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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Wilhelm Raabe,

junges Volk, wem es erst öfters in den Feldkessel regnete, der lernt den Deckel
auflegen, und wer schon mehr als einen guten Kameraden von der Seite verlor,
der lernt Ade sagen. Die weichsten Herzen Haben's gelernt, ini Elend nur
dreimal trocken überzuschlucken, und sind dabei doch die besten und treuesten
Kreaturen geblieben" kommt von vornherein zu Ehren. Meisterhaft find die
Gegensätze des "Hungers" und damit die typischen Gegensätze der modernen
Entwicklung in den Studentenfiguren des Hans Unwirrsch und Moses Freuden¬
stein dargestellt. Wir haben hier mit wahrhaft typischen Gestalten zu thun, und
während kein Mensch den liebenswürdigen und durch und durch humanen Dichter
in Verdacht ziehen wird, daß er konfessionellen oder Rassenhaß verbreiten wolle,
hat ihn die Lauterkeit seiner Natur und die leidenschaftliche Hingabe an das
Beste in der deutschen Volksseele zu einer Darstellung wie jener des Moses Frenden-
stein alias Theophil Stein geführt. Der ganze Verlauf des Romans, der nach
wunderlichen Irrungen und Schicksalen Hans Unwirrsch zur glücklich-thätigen
Resignation auf seiner Hungerpfarre Grunzenow an der Ostsee und im Liebes¬
bund mit der schlichten Franziska führt, während Moses Frendenstein alias
Theophil Stein in Paris in der furchtbaren Weise untergeht, in der moderne
Streber unterzugehen pflegen: "verachtet von denen, welche ihn gebrauchten;
verachtet von denen, gegen welche er gebraucht wurde," nachdem er zuvor die
glänzende Kleophea in sein Verderben hineingezogen, ist die lebendige, mit tausend
reizvollen Einzelheiten lebendig und fesselnd gestaltete Ausführung des einen
Grundgedankens. "Ich habe mir in meinem schlechten Verstand immer gedacht,
daß aus der Welt nicht viel werden würde, wenn es nicht den Hunger darin
gäbe. Aber das muß nicht bloß der Hunger sein, der "ach Essen und Trinken
und einem guten Leben verlangt, nein, ein ganz ander Ding" sagt die schlichte
Mutter von Hans Unwirrsch! Und das Glück der Zeiten wie der Einzelnen
beruht darauf, ob sie großen Hunger nach irgend etwas haben, von dem man
weiß, daß man es durch Mühe und Arbeit erlangen kann, oder ob ihnen dieser
Hunger fehlt. Die Reihe der Genrebilder, durch welche uns die ernste Teil¬
nahme Randes an Menschenschicksalen und sein Humor führen, bekundet den
Phantasie- und Anschauungsreichtum des Autors. Er malt auch die Menschen
und Zustände, unter denen Hans Unwirrsch zur Welterfahrung gelaugt, uicht
teuflisch schwarz, es ist eben genug, daß sie grau in grau erscheinen. Wunderbar
schön sind die Szenen des Buches, in denen der Kandidat der Theologie am
Kranken- und Sterbebette seiner leidenden Mutter zur ersten bedeutsamen Ent¬
wicklung als Manu gelangt. "Hans fühlte sich sehr gedemütigt am Lager dieser
armen, einfältigen Frau, die so große Qualen erdulden mußte und welche doch
so heldenmäßig sprechen und trösten konnte. Wenn auch der Schmerz um den
drohenden Verlust heftiger wurde, so verflog doch die schwächliche Mißstimmung
der vorigen Tage. Er fühlte sich wieder sicher auf seinen Füßen, das echte
wirkliche Leid gab ihm die geistige Haltung wieder; in seinem Beruf schied er


Wilhelm Raabe,

junges Volk, wem es erst öfters in den Feldkessel regnete, der lernt den Deckel
auflegen, und wer schon mehr als einen guten Kameraden von der Seite verlor,
der lernt Ade sagen. Die weichsten Herzen Haben's gelernt, ini Elend nur
dreimal trocken überzuschlucken, und sind dabei doch die besten und treuesten
Kreaturen geblieben" kommt von vornherein zu Ehren. Meisterhaft find die
Gegensätze des „Hungers" und damit die typischen Gegensätze der modernen
Entwicklung in den Studentenfiguren des Hans Unwirrsch und Moses Freuden¬
stein dargestellt. Wir haben hier mit wahrhaft typischen Gestalten zu thun, und
während kein Mensch den liebenswürdigen und durch und durch humanen Dichter
in Verdacht ziehen wird, daß er konfessionellen oder Rassenhaß verbreiten wolle,
hat ihn die Lauterkeit seiner Natur und die leidenschaftliche Hingabe an das
Beste in der deutschen Volksseele zu einer Darstellung wie jener des Moses Frenden-
stein alias Theophil Stein geführt. Der ganze Verlauf des Romans, der nach
wunderlichen Irrungen und Schicksalen Hans Unwirrsch zur glücklich-thätigen
Resignation auf seiner Hungerpfarre Grunzenow an der Ostsee und im Liebes¬
bund mit der schlichten Franziska führt, während Moses Frendenstein alias
Theophil Stein in Paris in der furchtbaren Weise untergeht, in der moderne
Streber unterzugehen pflegen: „verachtet von denen, welche ihn gebrauchten;
verachtet von denen, gegen welche er gebraucht wurde," nachdem er zuvor die
glänzende Kleophea in sein Verderben hineingezogen, ist die lebendige, mit tausend
reizvollen Einzelheiten lebendig und fesselnd gestaltete Ausführung des einen
Grundgedankens. „Ich habe mir in meinem schlechten Verstand immer gedacht,
daß aus der Welt nicht viel werden würde, wenn es nicht den Hunger darin
gäbe. Aber das muß nicht bloß der Hunger sein, der »ach Essen und Trinken
und einem guten Leben verlangt, nein, ein ganz ander Ding" sagt die schlichte
Mutter von Hans Unwirrsch! Und das Glück der Zeiten wie der Einzelnen
beruht darauf, ob sie großen Hunger nach irgend etwas haben, von dem man
weiß, daß man es durch Mühe und Arbeit erlangen kann, oder ob ihnen dieser
Hunger fehlt. Die Reihe der Genrebilder, durch welche uns die ernste Teil¬
nahme Randes an Menschenschicksalen und sein Humor führen, bekundet den
Phantasie- und Anschauungsreichtum des Autors. Er malt auch die Menschen
und Zustände, unter denen Hans Unwirrsch zur Welterfahrung gelaugt, uicht
teuflisch schwarz, es ist eben genug, daß sie grau in grau erscheinen. Wunderbar
schön sind die Szenen des Buches, in denen der Kandidat der Theologie am
Kranken- und Sterbebette seiner leidenden Mutter zur ersten bedeutsamen Ent¬
wicklung als Manu gelangt. „Hans fühlte sich sehr gedemütigt am Lager dieser
armen, einfältigen Frau, die so große Qualen erdulden mußte und welche doch
so heldenmäßig sprechen und trösten konnte. Wenn auch der Schmerz um den
drohenden Verlust heftiger wurde, so verflog doch die schwächliche Mißstimmung
der vorigen Tage. Er fühlte sich wieder sicher auf seinen Füßen, das echte
wirkliche Leid gab ihm die geistige Haltung wieder; in seinem Beruf schied er


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[0466] Wilhelm Raabe, junges Volk, wem es erst öfters in den Feldkessel regnete, der lernt den Deckel auflegen, und wer schon mehr als einen guten Kameraden von der Seite verlor, der lernt Ade sagen. Die weichsten Herzen Haben's gelernt, ini Elend nur dreimal trocken überzuschlucken, und sind dabei doch die besten und treuesten Kreaturen geblieben" kommt von vornherein zu Ehren. Meisterhaft find die Gegensätze des „Hungers" und damit die typischen Gegensätze der modernen Entwicklung in den Studentenfiguren des Hans Unwirrsch und Moses Freuden¬ stein dargestellt. Wir haben hier mit wahrhaft typischen Gestalten zu thun, und während kein Mensch den liebenswürdigen und durch und durch humanen Dichter in Verdacht ziehen wird, daß er konfessionellen oder Rassenhaß verbreiten wolle, hat ihn die Lauterkeit seiner Natur und die leidenschaftliche Hingabe an das Beste in der deutschen Volksseele zu einer Darstellung wie jener des Moses Frenden- stein alias Theophil Stein geführt. Der ganze Verlauf des Romans, der nach wunderlichen Irrungen und Schicksalen Hans Unwirrsch zur glücklich-thätigen Resignation auf seiner Hungerpfarre Grunzenow an der Ostsee und im Liebes¬ bund mit der schlichten Franziska führt, während Moses Frendenstein alias Theophil Stein in Paris in der furchtbaren Weise untergeht, in der moderne Streber unterzugehen pflegen: „verachtet von denen, welche ihn gebrauchten; verachtet von denen, gegen welche er gebraucht wurde," nachdem er zuvor die glänzende Kleophea in sein Verderben hineingezogen, ist die lebendige, mit tausend reizvollen Einzelheiten lebendig und fesselnd gestaltete Ausführung des einen Grundgedankens. „Ich habe mir in meinem schlechten Verstand immer gedacht, daß aus der Welt nicht viel werden würde, wenn es nicht den Hunger darin gäbe. Aber das muß nicht bloß der Hunger sein, der »ach Essen und Trinken und einem guten Leben verlangt, nein, ein ganz ander Ding" sagt die schlichte Mutter von Hans Unwirrsch! Und das Glück der Zeiten wie der Einzelnen beruht darauf, ob sie großen Hunger nach irgend etwas haben, von dem man weiß, daß man es durch Mühe und Arbeit erlangen kann, oder ob ihnen dieser Hunger fehlt. Die Reihe der Genrebilder, durch welche uns die ernste Teil¬ nahme Randes an Menschenschicksalen und sein Humor führen, bekundet den Phantasie- und Anschauungsreichtum des Autors. Er malt auch die Menschen und Zustände, unter denen Hans Unwirrsch zur Welterfahrung gelaugt, uicht teuflisch schwarz, es ist eben genug, daß sie grau in grau erscheinen. Wunderbar schön sind die Szenen des Buches, in denen der Kandidat der Theologie am Kranken- und Sterbebette seiner leidenden Mutter zur ersten bedeutsamen Ent¬ wicklung als Manu gelangt. „Hans fühlte sich sehr gedemütigt am Lager dieser armen, einfältigen Frau, die so große Qualen erdulden mußte und welche doch so heldenmäßig sprechen und trösten konnte. Wenn auch der Schmerz um den drohenden Verlust heftiger wurde, so verflog doch die schwächliche Mißstimmung der vorigen Tage. Er fühlte sich wieder sicher auf seinen Füßen, das echte wirkliche Leid gab ihm die geistige Haltung wieder; in seinem Beruf schied er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/466>, abgerufen am 26.06.2024.