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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Fortschritte in der antiken Kunstgeschichte während des letzten Jahrzehnts,

schwerwiegend daher auch im ganzen Langes Gründe erscheinen, so möchte ich
doch seine Resultate nicht als absolut unanfechtbar bezeichnen, zumal da dieselben
als unbedingt notwendige Voraussetzung die Annahme haben, daß bei der
Restauration der Figuren durch Wagner und Thorwaldsen durchweg jedes Frag¬
ment auch der Figur, zu welcher es ursprünglich gehörte, zugewiesen worden sei,
was doch immerhin noch einer erneuten Untersuchung bedürfen würde. Erst
wenn dieser Nachweis gelingen sollte (und nach den Äußerungen Wagners über
ihr Verfahren bei der Restauration sollte man das eigentlich erwarten), wird
man nicht umhin können, sich mit der Vermehrung der Personenzahl in den
Giebelgruppen zu befreunden. Aber darauf möchte ich doch noch hinweisen, daß
die Rekonstruktion des Westgiebels, wie sie Lange auf seiner dritte" Tafel ver¬
sucht und Overbeck darnach wiederholt hat, mir wenig annehmbar erscheint, weil
dabei die beiden Zugreifenden fast vollständig verdeckt werden: man sieht von
beiden kein einziges Stück des Rumpfes, sondern nur Arm und Beine, und den
Kopf nur halb. Wenn wir, wie das meiner Ansicht nach nicht anders möglich
ist, daran festhalten, daß die ältere Giebelplastik wesentlich reliefartig komponirt
und gleich dem Relief der besten Zeit ein Überschreiten und ein Hinteremander-
stehcn von mehreren Figuren möglichst vermeidet, so wird man eine Hypothese,
bei welcher die Überfüllung des Giebels mit Figuren zu soeben Arrangement zwingt,
doch nicht unbedenklich finden. Sonst aber macht, hiervon abgesehen, Langes
Raisonnement einen überzeugender Eindruck, dem sich, die bestrittene Zugehörig¬
keit aller als Beleg beigezogeuer Fragmente zu den äginetischen Giebelfeldern
vorausgesetzt, nichts Triftiges entgegenstellen ließe.

Die erneute Untersuchung dieser für die Entwicklung der älteren Kunst so
wichtigen Denkmäler hat auch andere hierauf bezügliche Fragen aufs neue zur
Besprechung gebracht: so für den Westgiebel die von Friederichs und Brunn
vorgeschlagene, heutzutage fast durchweg angenommene und auch vou Lange ver¬
teidigte Umstellung der Figuren, wonach die Bogenschützen hinter den knieenden
Lanzenkümpfern aufgestellt waren; und für den Ostgiebcl die oft bestrittene Nichtig¬
keit von Thorwaldsens Ergänzung des Gefallenen in der Mitte, für welche nun¬
mehr Lange mit Recht wieder eintritt. Damit steht im Zusammenhange die
Frage, welchen Platz in diesem Giebel die noch erhaltene Figur des Herakles
einnahm, ob rechts oder links (vom Beschauer); und dies führte wiederum dazu,
eine bei antiken Denkmälern sehr gewöhnliche und vielfach, namentlich neuer¬
dings zur Begründung bestimmter Hypothesen über deren Aufstellung benutzte
Erscheinung näher zu beleuchten: die sogenannte Corrosion, d. h. die Zer¬
störung der Epidermis des Marmors durch die Einflüsse der Witterung, der
Feuchtigkeit, sei es des Regens oder des Erdbodens u. tgi.

Brunn, Prachow, Lange, Julius, alle machen die Corrosion für ihre Be¬
hauptungen zu einem Stützpunkt; aber indem jeder darüber anders denkt, er¬
giebt sich schon daraus die außerordentlich geringe Beweiskraft dieses Arguments.


Die Fortschritte in der antiken Kunstgeschichte während des letzten Jahrzehnts,

schwerwiegend daher auch im ganzen Langes Gründe erscheinen, so möchte ich
doch seine Resultate nicht als absolut unanfechtbar bezeichnen, zumal da dieselben
als unbedingt notwendige Voraussetzung die Annahme haben, daß bei der
Restauration der Figuren durch Wagner und Thorwaldsen durchweg jedes Frag¬
ment auch der Figur, zu welcher es ursprünglich gehörte, zugewiesen worden sei,
was doch immerhin noch einer erneuten Untersuchung bedürfen würde. Erst
wenn dieser Nachweis gelingen sollte (und nach den Äußerungen Wagners über
ihr Verfahren bei der Restauration sollte man das eigentlich erwarten), wird
man nicht umhin können, sich mit der Vermehrung der Personenzahl in den
Giebelgruppen zu befreunden. Aber darauf möchte ich doch noch hinweisen, daß
die Rekonstruktion des Westgiebels, wie sie Lange auf seiner dritte» Tafel ver¬
sucht und Overbeck darnach wiederholt hat, mir wenig annehmbar erscheint, weil
dabei die beiden Zugreifenden fast vollständig verdeckt werden: man sieht von
beiden kein einziges Stück des Rumpfes, sondern nur Arm und Beine, und den
Kopf nur halb. Wenn wir, wie das meiner Ansicht nach nicht anders möglich
ist, daran festhalten, daß die ältere Giebelplastik wesentlich reliefartig komponirt
und gleich dem Relief der besten Zeit ein Überschreiten und ein Hinteremander-
stehcn von mehreren Figuren möglichst vermeidet, so wird man eine Hypothese,
bei welcher die Überfüllung des Giebels mit Figuren zu soeben Arrangement zwingt,
doch nicht unbedenklich finden. Sonst aber macht, hiervon abgesehen, Langes
Raisonnement einen überzeugender Eindruck, dem sich, die bestrittene Zugehörig¬
keit aller als Beleg beigezogeuer Fragmente zu den äginetischen Giebelfeldern
vorausgesetzt, nichts Triftiges entgegenstellen ließe.

Die erneute Untersuchung dieser für die Entwicklung der älteren Kunst so
wichtigen Denkmäler hat auch andere hierauf bezügliche Fragen aufs neue zur
Besprechung gebracht: so für den Westgiebel die von Friederichs und Brunn
vorgeschlagene, heutzutage fast durchweg angenommene und auch vou Lange ver¬
teidigte Umstellung der Figuren, wonach die Bogenschützen hinter den knieenden
Lanzenkümpfern aufgestellt waren; und für den Ostgiebcl die oft bestrittene Nichtig¬
keit von Thorwaldsens Ergänzung des Gefallenen in der Mitte, für welche nun¬
mehr Lange mit Recht wieder eintritt. Damit steht im Zusammenhange die
Frage, welchen Platz in diesem Giebel die noch erhaltene Figur des Herakles
einnahm, ob rechts oder links (vom Beschauer); und dies führte wiederum dazu,
eine bei antiken Denkmälern sehr gewöhnliche und vielfach, namentlich neuer¬
dings zur Begründung bestimmter Hypothesen über deren Aufstellung benutzte
Erscheinung näher zu beleuchten: die sogenannte Corrosion, d. h. die Zer¬
störung der Epidermis des Marmors durch die Einflüsse der Witterung, der
Feuchtigkeit, sei es des Regens oder des Erdbodens u. tgi.

Brunn, Prachow, Lange, Julius, alle machen die Corrosion für ihre Be¬
hauptungen zu einem Stützpunkt; aber indem jeder darüber anders denkt, er¬
giebt sich schon daraus die außerordentlich geringe Beweiskraft dieses Arguments.


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[0460] Die Fortschritte in der antiken Kunstgeschichte während des letzten Jahrzehnts, schwerwiegend daher auch im ganzen Langes Gründe erscheinen, so möchte ich doch seine Resultate nicht als absolut unanfechtbar bezeichnen, zumal da dieselben als unbedingt notwendige Voraussetzung die Annahme haben, daß bei der Restauration der Figuren durch Wagner und Thorwaldsen durchweg jedes Frag¬ ment auch der Figur, zu welcher es ursprünglich gehörte, zugewiesen worden sei, was doch immerhin noch einer erneuten Untersuchung bedürfen würde. Erst wenn dieser Nachweis gelingen sollte (und nach den Äußerungen Wagners über ihr Verfahren bei der Restauration sollte man das eigentlich erwarten), wird man nicht umhin können, sich mit der Vermehrung der Personenzahl in den Giebelgruppen zu befreunden. Aber darauf möchte ich doch noch hinweisen, daß die Rekonstruktion des Westgiebels, wie sie Lange auf seiner dritte» Tafel ver¬ sucht und Overbeck darnach wiederholt hat, mir wenig annehmbar erscheint, weil dabei die beiden Zugreifenden fast vollständig verdeckt werden: man sieht von beiden kein einziges Stück des Rumpfes, sondern nur Arm und Beine, und den Kopf nur halb. Wenn wir, wie das meiner Ansicht nach nicht anders möglich ist, daran festhalten, daß die ältere Giebelplastik wesentlich reliefartig komponirt und gleich dem Relief der besten Zeit ein Überschreiten und ein Hinteremander- stehcn von mehreren Figuren möglichst vermeidet, so wird man eine Hypothese, bei welcher die Überfüllung des Giebels mit Figuren zu soeben Arrangement zwingt, doch nicht unbedenklich finden. Sonst aber macht, hiervon abgesehen, Langes Raisonnement einen überzeugender Eindruck, dem sich, die bestrittene Zugehörig¬ keit aller als Beleg beigezogeuer Fragmente zu den äginetischen Giebelfeldern vorausgesetzt, nichts Triftiges entgegenstellen ließe. Die erneute Untersuchung dieser für die Entwicklung der älteren Kunst so wichtigen Denkmäler hat auch andere hierauf bezügliche Fragen aufs neue zur Besprechung gebracht: so für den Westgiebel die von Friederichs und Brunn vorgeschlagene, heutzutage fast durchweg angenommene und auch vou Lange ver¬ teidigte Umstellung der Figuren, wonach die Bogenschützen hinter den knieenden Lanzenkümpfern aufgestellt waren; und für den Ostgiebcl die oft bestrittene Nichtig¬ keit von Thorwaldsens Ergänzung des Gefallenen in der Mitte, für welche nun¬ mehr Lange mit Recht wieder eintritt. Damit steht im Zusammenhange die Frage, welchen Platz in diesem Giebel die noch erhaltene Figur des Herakles einnahm, ob rechts oder links (vom Beschauer); und dies führte wiederum dazu, eine bei antiken Denkmälern sehr gewöhnliche und vielfach, namentlich neuer¬ dings zur Begründung bestimmter Hypothesen über deren Aufstellung benutzte Erscheinung näher zu beleuchten: die sogenannte Corrosion, d. h. die Zer¬ störung der Epidermis des Marmors durch die Einflüsse der Witterung, der Feuchtigkeit, sei es des Regens oder des Erdbodens u. tgi. Brunn, Prachow, Lange, Julius, alle machen die Corrosion für ihre Be¬ hauptungen zu einem Stützpunkt; aber indem jeder darüber anders denkt, er¬ giebt sich schon daraus die außerordentlich geringe Beweiskraft dieses Arguments.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/460>, abgerufen am 26.06.2024.