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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Zukunft dos deutschen Dramas.

sie doch, sobald er sich für einen geschichtlichen Stoff lebhaft erwärmt, in festen
Zügen Plastisch vor sein Auge; ihr Bild strahlt ihm aus dem Spiegel ihrer
Handlungen zurück, während er im andern Falle diesen Spiegel erst selbst kon-
struiren muß und Gefahr läuft, ein verschwommenes Bild zu erhalten. Doch
damit ist nichts anderes bewiesen als abermals die Schiefheit des Vor¬
wurfs, daß für die höchste dichterische Kraft ein modern-sozialer Stoff zu
leicht sei.

Stichhaltiger möchte ein andrer Einwurf sein. Moderne Charaktere füllt
der Dichter ganz und gar mit seinem eignen Leben; mehr als sonst hat er Anlaß,
den Zeitgenossen sein gesäumtes Denken und Empfinden, künstlerisch gestaltet,
vorzuführen. Nun aber kreuzen sich gegenwärtig mit den verschiedenste,? Prin¬
zipien der Weltanschauung auch die verschiedensten Prinzipien sür die Wert¬
schätzung menschlicher Handlungen. Auf den meisten Punkten, wo ein Konflikt
der Rechte individueller Überzeugung mit dein allgemeinen Moralgesetze beginnt,
tobt heute ein lebhafter, verwirrender Kampf. Und doch soll im Künstlerwerke
alles unbefangen, d. h. tendenziös aussehen. Es ist kaum möglich, eine Partei
nicht zu verletzen, wenn man nicht ganz auf der Oberfläche schwimmen will.
Die verletzte aber erhebt sogleich die Anklage der Tendenzmacherei und nimmt
den andern die wünschenswerte Unbefangenheit, aus der heraus allein ein rich¬
tiges Urteil möglich ist.

Diesem schwersten Hemmnis einer gesunden Entfaltung des dichterischen
Talentes läßt sich nichts andres an die Seite stellen. Trotzdem ist es falsch,
an der Zukunft einer nationalen modernen Dramatik zu verzweifeln. Durch
den politischen Zusammenschluß der deutschen Stämme ist wenigstens die Bahn
gebrochen zu einer nationalen Bildung der deutschen Gesellschaft. Wie der
französische Dramatiker schon seit lauge, so wird, wir können es hoffen, auch
der deutsche in Zukunft gestellt sein. Möchte er alsdann nur immer verstehen,
sich von der wohlfeilen und im tiefsten Kern unsittlichen Lösung dramatischer
Konflikte fernzuhalten, die uns hindert, an so manchem bedeutenden Werke
moderner französischer Dramatik eine reine Freude zu haben!




Die Zukunft dos deutschen Dramas.

sie doch, sobald er sich für einen geschichtlichen Stoff lebhaft erwärmt, in festen
Zügen Plastisch vor sein Auge; ihr Bild strahlt ihm aus dem Spiegel ihrer
Handlungen zurück, während er im andern Falle diesen Spiegel erst selbst kon-
struiren muß und Gefahr läuft, ein verschwommenes Bild zu erhalten. Doch
damit ist nichts anderes bewiesen als abermals die Schiefheit des Vor¬
wurfs, daß für die höchste dichterische Kraft ein modern-sozialer Stoff zu
leicht sei.

Stichhaltiger möchte ein andrer Einwurf sein. Moderne Charaktere füllt
der Dichter ganz und gar mit seinem eignen Leben; mehr als sonst hat er Anlaß,
den Zeitgenossen sein gesäumtes Denken und Empfinden, künstlerisch gestaltet,
vorzuführen. Nun aber kreuzen sich gegenwärtig mit den verschiedenste,? Prin¬
zipien der Weltanschauung auch die verschiedensten Prinzipien sür die Wert¬
schätzung menschlicher Handlungen. Auf den meisten Punkten, wo ein Konflikt
der Rechte individueller Überzeugung mit dein allgemeinen Moralgesetze beginnt,
tobt heute ein lebhafter, verwirrender Kampf. Und doch soll im Künstlerwerke
alles unbefangen, d. h. tendenziös aussehen. Es ist kaum möglich, eine Partei
nicht zu verletzen, wenn man nicht ganz auf der Oberfläche schwimmen will.
Die verletzte aber erhebt sogleich die Anklage der Tendenzmacherei und nimmt
den andern die wünschenswerte Unbefangenheit, aus der heraus allein ein rich¬
tiges Urteil möglich ist.

Diesem schwersten Hemmnis einer gesunden Entfaltung des dichterischen
Talentes läßt sich nichts andres an die Seite stellen. Trotzdem ist es falsch,
an der Zukunft einer nationalen modernen Dramatik zu verzweifeln. Durch
den politischen Zusammenschluß der deutschen Stämme ist wenigstens die Bahn
gebrochen zu einer nationalen Bildung der deutschen Gesellschaft. Wie der
französische Dramatiker schon seit lauge, so wird, wir können es hoffen, auch
der deutsche in Zukunft gestellt sein. Möchte er alsdann nur immer verstehen,
sich von der wohlfeilen und im tiefsten Kern unsittlichen Lösung dramatischer
Konflikte fernzuhalten, die uns hindert, an so manchem bedeutenden Werke
moderner französischer Dramatik eine reine Freude zu haben!




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[0394] Die Zukunft dos deutschen Dramas. sie doch, sobald er sich für einen geschichtlichen Stoff lebhaft erwärmt, in festen Zügen Plastisch vor sein Auge; ihr Bild strahlt ihm aus dem Spiegel ihrer Handlungen zurück, während er im andern Falle diesen Spiegel erst selbst kon- struiren muß und Gefahr läuft, ein verschwommenes Bild zu erhalten. Doch damit ist nichts anderes bewiesen als abermals die Schiefheit des Vor¬ wurfs, daß für die höchste dichterische Kraft ein modern-sozialer Stoff zu leicht sei. Stichhaltiger möchte ein andrer Einwurf sein. Moderne Charaktere füllt der Dichter ganz und gar mit seinem eignen Leben; mehr als sonst hat er Anlaß, den Zeitgenossen sein gesäumtes Denken und Empfinden, künstlerisch gestaltet, vorzuführen. Nun aber kreuzen sich gegenwärtig mit den verschiedenste,? Prin¬ zipien der Weltanschauung auch die verschiedensten Prinzipien sür die Wert¬ schätzung menschlicher Handlungen. Auf den meisten Punkten, wo ein Konflikt der Rechte individueller Überzeugung mit dein allgemeinen Moralgesetze beginnt, tobt heute ein lebhafter, verwirrender Kampf. Und doch soll im Künstlerwerke alles unbefangen, d. h. tendenziös aussehen. Es ist kaum möglich, eine Partei nicht zu verletzen, wenn man nicht ganz auf der Oberfläche schwimmen will. Die verletzte aber erhebt sogleich die Anklage der Tendenzmacherei und nimmt den andern die wünschenswerte Unbefangenheit, aus der heraus allein ein rich¬ tiges Urteil möglich ist. Diesem schwersten Hemmnis einer gesunden Entfaltung des dichterischen Talentes läßt sich nichts andres an die Seite stellen. Trotzdem ist es falsch, an der Zukunft einer nationalen modernen Dramatik zu verzweifeln. Durch den politischen Zusammenschluß der deutschen Stämme ist wenigstens die Bahn gebrochen zu einer nationalen Bildung der deutschen Gesellschaft. Wie der französische Dramatiker schon seit lauge, so wird, wir können es hoffen, auch der deutsche in Zukunft gestellt sein. Möchte er alsdann nur immer verstehen, sich von der wohlfeilen und im tiefsten Kern unsittlichen Lösung dramatischer Konflikte fernzuhalten, die uns hindert, an so manchem bedeutenden Werke moderner französischer Dramatik eine reine Freude zu haben!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/394>, abgerufen am 29.06.2024.