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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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und Jung durcheinander schüttet in tels eine gemeinsame Grab, so schüttet der
Poet alle menschlichen Schicksale und Leiden in eine finstere Resignation; die
Lebensweisheit der alten Jane Warwolf: "Der Mensch ist ein armselig Geschöpf,
und je weniger man von seinen Meriten spricht, desto besser ists. Dahingegen
nützt es aber im andern Falle gar nichts, wenn man ihm seine Nichtsnutzig-
keiten und Dummheiten zu oft und zu grob vorrückt" gestaltet sich zur Weis¬
heit des Autors. Nicht nur alles Schöne, seelisch Reine und Liebenswerte mich
untergehen in der ewigen Verworrenheit und Tragik des menschlichen Schicksals,
auch die lieblichsten Eindrücke und Erinnerungen sind am Eude uur täuschende
Seifenblasen des eigenen Hirns gewesen. Es ist so, als wenn einer an grauen,
regentrüben, windkalten Tagen die goldenen Morgen, die er erlebt hat, Schein
und Täuschungen schilt, und vor dem Wege, den die deutsche Literatur von der
tiefernsten und doch milden Resignation des alternden Goethe zu der Resignation
zurückgelegt hat, welche ein junger Autor wie Raabe im "Schüddernmp" predigt,
dürfte auch ein ernstgestimmtes Gemüt, welches just nicht durchs Dasein taumelt,
recht ehrlich erschrecken.

Indeß der "Schüddernmp" ist nicht Raabes letztes Wort; mit.den Pessi¬
mistischen Poeten, nach denen kvnseanenterweise die Poesie so wenig existiren
darf als irgend welche Freude am Dasei", ist er, wie schon mehrfach betont,
im innersten Kern nicht eins, und so eröffnet sich in einer Reihe kleinerer Er¬
zählungen eine andre Welt, in der Raabe seine besten Eigenschaften entfalten
kann und in der er gleichsam allein zu Hause ist. Die Form, welche er in
späteren Werken bevorzugt, ist die der einbändigen Erzählung. Für seine eigen¬
tümliche Art der Anlage, für das Übergewicht von Stimmung über die Begeben¬
heit, für die lockere und manchmal traumhafte Verknüpfung der einzelnen Teile
einer Erzählung, für das lustige und zu Zeiten kapriziöse Spiel seiner Lanne,
ist die knappere Begrenzung seiner Erzählungen meist vorteilhaft. Daß wir ihn
nicht an die "kleine Form" gebunden erachten, braucht nach dem, was wir über
den "Hungerpastor" gesagt, wohl nicht besonders betont zu werden. Die Reihe
der neuen Erzählungen Raabes ist eine sehr stattliche. Sie lasse" sich ganz
wohl i" zwei Gruppe" teile". Die eine" sind Capriccios eines ausgelassenen
Humors, entstammen dem Wohlgefallen an allerlei absonderlichen Erschei¬
nungen, denen u"ser Autor de" menschliche" Kern abgewinnt und in die wie
Flämmche" die pessimistischen Anwandlungen hcreinspielen; die andern erweisen
sich als prächtige, von eüiem Strahl echter Schönheit durchleuchtete Bilder aus
der deutsche" Klemwelt, i" de"e" Raabe seine volle Hingabe an eben diese Welt
offenbart. Da die Capriecivs oft genug auch tief-innerliche, aus dem Gemüt
des Dichters quellende Episoden enthalten und in den kleinen Lebensbildern der
Humor Raabes vielfach übermütig spielt, so giebt es keine strenge Scheidung
zwischen de" beide" Gruppe", "ud es kommt einigermaßen auf de" individuellen
Eindruck an, ob man diese oder jene Erzählung der ersten oder zweiten hinzu-


und Jung durcheinander schüttet in tels eine gemeinsame Grab, so schüttet der
Poet alle menschlichen Schicksale und Leiden in eine finstere Resignation; die
Lebensweisheit der alten Jane Warwolf: „Der Mensch ist ein armselig Geschöpf,
und je weniger man von seinen Meriten spricht, desto besser ists. Dahingegen
nützt es aber im andern Falle gar nichts, wenn man ihm seine Nichtsnutzig-
keiten und Dummheiten zu oft und zu grob vorrückt" gestaltet sich zur Weis¬
heit des Autors. Nicht nur alles Schöne, seelisch Reine und Liebenswerte mich
untergehen in der ewigen Verworrenheit und Tragik des menschlichen Schicksals,
auch die lieblichsten Eindrücke und Erinnerungen sind am Eude uur täuschende
Seifenblasen des eigenen Hirns gewesen. Es ist so, als wenn einer an grauen,
regentrüben, windkalten Tagen die goldenen Morgen, die er erlebt hat, Schein
und Täuschungen schilt, und vor dem Wege, den die deutsche Literatur von der
tiefernsten und doch milden Resignation des alternden Goethe zu der Resignation
zurückgelegt hat, welche ein junger Autor wie Raabe im „Schüddernmp" predigt,
dürfte auch ein ernstgestimmtes Gemüt, welches just nicht durchs Dasein taumelt,
recht ehrlich erschrecken.

Indeß der „Schüddernmp" ist nicht Raabes letztes Wort; mit.den Pessi¬
mistischen Poeten, nach denen kvnseanenterweise die Poesie so wenig existiren
darf als irgend welche Freude am Dasei», ist er, wie schon mehrfach betont,
im innersten Kern nicht eins, und so eröffnet sich in einer Reihe kleinerer Er¬
zählungen eine andre Welt, in der Raabe seine besten Eigenschaften entfalten
kann und in der er gleichsam allein zu Hause ist. Die Form, welche er in
späteren Werken bevorzugt, ist die der einbändigen Erzählung. Für seine eigen¬
tümliche Art der Anlage, für das Übergewicht von Stimmung über die Begeben¬
heit, für die lockere und manchmal traumhafte Verknüpfung der einzelnen Teile
einer Erzählung, für das lustige und zu Zeiten kapriziöse Spiel seiner Lanne,
ist die knappere Begrenzung seiner Erzählungen meist vorteilhaft. Daß wir ihn
nicht an die „kleine Form" gebunden erachten, braucht nach dem, was wir über
den „Hungerpastor" gesagt, wohl nicht besonders betont zu werden. Die Reihe
der neuen Erzählungen Raabes ist eine sehr stattliche. Sie lasse» sich ganz
wohl i» zwei Gruppe» teile». Die eine» sind Capriccios eines ausgelassenen
Humors, entstammen dem Wohlgefallen an allerlei absonderlichen Erschei¬
nungen, denen u»ser Autor de» menschliche» Kern abgewinnt und in die wie
Flämmche» die pessimistischen Anwandlungen hcreinspielen; die andern erweisen
sich als prächtige, von eüiem Strahl echter Schönheit durchleuchtete Bilder aus
der deutsche» Klemwelt, i» de»e» Raabe seine volle Hingabe an eben diese Welt
offenbart. Da die Capriecivs oft genug auch tief-innerliche, aus dem Gemüt
des Dichters quellende Episoden enthalten und in den kleinen Lebensbildern der
Humor Raabes vielfach übermütig spielt, so giebt es keine strenge Scheidung
zwischen de» beide» Gruppe», »ud es kommt einigermaßen auf de» individuellen
Eindruck an, ob man diese oder jene Erzählung der ersten oder zweiten hinzu-


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[0469] und Jung durcheinander schüttet in tels eine gemeinsame Grab, so schüttet der Poet alle menschlichen Schicksale und Leiden in eine finstere Resignation; die Lebensweisheit der alten Jane Warwolf: „Der Mensch ist ein armselig Geschöpf, und je weniger man von seinen Meriten spricht, desto besser ists. Dahingegen nützt es aber im andern Falle gar nichts, wenn man ihm seine Nichtsnutzig- keiten und Dummheiten zu oft und zu grob vorrückt" gestaltet sich zur Weis¬ heit des Autors. Nicht nur alles Schöne, seelisch Reine und Liebenswerte mich untergehen in der ewigen Verworrenheit und Tragik des menschlichen Schicksals, auch die lieblichsten Eindrücke und Erinnerungen sind am Eude uur täuschende Seifenblasen des eigenen Hirns gewesen. Es ist so, als wenn einer an grauen, regentrüben, windkalten Tagen die goldenen Morgen, die er erlebt hat, Schein und Täuschungen schilt, und vor dem Wege, den die deutsche Literatur von der tiefernsten und doch milden Resignation des alternden Goethe zu der Resignation zurückgelegt hat, welche ein junger Autor wie Raabe im „Schüddernmp" predigt, dürfte auch ein ernstgestimmtes Gemüt, welches just nicht durchs Dasein taumelt, recht ehrlich erschrecken. Indeß der „Schüddernmp" ist nicht Raabes letztes Wort; mit.den Pessi¬ mistischen Poeten, nach denen kvnseanenterweise die Poesie so wenig existiren darf als irgend welche Freude am Dasei», ist er, wie schon mehrfach betont, im innersten Kern nicht eins, und so eröffnet sich in einer Reihe kleinerer Er¬ zählungen eine andre Welt, in der Raabe seine besten Eigenschaften entfalten kann und in der er gleichsam allein zu Hause ist. Die Form, welche er in späteren Werken bevorzugt, ist die der einbändigen Erzählung. Für seine eigen¬ tümliche Art der Anlage, für das Übergewicht von Stimmung über die Begeben¬ heit, für die lockere und manchmal traumhafte Verknüpfung der einzelnen Teile einer Erzählung, für das lustige und zu Zeiten kapriziöse Spiel seiner Lanne, ist die knappere Begrenzung seiner Erzählungen meist vorteilhaft. Daß wir ihn nicht an die „kleine Form" gebunden erachten, braucht nach dem, was wir über den „Hungerpastor" gesagt, wohl nicht besonders betont zu werden. Die Reihe der neuen Erzählungen Raabes ist eine sehr stattliche. Sie lasse» sich ganz wohl i» zwei Gruppe» teile». Die eine» sind Capriccios eines ausgelassenen Humors, entstammen dem Wohlgefallen an allerlei absonderlichen Erschei¬ nungen, denen u»ser Autor de» menschliche» Kern abgewinnt und in die wie Flämmche» die pessimistischen Anwandlungen hcreinspielen; die andern erweisen sich als prächtige, von eüiem Strahl echter Schönheit durchleuchtete Bilder aus der deutsche» Klemwelt, i» de»e» Raabe seine volle Hingabe an eben diese Welt offenbart. Da die Capriecivs oft genug auch tief-innerliche, aus dem Gemüt des Dichters quellende Episoden enthalten und in den kleinen Lebensbildern der Humor Raabes vielfach übermütig spielt, so giebt es keine strenge Scheidung zwischen de» beide» Gruppe», »ud es kommt einigermaßen auf de» individuellen Eindruck an, ob man diese oder jene Erzählung der ersten oder zweiten hinzu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/469>, abgerufen am 26.06.2024.