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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Herrn Meyers Rinder.

tiger wird er. Jemehr du die Schenkel durch Laufen übst, desto stärker werden
sie. Ich glaube, daß es mit den geistigen Kräften ebenso ist wie mit den
körperlichen: daß sie nämlich durch Übung erstarken. Wer tüchtig lernt, der
stärkt sein Gedächtnis; wer viel handelt, stärkt seinen Scharfsinn. So, glaube
ich, wird auch der Eigensinn gestärkt, wenn er viel geübt wird. Denn er ist
doch wohl nichts anderes als fester Wille.

Was soll man aber machen? fragte Herr Meyer. Soll man die Kinder
verziehen?

Man soll ihnen, wie ich denke, die Gelegenheiten aus dem Wege räumen,
welche ihnen Übung in den schlechten Eigenschaften verschaffen würden, und
man soll ihnen Gelegenheit gebe", die guten auszubilden. Dazu muß man
vor allem genau beobachten, welchen Charakter und welche Talente ein Kind hat.

Ach was! rief Herr Meyer, das wären mir schone Grundsätze! Die Päda¬
gogen, mit denen ich mich über die Erziehung unterhalten habe, sind überein¬
stimmend der Ansicht, daß das Kind, wenn es geboren wird, tabula raLÄ ist,
ein unbeschriebenes Blatt Papier, und daß die Eltern und Lehrer einen nach
bestimmten wissenschaftlichen Grundsätzen aufgestellten Erziehungsplan verfolgen
müssen, um aus dem Kinde etwas zu machen. Die Erziehung thut alles, die
Kinder sind von Natur einander völlig gleich.

Da wundert mich's nur, sagte ich kopfschüttelnd, daß deine zwölf Kinder
so sehr von einander verschieden sind. --

Durch lange und vielfältige 'Beobachtungen bin ich mehr und mehr zu
der Überzeugung gelangt, daß Herr Meyer und die ihm befreundeten Päda¬
gogen nicht ganz Recht haben, daß die Natur etwas mehr thue, als jene
meinen; daß sie nicht ein Kind wie das andere bilde, sondern daß sie an den wer¬
denden Menschen mit derselben Liebe zur Abwechselung arbeite wie an den
werdenden Pflanzen und Blättern, die zwar auch alle einander ähnlich, aber
doch auch alle von einander verschieden sind.

Ich habe oft die Wahrnehmung gemacht, daß die erwachsenen Leute noch
ganz dieselben Menschen sind, die sie als Kinder waren, sowohl was den Cha¬
rakter als auch was die Talente betrifft, nur mit dem Unterschiede, daß sie
ausgebildet haben, was vor Zeiten nur ein Keim war. Ich habe gesehen, daß
ein Kind von beschränktem Verstände auch beim besten Unterrichte doch kein
scharfer Kopf wurde, ebenso wenig wie ein von Natur gewecktes Kind jemals
dumm ward, nußer etwa durch eine Krankheit. Die guten Musiker, welche
ich keimen gelernt habe, versicherten mir alle, daß sie schon in der Jugend
Neigung zur Musik gehabt hätten, und die großen Maler hatten, wie ich er¬
fuhr, alle schou als Kinder eine Passion für Stift und Papier gehabt. Ich
las, daß Goethe schon auf der Schule Verse gemacht, Platen mit zwanzig
Jahren eine Schrift voll der tiefsten Lebensweisheit verfaßt, Mozart mit sechs
Jahren komponirt habe. Die guten Geschäftsleute, welche ich kenne, haben


Herrn Meyers Rinder.

tiger wird er. Jemehr du die Schenkel durch Laufen übst, desto stärker werden
sie. Ich glaube, daß es mit den geistigen Kräften ebenso ist wie mit den
körperlichen: daß sie nämlich durch Übung erstarken. Wer tüchtig lernt, der
stärkt sein Gedächtnis; wer viel handelt, stärkt seinen Scharfsinn. So, glaube
ich, wird auch der Eigensinn gestärkt, wenn er viel geübt wird. Denn er ist
doch wohl nichts anderes als fester Wille.

Was soll man aber machen? fragte Herr Meyer. Soll man die Kinder
verziehen?

Man soll ihnen, wie ich denke, die Gelegenheiten aus dem Wege räumen,
welche ihnen Übung in den schlechten Eigenschaften verschaffen würden, und
man soll ihnen Gelegenheit gebe», die guten auszubilden. Dazu muß man
vor allem genau beobachten, welchen Charakter und welche Talente ein Kind hat.

Ach was! rief Herr Meyer, das wären mir schone Grundsätze! Die Päda¬
gogen, mit denen ich mich über die Erziehung unterhalten habe, sind überein¬
stimmend der Ansicht, daß das Kind, wenn es geboren wird, tabula raLÄ ist,
ein unbeschriebenes Blatt Papier, und daß die Eltern und Lehrer einen nach
bestimmten wissenschaftlichen Grundsätzen aufgestellten Erziehungsplan verfolgen
müssen, um aus dem Kinde etwas zu machen. Die Erziehung thut alles, die
Kinder sind von Natur einander völlig gleich.

Da wundert mich's nur, sagte ich kopfschüttelnd, daß deine zwölf Kinder
so sehr von einander verschieden sind. —

Durch lange und vielfältige 'Beobachtungen bin ich mehr und mehr zu
der Überzeugung gelangt, daß Herr Meyer und die ihm befreundeten Päda¬
gogen nicht ganz Recht haben, daß die Natur etwas mehr thue, als jene
meinen; daß sie nicht ein Kind wie das andere bilde, sondern daß sie an den wer¬
denden Menschen mit derselben Liebe zur Abwechselung arbeite wie an den
werdenden Pflanzen und Blättern, die zwar auch alle einander ähnlich, aber
doch auch alle von einander verschieden sind.

Ich habe oft die Wahrnehmung gemacht, daß die erwachsenen Leute noch
ganz dieselben Menschen sind, die sie als Kinder waren, sowohl was den Cha¬
rakter als auch was die Talente betrifft, nur mit dem Unterschiede, daß sie
ausgebildet haben, was vor Zeiten nur ein Keim war. Ich habe gesehen, daß
ein Kind von beschränktem Verstände auch beim besten Unterrichte doch kein
scharfer Kopf wurde, ebenso wenig wie ein von Natur gewecktes Kind jemals
dumm ward, nußer etwa durch eine Krankheit. Die guten Musiker, welche
ich keimen gelernt habe, versicherten mir alle, daß sie schon in der Jugend
Neigung zur Musik gehabt hätten, und die großen Maler hatten, wie ich er¬
fuhr, alle schou als Kinder eine Passion für Stift und Papier gehabt. Ich
las, daß Goethe schon auf der Schule Verse gemacht, Platen mit zwanzig
Jahren eine Schrift voll der tiefsten Lebensweisheit verfaßt, Mozart mit sechs
Jahren komponirt habe. Die guten Geschäftsleute, welche ich kenne, haben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/415>, abgerufen am 28.09.2024.