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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Wilhelm Raabe.

gestoßenen Liebsten, des Ritters Michel Groland von Lanfenholz wirft, nur
zur halben Geltung. Ju andern kleinen historischen Novellen, welche in den ver¬
schiedensten Zeiten und Verhältnissen spielen, beruht das ganze oder doch das
wesentlichste Interesse auf dem eigenartigen Kolorit und einer gewissen tragischen
Gruudanschnuuug, die sich aus den großen unablässig wiederkehrenden Gegen¬
sätzen alles historischen Lebens von selbst ergiebt. Prachtstücke in dieser Art
sind die in der Sammlung "Der Regenbogen" (1869) enthaltenen Erzählungen
"Elfe von der Tanne" und "Sankt Thomas," ebenso die Novelle "Die schwarze
Galeere" (in der Sammlung "Ferne Stimmen" 1865.) Auch in humoristischer
Wiedergabe entlegener Zustände und der Rückwirkung weltgeschichtlicher Strö¬
mungen auf beschränkte Lebenskreise zeigt sich Wilhelm Raabe als Meister; wir
erinnern hier vor allem an "Die Gänse von Bützow" (im "Regenbogen") und
ähnliche halbchronikalische Scherze.

Trotz alledem wird niemand verkennen, daß die eigentliche Stärke des
Schriftstellers in der Wiedergabe deutsch heimischen Lebens der Gegenwart oder
der unmittelbaren Vergangenheit liegt. Den Übergang zu deu größeren Ro¬
manen Randes, welche dies Leben darstellen, bildet das stimmungsvolle und
vielfach reizende Buch "Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und
Schicksale" (1863). Die Hauptleistung größeren Umfangs aber, in welcher die
besondern Vorzüge und freilich auch einige der charakteristischen Mängel in einer
Produktion vereinigt sind, ist der Roman "Der Hungerpastor" (1864), in welchem
der Autor zuerst in gewisse Tiefen des Lebens hinabtaucht und neben den an¬
mutigsten Lebensbildern ein Spiegelbild des großen Menschenschicksals im be¬
scheidensten Leben giebt. "Der Hungerpastor" nahm die mit Unrecht in Verruf
gekommene Form des biographischen Romans wieder auf. Die Lebensgeschichte
eines Schuhmachersohues Hans Unwirrsch, der als Spätgeborner früh den Vater
verliert und in dem der geheimnisvolle Bildungsdrang, die Bilduugssehnsucht,
welche durch die deutsche Volksseele hindurchgeht, lebendig wird, dient dem
Verfasser zum Spiegel mühseligen Emporringens, der schlimmen Welterfahrnngen,
welche der überfliegenden Phantasie und dem treuen, warmen, ehrlichen Herzen
nicht erspart bleiben können. Prächtig und voll echter Poesie des Kleinlebens,
welche den gcrühmtesten und gemütvollsten Lebensbildern Dickens' wahrhaftig
nichts nachgiebt, sind die ersten Kapitel des Hungerpastor. Die charakteristischen
Gestalten der gläubig hoffenden Mutter, des Oheims und Schusters Grüne¬
baum, der Base Schlotterbeck, des Trödlers Samuel Frendenstein, die Knaben-
crlebnisse und Entwicklungen des kleinen Hans selbst und seines Jugendkameraden
Moses Freudeustein sind nicht nur der feinsten Beobachtungsgabe entstammt,
sondern mit jener treibenden Poetischen Kraft erfüllt, aus welcher echt lebendige
Folge hervorgeht. Freilich beginnt auch hier schon in der Vorführung des
Armenschnllchrers Karl Silberlöffel und seines schlimmen Schicksals die andre
Seite des Buches, und die Philosophie des Leutnant Götz: "Ich sage euch,'


Ärenzboten I. 1832, 58
Wilhelm Raabe.

gestoßenen Liebsten, des Ritters Michel Groland von Lanfenholz wirft, nur
zur halben Geltung. Ju andern kleinen historischen Novellen, welche in den ver¬
schiedensten Zeiten und Verhältnissen spielen, beruht das ganze oder doch das
wesentlichste Interesse auf dem eigenartigen Kolorit und einer gewissen tragischen
Gruudanschnuuug, die sich aus den großen unablässig wiederkehrenden Gegen¬
sätzen alles historischen Lebens von selbst ergiebt. Prachtstücke in dieser Art
sind die in der Sammlung „Der Regenbogen" (1869) enthaltenen Erzählungen
„Elfe von der Tanne" und „Sankt Thomas," ebenso die Novelle „Die schwarze
Galeere" (in der Sammlung „Ferne Stimmen" 1865.) Auch in humoristischer
Wiedergabe entlegener Zustände und der Rückwirkung weltgeschichtlicher Strö¬
mungen auf beschränkte Lebenskreise zeigt sich Wilhelm Raabe als Meister; wir
erinnern hier vor allem an „Die Gänse von Bützow" (im „Regenbogen") und
ähnliche halbchronikalische Scherze.

Trotz alledem wird niemand verkennen, daß die eigentliche Stärke des
Schriftstellers in der Wiedergabe deutsch heimischen Lebens der Gegenwart oder
der unmittelbaren Vergangenheit liegt. Den Übergang zu deu größeren Ro¬
manen Randes, welche dies Leben darstellen, bildet das stimmungsvolle und
vielfach reizende Buch „Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und
Schicksale" (1863). Die Hauptleistung größeren Umfangs aber, in welcher die
besondern Vorzüge und freilich auch einige der charakteristischen Mängel in einer
Produktion vereinigt sind, ist der Roman „Der Hungerpastor" (1864), in welchem
der Autor zuerst in gewisse Tiefen des Lebens hinabtaucht und neben den an¬
mutigsten Lebensbildern ein Spiegelbild des großen Menschenschicksals im be¬
scheidensten Leben giebt. „Der Hungerpastor" nahm die mit Unrecht in Verruf
gekommene Form des biographischen Romans wieder auf. Die Lebensgeschichte
eines Schuhmachersohues Hans Unwirrsch, der als Spätgeborner früh den Vater
verliert und in dem der geheimnisvolle Bildungsdrang, die Bilduugssehnsucht,
welche durch die deutsche Volksseele hindurchgeht, lebendig wird, dient dem
Verfasser zum Spiegel mühseligen Emporringens, der schlimmen Welterfahrnngen,
welche der überfliegenden Phantasie und dem treuen, warmen, ehrlichen Herzen
nicht erspart bleiben können. Prächtig und voll echter Poesie des Kleinlebens,
welche den gcrühmtesten und gemütvollsten Lebensbildern Dickens' wahrhaftig
nichts nachgiebt, sind die ersten Kapitel des Hungerpastor. Die charakteristischen
Gestalten der gläubig hoffenden Mutter, des Oheims und Schusters Grüne¬
baum, der Base Schlotterbeck, des Trödlers Samuel Frendenstein, die Knaben-
crlebnisse und Entwicklungen des kleinen Hans selbst und seines Jugendkameraden
Moses Freudeustein sind nicht nur der feinsten Beobachtungsgabe entstammt,
sondern mit jener treibenden Poetischen Kraft erfüllt, aus welcher echt lebendige
Folge hervorgeht. Freilich beginnt auch hier schon in der Vorführung des
Armenschnllchrers Karl Silberlöffel und seines schlimmen Schicksals die andre
Seite des Buches, und die Philosophie des Leutnant Götz: „Ich sage euch,'


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[0465] Wilhelm Raabe. gestoßenen Liebsten, des Ritters Michel Groland von Lanfenholz wirft, nur zur halben Geltung. Ju andern kleinen historischen Novellen, welche in den ver¬ schiedensten Zeiten und Verhältnissen spielen, beruht das ganze oder doch das wesentlichste Interesse auf dem eigenartigen Kolorit und einer gewissen tragischen Gruudanschnuuug, die sich aus den großen unablässig wiederkehrenden Gegen¬ sätzen alles historischen Lebens von selbst ergiebt. Prachtstücke in dieser Art sind die in der Sammlung „Der Regenbogen" (1869) enthaltenen Erzählungen „Elfe von der Tanne" und „Sankt Thomas," ebenso die Novelle „Die schwarze Galeere" (in der Sammlung „Ferne Stimmen" 1865.) Auch in humoristischer Wiedergabe entlegener Zustände und der Rückwirkung weltgeschichtlicher Strö¬ mungen auf beschränkte Lebenskreise zeigt sich Wilhelm Raabe als Meister; wir erinnern hier vor allem an „Die Gänse von Bützow" (im „Regenbogen") und ähnliche halbchronikalische Scherze. Trotz alledem wird niemand verkennen, daß die eigentliche Stärke des Schriftstellers in der Wiedergabe deutsch heimischen Lebens der Gegenwart oder der unmittelbaren Vergangenheit liegt. Den Übergang zu deu größeren Ro¬ manen Randes, welche dies Leben darstellen, bildet das stimmungsvolle und vielfach reizende Buch „Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale" (1863). Die Hauptleistung größeren Umfangs aber, in welcher die besondern Vorzüge und freilich auch einige der charakteristischen Mängel in einer Produktion vereinigt sind, ist der Roman „Der Hungerpastor" (1864), in welchem der Autor zuerst in gewisse Tiefen des Lebens hinabtaucht und neben den an¬ mutigsten Lebensbildern ein Spiegelbild des großen Menschenschicksals im be¬ scheidensten Leben giebt. „Der Hungerpastor" nahm die mit Unrecht in Verruf gekommene Form des biographischen Romans wieder auf. Die Lebensgeschichte eines Schuhmachersohues Hans Unwirrsch, der als Spätgeborner früh den Vater verliert und in dem der geheimnisvolle Bildungsdrang, die Bilduugssehnsucht, welche durch die deutsche Volksseele hindurchgeht, lebendig wird, dient dem Verfasser zum Spiegel mühseligen Emporringens, der schlimmen Welterfahrnngen, welche der überfliegenden Phantasie und dem treuen, warmen, ehrlichen Herzen nicht erspart bleiben können. Prächtig und voll echter Poesie des Kleinlebens, welche den gcrühmtesten und gemütvollsten Lebensbildern Dickens' wahrhaftig nichts nachgiebt, sind die ersten Kapitel des Hungerpastor. Die charakteristischen Gestalten der gläubig hoffenden Mutter, des Oheims und Schusters Grüne¬ baum, der Base Schlotterbeck, des Trödlers Samuel Frendenstein, die Knaben- crlebnisse und Entwicklungen des kleinen Hans selbst und seines Jugendkameraden Moses Freudeustein sind nicht nur der feinsten Beobachtungsgabe entstammt, sondern mit jener treibenden Poetischen Kraft erfüllt, aus welcher echt lebendige Folge hervorgeht. Freilich beginnt auch hier schon in der Vorführung des Armenschnllchrers Karl Silberlöffel und seines schlimmen Schicksals die andre Seite des Buches, und die Philosophie des Leutnant Götz: „Ich sage euch,' Ärenzboten I. 1832, 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/465>, abgerufen am 26.06.2024.