<lb/>
logen Wunnigcl, der sich in Rom hinter dem Rücken seiner Kinder zum zweitenmal<lb/>
verheiratet und daran untergeht; köstlicher niemals das neueste deutsche Streber¬<lb/>
tum und sich frech übersehende Selbstbewußtsein persistirt worden, als in der<lb/>
Gestalt und den Erlebnissen des Oberlehrers Dr. Neubauer, welcher im &#x201E;Horacker"<lb/>
den gewinnenden, innerlich lebensvollen Figuren des Korrektor Eckerbusch, des<lb/>
Zeichenlehrers Windwebel, des Pfarrers Christian Winkler und ihrer trefflichen<lb/>
Frauen, mit seiner eignen einsamen Größe gegenübersteht; stimmungsreicher kann<lb/>
Jugendglück und sein herzerhebender Nachhall auch in späten Tagen im Wort<lb/>
nicht festgehalten werden, als es in Naabes &#x201E;Alten Nestern" geschieht. Sollten<lb/>
wir jedem Zuge in diesen Geschichten gerecht werden, so würde die Aufzählung<lb/>
ein wenig lang ausfallen. Ein eigentümlicher Vorzug aller ist, daß der Autor<lb/>
überall mit seinen flüchtigsten Andeutungen die Mitthätigkeit seiner Leser weckt.<lb/>
Die Phantasie folgt ihm gern in die Fernen Hinalls, welche er mitten im Ver¬<lb/>
lauf oder beim Schluß seiner Erzählungen aufthut; die Empfindung des Lesers<lb/>
geht leis, unmerklich aus der Anteilnahme in die Mitempfindung über. Hier<lb/>
liegt denn anch das Geheimnis, warum sich kaum jemand über die störenden<lb/>
Seitensprünge, die gelegentlichen Dunkelheiten, die einigermaßen willkürlichen<lb/>
Weiterführuugen einer Handlung, welche bei Raabe so häufig sind, beklagt. Er<lb/>
besitzt das Geheimnis, im rechten Moment den Leser selbst verknüpfen und er¬<lb/>
gänzen zu lassen; wer in die Grundstimmung seiner Erzählungen hineingezogen<lb/>
ist, füllt die Lücken, die der Autor läßt, unwillkürlich mit aus. Natürlich der¬<lb/>
jenige am besten, der mit den letzten Anschauungen des Schriftstellers voll über¬<lb/>
einstimmt und seine Neigung zu pessimistischer Betrachtung gewisser Welter-<lb/>
scheimmgcn, wie seine ganze Hingabe an die Zauber teilt, welche auch in einer,<lb/>
alt und vielfach müde gewordenen Welt die Heimat noch immer besitzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1923" next="#ID_1924"> Der deutsche Individualismus im guten Wortsin» lebt in Raabes<lb/>
Schöpfungen auf; sollen wir sagen noch einmal auf, oder dürfen wir hoffen,<lb/>
daß er so unverwüstlich, so &#x201E;kernhaft und auf die Dauer" (wie der alte Matthias<lb/>
Claudius singt) sei, »in noch so manchem Autor Stoff zu heiterem und scharfem<lb/>
Spott, Anlaß zu freudiger und heiliger Rührung zu geben? Niemand weiß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Wilhelm Raabe. rechnen will. Indeß wird wohl die Mehrzahl der Leser Raabcs darin mit uns übereinstimmen, daß die Geschichte» „Der Däumling" (1872), „Christoph Pensum" (1873), „Wunnigel" (1878) und „Deutscher Adel" (1880) im wesent¬ lichen Prachtstücke der ersteren, die Erzählungen „Horacker" (1877), „Alte Nester" (1879) und „Das Horn Ma Wanza" (1881) solche der letzteren Gattung sind. Wir können dem Schriftsteller unmöglich durch alle Einzelheiten seiner reichen Erfindungskraft und seiner treuen, scharfen Lebensbcobachtung in allen diesen Geschichten folgen. Jede derselben entfaltet einen der Vorzüge Rnabes zu be¬ sondrer Bedeutung. Drastischer ist vielleicht niemals die phantastische Origi¬ nalität, die sich mit all ihrem Witz die eigne Grube gräbt, dargestellt worden, als in der Gestalt des königlich preußischen Regierungsrath a. D. und Archäo¬ logen Wunnigcl, der sich in Rom hinter dem Rücken seiner Kinder zum zweitenmal verheiratet und daran untergeht; köstlicher niemals das neueste deutsche Streber¬ tum und sich frech übersehende Selbstbewußtsein persistirt worden, als in der Gestalt und den Erlebnissen des Oberlehrers Dr. Neubauer, welcher im „Horacker" den gewinnenden, innerlich lebensvollen Figuren des Korrektor Eckerbusch, des Zeichenlehrers Windwebel, des Pfarrers Christian Winkler und ihrer trefflichen Frauen, mit seiner eignen einsamen Größe gegenübersteht; stimmungsreicher kann Jugendglück und sein herzerhebender Nachhall auch in späten Tagen im Wort nicht festgehalten werden, als es in Naabes „Alten Nestern" geschieht. Sollten wir jedem Zuge in diesen Geschichten gerecht werden, so würde die Aufzählung ein wenig lang ausfallen. Ein eigentümlicher Vorzug aller ist, daß der Autor überall mit seinen flüchtigsten Andeutungen die Mitthätigkeit seiner Leser weckt. Die Phantasie folgt ihm gern in die Fernen Hinalls, welche er mitten im Ver¬ lauf oder beim Schluß seiner Erzählungen aufthut; die Empfindung des Lesers geht leis, unmerklich aus der Anteilnahme in die Mitempfindung über. Hier liegt denn anch das Geheimnis, warum sich kaum jemand über die störenden Seitensprünge, die gelegentlichen Dunkelheiten, die einigermaßen willkürlichen Weiterführuugen einer Handlung, welche bei Raabe so häufig sind, beklagt. Er besitzt das Geheimnis, im rechten Moment den Leser selbst verknüpfen und er¬ gänzen zu lassen; wer in die Grundstimmung seiner Erzählungen hineingezogen ist, füllt die Lücken, die der Autor läßt, unwillkürlich mit aus. Natürlich der¬ jenige am besten, der mit den letzten Anschauungen des Schriftstellers voll über¬ einstimmt und seine Neigung zu pessimistischer Betrachtung gewisser Welter- scheimmgcn, wie seine ganze Hingabe an die Zauber teilt, welche auch in einer, alt und vielfach müde gewordenen Welt die Heimat noch immer besitzt. Der deutsche Individualismus im guten Wortsin» lebt in Raabes Schöpfungen auf; sollen wir sagen noch einmal auf, oder dürfen wir hoffen, daß er so unverwüstlich, so „kernhaft und auf die Dauer" (wie der alte Matthias Claudius singt) sei, »in noch so manchem Autor Stoff zu heiterem und scharfem Spott, Anlaß zu freudiger und heiliger Rührung zu geben? Niemand weiß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/470>, abgerufen am 26.06.2024.