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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Fortschritte in der antiken Rnnstgeschichte während des letzten Jahrzehnts.

Mit Untersuchungen über die Geschichte, die Topographie und die Tempel von
Selinunt" (Berlin, Gnttcntag, 1873). Ganz besonders aber sind die cigine-
tischen Bildwerke neuerdings wieder in den Vordergrund getreten. Nachdem
man sich ein halbes Jahrhundert dabei beruhigt hatte, daß jene Aufstellung,
wie sie die Bildwerke nach der Ergänzung durch Thorwaldsen gefunden hatten
und wie sie heute noch in der Glyptothek in München stehen, die Wahrheit
durchaus träfe, vor allen Dingen, daß die Komposition jedes Giebelfeldes durch
elf Figuren abgeschlossen sei (nämlich Athene, ein Gefallener in der Mitte mit
einem nach ihm Greifenden, zwei Paare von Lanzenkämpfern, zwei Bogenschützen
und zwei liegende Verwundete in den Giebelecken), darf man es jetzt durch die
Untersuchungen von Hadrian Prachow: I^ö, voinxositiori as8 Kionxss an
tvmplö ä'^Mig (in den ^.imM äoll' Instituto für 1873, S. 140 ff.), als er¬
wiesen betrachten, daß dem Zugreifende" von der einen Seite, welcher den Ge¬
fallenen auf die Seite seiner Partei herüberziehen will, ein eben solcher auf der
andern Seite entsprach, indem ebenso die Feinde den Leichnam des Gefallenen
für sich zu erringen strebten, wie die Freunde desselben diesen Versuch zu
hindern sich bemühten. Es leuchtet auf den ersten Blick ein, wie viel harmo-
nischer dadurch die symmetrische Komposition der ganzen Giebelgruppe wird;
der Gefallene kommt damit direkt vor die Füße der Göttin zu liegen, erscheint
demnach auch ganz persönlich unter ihren Schutz gestellt. Wenn diese Ver¬
mutung, das wichtigste Resultat von den Untersuchungen Prachows, wohl
ziemlich allgemeine Zustimmung gefunden hat, so hat dafür eine weitergehende
Hypothese Widerspruch erfahre", welche Konrad Lange i" dem Aufsatz "Die
Komposition der Ägineten" (in den Berichten der Königlich Sächsischen Gesell¬
schaft der Wissenschaften, Philos.-Hist. Klasse, sür 1878. S. 1 ff.) aufgestellt
hat. Lange glaubt nämlich aus einzelnen der zahlreichen, zu den äginetischen
Giebelgruppen gehörigen Fragmente, welche sich in der Glyptothek befinden
und bisher verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden hatten, konstatiren zu
können, daß außer den oben genannten Figuren noch zwei andre Vorkämpfer
zu jedem Giebel gehörten, jede Gruppe also aus vierzehn Personen bestanden
habe. Diese mit vielem Scharfsinn vorgetragene Hypothese fand namentlich
Widerspruch durch L. Julius (in den Neuen Jahrbüchern für Philologie und
Pädagogik von 1880, S. 1 ff.), während Overbeck sie in die neue Auflage
seiner Plastik als "unzweifelhaft" aufnahm und Lange selbst in der Archäo¬
logischen Zeitung für 1880, S. 121 ff. sie aufs neue verteidigt hat. Ich muß
mich damit begnügen, hier einfach auf diese neue Hypothese hinzuweisen, ohne
auf die einzelnen für und wider angeführten Gründe einzugehen, da dies ohne
Bezugnahme auf detaillirte Abbildungen gar nicht möglich ist. Noch dazu ist
eine Entscheidung in dieser Frage einzig und allein nach den Abbildungen bei
Lange, von denen er selbst sagt, daß sie nicht direkt von den Originalen gemacht
sind und keinen Anspruch auf Mustergiltigkeit erheben dürfen, nicht leicht. So


Die Fortschritte in der antiken Rnnstgeschichte während des letzten Jahrzehnts.

Mit Untersuchungen über die Geschichte, die Topographie und die Tempel von
Selinunt" (Berlin, Gnttcntag, 1873). Ganz besonders aber sind die cigine-
tischen Bildwerke neuerdings wieder in den Vordergrund getreten. Nachdem
man sich ein halbes Jahrhundert dabei beruhigt hatte, daß jene Aufstellung,
wie sie die Bildwerke nach der Ergänzung durch Thorwaldsen gefunden hatten
und wie sie heute noch in der Glyptothek in München stehen, die Wahrheit
durchaus träfe, vor allen Dingen, daß die Komposition jedes Giebelfeldes durch
elf Figuren abgeschlossen sei (nämlich Athene, ein Gefallener in der Mitte mit
einem nach ihm Greifenden, zwei Paare von Lanzenkämpfern, zwei Bogenschützen
und zwei liegende Verwundete in den Giebelecken), darf man es jetzt durch die
Untersuchungen von Hadrian Prachow: I^ö, voinxositiori as8 Kionxss an
tvmplö ä'^Mig (in den ^.imM äoll' Instituto für 1873, S. 140 ff.), als er¬
wiesen betrachten, daß dem Zugreifende» von der einen Seite, welcher den Ge¬
fallenen auf die Seite seiner Partei herüberziehen will, ein eben solcher auf der
andern Seite entsprach, indem ebenso die Feinde den Leichnam des Gefallenen
für sich zu erringen strebten, wie die Freunde desselben diesen Versuch zu
hindern sich bemühten. Es leuchtet auf den ersten Blick ein, wie viel harmo-
nischer dadurch die symmetrische Komposition der ganzen Giebelgruppe wird;
der Gefallene kommt damit direkt vor die Füße der Göttin zu liegen, erscheint
demnach auch ganz persönlich unter ihren Schutz gestellt. Wenn diese Ver¬
mutung, das wichtigste Resultat von den Untersuchungen Prachows, wohl
ziemlich allgemeine Zustimmung gefunden hat, so hat dafür eine weitergehende
Hypothese Widerspruch erfahre», welche Konrad Lange i» dem Aufsatz „Die
Komposition der Ägineten" (in den Berichten der Königlich Sächsischen Gesell¬
schaft der Wissenschaften, Philos.-Hist. Klasse, sür 1878. S. 1 ff.) aufgestellt
hat. Lange glaubt nämlich aus einzelnen der zahlreichen, zu den äginetischen
Giebelgruppen gehörigen Fragmente, welche sich in der Glyptothek befinden
und bisher verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden hatten, konstatiren zu
können, daß außer den oben genannten Figuren noch zwei andre Vorkämpfer
zu jedem Giebel gehörten, jede Gruppe also aus vierzehn Personen bestanden
habe. Diese mit vielem Scharfsinn vorgetragene Hypothese fand namentlich
Widerspruch durch L. Julius (in den Neuen Jahrbüchern für Philologie und
Pädagogik von 1880, S. 1 ff.), während Overbeck sie in die neue Auflage
seiner Plastik als „unzweifelhaft" aufnahm und Lange selbst in der Archäo¬
logischen Zeitung für 1880, S. 121 ff. sie aufs neue verteidigt hat. Ich muß
mich damit begnügen, hier einfach auf diese neue Hypothese hinzuweisen, ohne
auf die einzelnen für und wider angeführten Gründe einzugehen, da dies ohne
Bezugnahme auf detaillirte Abbildungen gar nicht möglich ist. Noch dazu ist
eine Entscheidung in dieser Frage einzig und allein nach den Abbildungen bei
Lange, von denen er selbst sagt, daß sie nicht direkt von den Originalen gemacht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/459>, abgerufen am 26.06.2024.