Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Bakchen und Thyrsosträger,

daß er seiner ganzen Länge nach auf das Trottoir fiel und kein Wort mehr
sprach, sondern nur Blut ans Mund und Nase von sich gab.

Das Weib stürzte laut schimpfend und zeternd an die nächste Hausthür
und begann zu läuten.

Nun geschwind! sagte Eduard, zog den Arm des Mädchens durch den
seinigen und eilte, so schnell es ihr Schritt gestattete, mit ihr davon. Nach
langem Laufe und ganz entfernt von der Gegend, wo die Szene stattgefunden
hatte, blieben sie athemlos stehen, und Ednard fragte, wohin er sie um be¬
gleiten solle, unter welchem Obdach sie die Nacht zuzubringen gedenke.

Aber zu seiner Verwunderung und nicht eben zu seinem Vergnügen erklärte
das junge Mädchen, daß es das selbst nicht wisse,

Sie war ganz und gar fremd in Berlin, hatte die Stadt nie gesehen, hatte
dort weder einen Verwandten noch einen Bekannten, abgesehen von der alten
garstigen Frau und den: karrirten Mann, der zu Boden geschlagen war,

Eduard geriet in große Verlegenheit, aber die sanfte, zaghafte Stimme des
Mädchens, ihre Thränen und ihre augenscheinliche Hilflosigkeit flößten ihm so
viel Mitleid ein, daß er alle Bedenken in den Wind schlug und sie gerades
Weges nach seiner eignen Wohnung führte. Doch sprach er unterdessen kein
Wort mehr, sondern überlegte nur, inwieweit er wohl weise gehandelt haben
möchte.

Das Mädchen ging stumm und mit gesenktem Kopf an seiner Seite, stieg
hinter ihm die Treppe hinan und blieb, während Eduard die Hängelampe an¬
zündete, gleich einem verhüllten Bilde der Schamhnftigkeit an der Thür stehen,

Nun, mein liebes Kind, sagte er, legen Sie Ihren Mantel ab, machen Sie
sichs bequem und lassen Sie uns dann ein verstündiges Wort mit einander
reden.

Sie legte gehorsam ihren weiten, häßlichen Mantel ab, ebenso den Hut mit
dem Schleier, den gestrickten Shawl, den sie um den Hals gewickelt trug, und
Eduard sah mit wachsendem Erstaunen und nicht ohne Verwirrung ein wunder¬
schön gewachsenes Figürchen sich entpuppen, dessen Bewegungen von den Grazien
vorgezeichnet zu sein schienen, dessen Gesicht das Gepräge der holdesten Unschuld
trug, dessen dunkelblaue Augen sanft und liebevoll blickten und dessen hochauf¬
gestecktes Haar vom schönsten Cendr" war, welches er in seinem Leben gesehen hatte,

Sie blieb schüchtern und mit gleichsam Verzeihung erbitterten Händen an
dem Stuhle stehen, auf den sie ihre Sachen gelegt hatte. Diese Hände waren
nicht ganz ohne die Spuren der Arbeit, aber Eduard hatte keine Mühe, zu ent¬
decken, daß sie von ebenso schöner Form waren wie der ganze übrige schlanke
und volle Körper.

Eduard war in bitterer Verlegenheit. Er dachte an Sylvia und war nicht
in Zweifel darüber, daß ein wohlerzogener Bräutigam ein fremdes schönes Mädchen
nicht in seine Wohnung aufnehmen dürfe. Doch ging es ihm gegen das Gefühl,


Bakchen und Thyrsosträger,

daß er seiner ganzen Länge nach auf das Trottoir fiel und kein Wort mehr
sprach, sondern nur Blut ans Mund und Nase von sich gab.

Das Weib stürzte laut schimpfend und zeternd an die nächste Hausthür
und begann zu läuten.

Nun geschwind! sagte Eduard, zog den Arm des Mädchens durch den
seinigen und eilte, so schnell es ihr Schritt gestattete, mit ihr davon. Nach
langem Laufe und ganz entfernt von der Gegend, wo die Szene stattgefunden
hatte, blieben sie athemlos stehen, und Ednard fragte, wohin er sie um be¬
gleiten solle, unter welchem Obdach sie die Nacht zuzubringen gedenke.

Aber zu seiner Verwunderung und nicht eben zu seinem Vergnügen erklärte
das junge Mädchen, daß es das selbst nicht wisse,

Sie war ganz und gar fremd in Berlin, hatte die Stadt nie gesehen, hatte
dort weder einen Verwandten noch einen Bekannten, abgesehen von der alten
garstigen Frau und den: karrirten Mann, der zu Boden geschlagen war,

Eduard geriet in große Verlegenheit, aber die sanfte, zaghafte Stimme des
Mädchens, ihre Thränen und ihre augenscheinliche Hilflosigkeit flößten ihm so
viel Mitleid ein, daß er alle Bedenken in den Wind schlug und sie gerades
Weges nach seiner eignen Wohnung führte. Doch sprach er unterdessen kein
Wort mehr, sondern überlegte nur, inwieweit er wohl weise gehandelt haben
möchte.

Das Mädchen ging stumm und mit gesenktem Kopf an seiner Seite, stieg
hinter ihm die Treppe hinan und blieb, während Eduard die Hängelampe an¬
zündete, gleich einem verhüllten Bilde der Schamhnftigkeit an der Thür stehen,

Nun, mein liebes Kind, sagte er, legen Sie Ihren Mantel ab, machen Sie
sichs bequem und lassen Sie uns dann ein verstündiges Wort mit einander
reden.

Sie legte gehorsam ihren weiten, häßlichen Mantel ab, ebenso den Hut mit
dem Schleier, den gestrickten Shawl, den sie um den Hals gewickelt trug, und
Eduard sah mit wachsendem Erstaunen und nicht ohne Verwirrung ein wunder¬
schön gewachsenes Figürchen sich entpuppen, dessen Bewegungen von den Grazien
vorgezeichnet zu sein schienen, dessen Gesicht das Gepräge der holdesten Unschuld
trug, dessen dunkelblaue Augen sanft und liebevoll blickten und dessen hochauf¬
gestecktes Haar vom schönsten Cendr« war, welches er in seinem Leben gesehen hatte,

Sie blieb schüchtern und mit gleichsam Verzeihung erbitterten Händen an
dem Stuhle stehen, auf den sie ihre Sachen gelegt hatte. Diese Hände waren
nicht ganz ohne die Spuren der Arbeit, aber Eduard hatte keine Mühe, zu ent¬
decken, daß sie von ebenso schöner Form waren wie der ganze übrige schlanke
und volle Körper.

Eduard war in bitterer Verlegenheit. Er dachte an Sylvia und war nicht
in Zweifel darüber, daß ein wohlerzogener Bräutigam ein fremdes schönes Mädchen
nicht in seine Wohnung aufnehmen dürfe. Doch ging es ihm gegen das Gefühl,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0428" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86549"/>
            <fw type="header" place="top"> Bakchen und Thyrsosträger,</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1785" prev="#ID_1784"> daß er seiner ganzen Länge nach auf das Trottoir fiel und kein Wort mehr<lb/>
sprach, sondern nur Blut ans Mund und Nase von sich gab.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1786"> Das Weib stürzte laut schimpfend und zeternd an die nächste Hausthür<lb/>
und begann zu läuten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1787"> Nun geschwind! sagte Eduard, zog den Arm des Mädchens durch den<lb/>
seinigen und eilte, so schnell es ihr Schritt gestattete, mit ihr davon. Nach<lb/>
langem Laufe und ganz entfernt von der Gegend, wo die Szene stattgefunden<lb/>
hatte, blieben sie athemlos stehen, und Ednard fragte, wohin er sie um be¬<lb/>
gleiten solle, unter welchem Obdach sie die Nacht zuzubringen gedenke.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1788"> Aber zu seiner Verwunderung und nicht eben zu seinem Vergnügen erklärte<lb/>
das junge Mädchen, daß es das selbst nicht wisse,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1789"> Sie war ganz und gar fremd in Berlin, hatte die Stadt nie gesehen, hatte<lb/>
dort weder einen Verwandten noch einen Bekannten, abgesehen von der alten<lb/>
garstigen Frau und den: karrirten Mann, der zu Boden geschlagen war,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1790"> Eduard geriet in große Verlegenheit, aber die sanfte, zaghafte Stimme des<lb/>
Mädchens, ihre Thränen und ihre augenscheinliche Hilflosigkeit flößten ihm so<lb/>
viel Mitleid ein, daß er alle Bedenken in den Wind schlug und sie gerades<lb/>
Weges nach seiner eignen Wohnung führte. Doch sprach er unterdessen kein<lb/>
Wort mehr, sondern überlegte nur, inwieweit er wohl weise gehandelt haben<lb/>
möchte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1791"> Das Mädchen ging stumm und mit gesenktem Kopf an seiner Seite, stieg<lb/>
hinter ihm die Treppe hinan und blieb, während Eduard die Hängelampe an¬<lb/>
zündete, gleich einem verhüllten Bilde der Schamhnftigkeit an der Thür stehen,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1792"> Nun, mein liebes Kind, sagte er, legen Sie Ihren Mantel ab, machen Sie<lb/>
sichs bequem und lassen Sie uns dann ein verstündiges Wort mit einander<lb/>
reden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1793"> Sie legte gehorsam ihren weiten, häßlichen Mantel ab, ebenso den Hut mit<lb/>
dem Schleier, den gestrickten Shawl, den sie um den Hals gewickelt trug, und<lb/>
Eduard sah mit wachsendem Erstaunen und nicht ohne Verwirrung ein wunder¬<lb/>
schön gewachsenes Figürchen sich entpuppen, dessen Bewegungen von den Grazien<lb/>
vorgezeichnet zu sein schienen, dessen Gesicht das Gepräge der holdesten Unschuld<lb/>
trug, dessen dunkelblaue Augen sanft und liebevoll blickten und dessen hochauf¬<lb/>
gestecktes Haar vom schönsten Cendr« war, welches er in seinem Leben gesehen hatte,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1794"> Sie blieb schüchtern und mit gleichsam Verzeihung erbitterten Händen an<lb/>
dem Stuhle stehen, auf den sie ihre Sachen gelegt hatte. Diese Hände waren<lb/>
nicht ganz ohne die Spuren der Arbeit, aber Eduard hatte keine Mühe, zu ent¬<lb/>
decken, daß sie von ebenso schöner Form waren wie der ganze übrige schlanke<lb/>
und volle Körper.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1795" next="#ID_1796"> Eduard war in bitterer Verlegenheit. Er dachte an Sylvia und war nicht<lb/>
in Zweifel darüber, daß ein wohlerzogener Bräutigam ein fremdes schönes Mädchen<lb/>
nicht in seine Wohnung aufnehmen dürfe. Doch ging es ihm gegen das Gefühl,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0428] Bakchen und Thyrsosträger, daß er seiner ganzen Länge nach auf das Trottoir fiel und kein Wort mehr sprach, sondern nur Blut ans Mund und Nase von sich gab. Das Weib stürzte laut schimpfend und zeternd an die nächste Hausthür und begann zu läuten. Nun geschwind! sagte Eduard, zog den Arm des Mädchens durch den seinigen und eilte, so schnell es ihr Schritt gestattete, mit ihr davon. Nach langem Laufe und ganz entfernt von der Gegend, wo die Szene stattgefunden hatte, blieben sie athemlos stehen, und Ednard fragte, wohin er sie um be¬ gleiten solle, unter welchem Obdach sie die Nacht zuzubringen gedenke. Aber zu seiner Verwunderung und nicht eben zu seinem Vergnügen erklärte das junge Mädchen, daß es das selbst nicht wisse, Sie war ganz und gar fremd in Berlin, hatte die Stadt nie gesehen, hatte dort weder einen Verwandten noch einen Bekannten, abgesehen von der alten garstigen Frau und den: karrirten Mann, der zu Boden geschlagen war, Eduard geriet in große Verlegenheit, aber die sanfte, zaghafte Stimme des Mädchens, ihre Thränen und ihre augenscheinliche Hilflosigkeit flößten ihm so viel Mitleid ein, daß er alle Bedenken in den Wind schlug und sie gerades Weges nach seiner eignen Wohnung führte. Doch sprach er unterdessen kein Wort mehr, sondern überlegte nur, inwieweit er wohl weise gehandelt haben möchte. Das Mädchen ging stumm und mit gesenktem Kopf an seiner Seite, stieg hinter ihm die Treppe hinan und blieb, während Eduard die Hängelampe an¬ zündete, gleich einem verhüllten Bilde der Schamhnftigkeit an der Thür stehen, Nun, mein liebes Kind, sagte er, legen Sie Ihren Mantel ab, machen Sie sichs bequem und lassen Sie uns dann ein verstündiges Wort mit einander reden. Sie legte gehorsam ihren weiten, häßlichen Mantel ab, ebenso den Hut mit dem Schleier, den gestrickten Shawl, den sie um den Hals gewickelt trug, und Eduard sah mit wachsendem Erstaunen und nicht ohne Verwirrung ein wunder¬ schön gewachsenes Figürchen sich entpuppen, dessen Bewegungen von den Grazien vorgezeichnet zu sein schienen, dessen Gesicht das Gepräge der holdesten Unschuld trug, dessen dunkelblaue Augen sanft und liebevoll blickten und dessen hochauf¬ gestecktes Haar vom schönsten Cendr« war, welches er in seinem Leben gesehen hatte, Sie blieb schüchtern und mit gleichsam Verzeihung erbitterten Händen an dem Stuhle stehen, auf den sie ihre Sachen gelegt hatte. Diese Hände waren nicht ganz ohne die Spuren der Arbeit, aber Eduard hatte keine Mühe, zu ent¬ decken, daß sie von ebenso schöner Form waren wie der ganze übrige schlanke und volle Körper. Eduard war in bitterer Verlegenheit. Er dachte an Sylvia und war nicht in Zweifel darüber, daß ein wohlerzogener Bräutigam ein fremdes schönes Mädchen nicht in seine Wohnung aufnehmen dürfe. Doch ging es ihm gegen das Gefühl,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/428
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/428>, abgerufen am 29.06.2024.