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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Wilhelm Rande.

das Wahre, den Inhalt von dem Nebensächlichen und trug ihn zum erstenmal
wirklich in das Leben über. Diese schweren Tage wirkten bedeutender auf ihn
ein mis alle jene Tage, die er in den Hörsälen, die er über seinen Büchern
im halb unfruchtbaren Studium verbrachte. Aus dem Zauberbann schmeich¬
lerischer, entnervender Phantasien und stumpfen, dumpfen Grübelns trat er jetzt
zuerst in das reale Leben, er verlor den Hunger nach dem Idealen, dem Über¬
irdischen nicht, aber dazu gesellte sich der Hunger nach dem Wirklichen, und die
Verschmelzung von beiden, welche in so feierlichen Stunden stattfand, mußte
einen guten Guß geben." Prächtig und lebendig erscheinen weiter die Schilde-
rungen von Hansens Hauslehrerleben, die Existenz auf dem nahrhaften Gute,
aus dem er durch deu Willen einer hocharistokratischen Tante herausgeworfen
wird, und die Erfahrungen in einer Fabrikantenfamilie der Magdeburger Gegend,
bei der er wegen seiner mild menschlichen, warmen Teilnahme für die Elenden
und Krüppelhaften in den Verdacht gerät, revolutionäre Grundsätze zu hegen.
Der Moment des Eintritts des Helden in das Haus des Geheimrath Götz in
Berlin bezeichnet den Beginn des eigentlichen Konflikts im Roman und des
Kampfes zwischen den Gegensätzen, die in Hans Unwirrsch und Moses Freuden¬
stein u,1ins Theophil Stein verkörpert sind> Die Darstellung moderner gesell¬
schaftlicher Zustände ist reich an Bitterkeit: "Falschheit und freche Selbstsucht,
bejammernswerte Schwäche, störrige Dummheit und frömmelnde Hoffahrt, Leicht¬
sinn, Überhebung, Spott und Übermut auf allen Seiten; -- o es war wahrlich
eine Welt, um darin Hunger zu empfinden, Hunger nach der Unschuld, der
Treue, der Sanftmut und der Liebe." Aber die Schicksale des armen Hans
Unwirrsch sind echte Schicksale eines braven deutschen Menschenkindes, das diese
ganze Welt unter den Füßen hat, wenn es nur Arbeit und Liebe zu finden vermag.
Arbeit und Liebe werden dem wackern Kandidaten zu Teil, sobald er in die
Hungerpfarre zu Grunzeuow eingeführt ist und das liebliche, auch in der poetischen
Schilderung ein wenig zu blaß geratene Fränzchen Götz heimführen darf. Was
er vorher in der Gesellschaft der Neuntöter, im Zusammenleben und Zusammen¬
prall mit dem schurkischen Jugendfreund, in der Heimat, in der ihm mit Base
Schlvttcrbeck und Oheim Grttuebanm die letzten Liebenden dahinsterben, auf dem
Gute des humoristischen Bären des Obersten Bullau zu durchleben hat, ist wohl
eins der seltsamsten Gewebe von Realität und Phantastik, welche die deutsche
Literatur aufzuweisen hat. Mit der Brille der "Wahrscheinlichkeit" betrachtet,
erscheint vieles in diesem Roman unmöglich, doch seine Grundstimmung ist
von der goldensten, lautersten Wahrheit erfüllt.

Einen minder erquicklichen Eindruck gewähren die beiden nächsten größeren
Romane Raabes "Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge"
(1868) und "Der Schüdderump" (1870.) In ihnen scheint unser Schriftsteller
vou herben Zweifeln angewandelt, ob die Panacee, welche "Der Hungerpastor"
noch so begeistert anpreist, in der That auch für alle Schmerzen Heilung und


Wilhelm Rande.

das Wahre, den Inhalt von dem Nebensächlichen und trug ihn zum erstenmal
wirklich in das Leben über. Diese schweren Tage wirkten bedeutender auf ihn
ein mis alle jene Tage, die er in den Hörsälen, die er über seinen Büchern
im halb unfruchtbaren Studium verbrachte. Aus dem Zauberbann schmeich¬
lerischer, entnervender Phantasien und stumpfen, dumpfen Grübelns trat er jetzt
zuerst in das reale Leben, er verlor den Hunger nach dem Idealen, dem Über¬
irdischen nicht, aber dazu gesellte sich der Hunger nach dem Wirklichen, und die
Verschmelzung von beiden, welche in so feierlichen Stunden stattfand, mußte
einen guten Guß geben." Prächtig und lebendig erscheinen weiter die Schilde-
rungen von Hansens Hauslehrerleben, die Existenz auf dem nahrhaften Gute,
aus dem er durch deu Willen einer hocharistokratischen Tante herausgeworfen
wird, und die Erfahrungen in einer Fabrikantenfamilie der Magdeburger Gegend,
bei der er wegen seiner mild menschlichen, warmen Teilnahme für die Elenden
und Krüppelhaften in den Verdacht gerät, revolutionäre Grundsätze zu hegen.
Der Moment des Eintritts des Helden in das Haus des Geheimrath Götz in
Berlin bezeichnet den Beginn des eigentlichen Konflikts im Roman und des
Kampfes zwischen den Gegensätzen, die in Hans Unwirrsch und Moses Freuden¬
stein u,1ins Theophil Stein verkörpert sind> Die Darstellung moderner gesell¬
schaftlicher Zustände ist reich an Bitterkeit: „Falschheit und freche Selbstsucht,
bejammernswerte Schwäche, störrige Dummheit und frömmelnde Hoffahrt, Leicht¬
sinn, Überhebung, Spott und Übermut auf allen Seiten; — o es war wahrlich
eine Welt, um darin Hunger zu empfinden, Hunger nach der Unschuld, der
Treue, der Sanftmut und der Liebe." Aber die Schicksale des armen Hans
Unwirrsch sind echte Schicksale eines braven deutschen Menschenkindes, das diese
ganze Welt unter den Füßen hat, wenn es nur Arbeit und Liebe zu finden vermag.
Arbeit und Liebe werden dem wackern Kandidaten zu Teil, sobald er in die
Hungerpfarre zu Grunzeuow eingeführt ist und das liebliche, auch in der poetischen
Schilderung ein wenig zu blaß geratene Fränzchen Götz heimführen darf. Was
er vorher in der Gesellschaft der Neuntöter, im Zusammenleben und Zusammen¬
prall mit dem schurkischen Jugendfreund, in der Heimat, in der ihm mit Base
Schlvttcrbeck und Oheim Grttuebanm die letzten Liebenden dahinsterben, auf dem
Gute des humoristischen Bären des Obersten Bullau zu durchleben hat, ist wohl
eins der seltsamsten Gewebe von Realität und Phantastik, welche die deutsche
Literatur aufzuweisen hat. Mit der Brille der „Wahrscheinlichkeit" betrachtet,
erscheint vieles in diesem Roman unmöglich, doch seine Grundstimmung ist
von der goldensten, lautersten Wahrheit erfüllt.

Einen minder erquicklichen Eindruck gewähren die beiden nächsten größeren
Romane Raabes „Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge"
(1868) und „Der Schüdderump" (1870.) In ihnen scheint unser Schriftsteller
vou herben Zweifeln angewandelt, ob die Panacee, welche „Der Hungerpastor"
noch so begeistert anpreist, in der That auch für alle Schmerzen Heilung und


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[0467] Wilhelm Rande. das Wahre, den Inhalt von dem Nebensächlichen und trug ihn zum erstenmal wirklich in das Leben über. Diese schweren Tage wirkten bedeutender auf ihn ein mis alle jene Tage, die er in den Hörsälen, die er über seinen Büchern im halb unfruchtbaren Studium verbrachte. Aus dem Zauberbann schmeich¬ lerischer, entnervender Phantasien und stumpfen, dumpfen Grübelns trat er jetzt zuerst in das reale Leben, er verlor den Hunger nach dem Idealen, dem Über¬ irdischen nicht, aber dazu gesellte sich der Hunger nach dem Wirklichen, und die Verschmelzung von beiden, welche in so feierlichen Stunden stattfand, mußte einen guten Guß geben." Prächtig und lebendig erscheinen weiter die Schilde- rungen von Hansens Hauslehrerleben, die Existenz auf dem nahrhaften Gute, aus dem er durch deu Willen einer hocharistokratischen Tante herausgeworfen wird, und die Erfahrungen in einer Fabrikantenfamilie der Magdeburger Gegend, bei der er wegen seiner mild menschlichen, warmen Teilnahme für die Elenden und Krüppelhaften in den Verdacht gerät, revolutionäre Grundsätze zu hegen. Der Moment des Eintritts des Helden in das Haus des Geheimrath Götz in Berlin bezeichnet den Beginn des eigentlichen Konflikts im Roman und des Kampfes zwischen den Gegensätzen, die in Hans Unwirrsch und Moses Freuden¬ stein u,1ins Theophil Stein verkörpert sind> Die Darstellung moderner gesell¬ schaftlicher Zustände ist reich an Bitterkeit: „Falschheit und freche Selbstsucht, bejammernswerte Schwäche, störrige Dummheit und frömmelnde Hoffahrt, Leicht¬ sinn, Überhebung, Spott und Übermut auf allen Seiten; — o es war wahrlich eine Welt, um darin Hunger zu empfinden, Hunger nach der Unschuld, der Treue, der Sanftmut und der Liebe." Aber die Schicksale des armen Hans Unwirrsch sind echte Schicksale eines braven deutschen Menschenkindes, das diese ganze Welt unter den Füßen hat, wenn es nur Arbeit und Liebe zu finden vermag. Arbeit und Liebe werden dem wackern Kandidaten zu Teil, sobald er in die Hungerpfarre zu Grunzeuow eingeführt ist und das liebliche, auch in der poetischen Schilderung ein wenig zu blaß geratene Fränzchen Götz heimführen darf. Was er vorher in der Gesellschaft der Neuntöter, im Zusammenleben und Zusammen¬ prall mit dem schurkischen Jugendfreund, in der Heimat, in der ihm mit Base Schlvttcrbeck und Oheim Grttuebanm die letzten Liebenden dahinsterben, auf dem Gute des humoristischen Bären des Obersten Bullau zu durchleben hat, ist wohl eins der seltsamsten Gewebe von Realität und Phantastik, welche die deutsche Literatur aufzuweisen hat. Mit der Brille der „Wahrscheinlichkeit" betrachtet, erscheint vieles in diesem Roman unmöglich, doch seine Grundstimmung ist von der goldensten, lautersten Wahrheit erfüllt. Einen minder erquicklichen Eindruck gewähren die beiden nächsten größeren Romane Raabes „Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge" (1868) und „Der Schüdderump" (1870.) In ihnen scheint unser Schriftsteller vou herben Zweifeln angewandelt, ob die Panacee, welche „Der Hungerpastor" noch so begeistert anpreist, in der That auch für alle Schmerzen Heilung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/467>, abgerufen am 26.06.2024.