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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Zukunft des deutschen Dramas.

auf weiten Umkreis geschildert wird, wo Volksszenen auf der einen, intime Zwie¬
gespräche auf der andern Seite unvermeidlich sind, da wird mau am Eude einen
öfteren Szenenwechsel ruhiger hinnehmen. Bei frei erfundenen modernen Stoffen
fällt jeder Anlaß hinweg.

In jedem Falle wird es sich darum handeln, wie das Werden der be¬
treffenden Aktion und ihre Rückwirkung am deutlichsten und eindringlichsten ver¬
verausch änlich t werden kann. Demnach wird sich -- obwohl der Schwerpunkt
des Stückes nicht in die Charaktere, sondern in die Handlung gelegt werden
muß -- die szenische Konstruktion wesentlich nach den dargestellten Charakteren
richten müssen. Lebhafte, willensstarke und entschlossene Menschen handeln so¬
zusagen in einem rascheren und wechselreicheren Tempo als Hamletnaturen.
Deshalb wird der Dichter bei jenen die Motive energisch gruppiren, ihre Wir¬
kung schneller hervortreten lassen; es sind reich bewegte, lebhaft kontmstircnde
Szenen fast unumgänglich und immer von durchgreifender Gewalt. Der moderne
Zuschauer will aber, seiner größeren Innerlichkeit, seinem ausgebildeten Em-
pfindungsleben entsprechend, auch eine sorgfältige Motivirung, und deshalb mögen,
in den ersten Akten besonders, einige große, komplizirt gebaute, vielseitig an¬
regende Szenen am Platze sein. Dieselben befriedigen zugleich das Interesse
an gewandter Technik und erwecken eine auch dem dichterischen Inhalt günstige
geistige Spannung. Andrerseits ist es gewiß nicht zu unterschätzen, daß der
moderne Zuschauer, seiner reflektirenden Geistesrichtung wegen, manche Wirkung
und Rückwirkung sich selbst ausmalt und dem Dichter dadurch die Arbeit er¬
leichtert, indem er ihm Raum und Zeit giebt, umso verschiedenere Accorde an¬
zuschlagen.

Ein historisches Drama im eigentlichen Sinne findet schon an dem modernen
Verlangen nach vielseitiger, tiefer Motivirung ein schwer übersteigliches Hindernis.
Will man, um Raum zu gewinnen, und zugleich um deu im Grunde stets
epischen Stoff in einen dramatischen zu verwandeln, alles Geschehende direkt
vom Spieler und Gegenspieler ausgehen lassen, so macht man die ganze An¬
gelegenheit zu einer rein persönlichen und drückt die weltgeschichtliche Bedeutung
des Vorganges zum Range einer Dekoration hinab. Und dasselbe ist in noch
höherem Grade der Fall, wenn etwa bloß eine mit den weltgeschichtlichen Vor¬
gängen nur äußerlich verknüpfte Episode aus dem Leben des Helden dargestellt
wird. Immer würde sich dann das Historische viel besser verwerten lassen, wenn
der Stoff in epische Form gegossen, anstatt in dramatische gezwängt würde.

Eins allerdings ließe sich mit dem Anschein der Berechtigung einwenden.
Wenn der Dichter seine Figuren aus sich selbst erschafft, wenn er sie in seinem
Bewußtsein allmählich Gestalt gewinnen sieht, so steht er ihnen am Ende viel
unfreier gegenüber, als wenn sie plötzlich, fix und fertig, aus der Dämmerung
historischer Vergangenheit vor ihm auftauchen. Denn obwohl er die Charaktere
selten ganz so brauchen kann, wie die Überlieferung sie ihm geschildert, so treten


Grenzboten I. 1882. 49
Die Zukunft des deutschen Dramas.

auf weiten Umkreis geschildert wird, wo Volksszenen auf der einen, intime Zwie¬
gespräche auf der andern Seite unvermeidlich sind, da wird mau am Eude einen
öfteren Szenenwechsel ruhiger hinnehmen. Bei frei erfundenen modernen Stoffen
fällt jeder Anlaß hinweg.

In jedem Falle wird es sich darum handeln, wie das Werden der be¬
treffenden Aktion und ihre Rückwirkung am deutlichsten und eindringlichsten ver¬
verausch änlich t werden kann. Demnach wird sich — obwohl der Schwerpunkt
des Stückes nicht in die Charaktere, sondern in die Handlung gelegt werden
muß — die szenische Konstruktion wesentlich nach den dargestellten Charakteren
richten müssen. Lebhafte, willensstarke und entschlossene Menschen handeln so¬
zusagen in einem rascheren und wechselreicheren Tempo als Hamletnaturen.
Deshalb wird der Dichter bei jenen die Motive energisch gruppiren, ihre Wir¬
kung schneller hervortreten lassen; es sind reich bewegte, lebhaft kontmstircnde
Szenen fast unumgänglich und immer von durchgreifender Gewalt. Der moderne
Zuschauer will aber, seiner größeren Innerlichkeit, seinem ausgebildeten Em-
pfindungsleben entsprechend, auch eine sorgfältige Motivirung, und deshalb mögen,
in den ersten Akten besonders, einige große, komplizirt gebaute, vielseitig an¬
regende Szenen am Platze sein. Dieselben befriedigen zugleich das Interesse
an gewandter Technik und erwecken eine auch dem dichterischen Inhalt günstige
geistige Spannung. Andrerseits ist es gewiß nicht zu unterschätzen, daß der
moderne Zuschauer, seiner reflektirenden Geistesrichtung wegen, manche Wirkung
und Rückwirkung sich selbst ausmalt und dem Dichter dadurch die Arbeit er¬
leichtert, indem er ihm Raum und Zeit giebt, umso verschiedenere Accorde an¬
zuschlagen.

Ein historisches Drama im eigentlichen Sinne findet schon an dem modernen
Verlangen nach vielseitiger, tiefer Motivirung ein schwer übersteigliches Hindernis.
Will man, um Raum zu gewinnen, und zugleich um deu im Grunde stets
epischen Stoff in einen dramatischen zu verwandeln, alles Geschehende direkt
vom Spieler und Gegenspieler ausgehen lassen, so macht man die ganze An¬
gelegenheit zu einer rein persönlichen und drückt die weltgeschichtliche Bedeutung
des Vorganges zum Range einer Dekoration hinab. Und dasselbe ist in noch
höherem Grade der Fall, wenn etwa bloß eine mit den weltgeschichtlichen Vor¬
gängen nur äußerlich verknüpfte Episode aus dem Leben des Helden dargestellt
wird. Immer würde sich dann das Historische viel besser verwerten lassen, wenn
der Stoff in epische Form gegossen, anstatt in dramatische gezwängt würde.

Eins allerdings ließe sich mit dem Anschein der Berechtigung einwenden.
Wenn der Dichter seine Figuren aus sich selbst erschafft, wenn er sie in seinem
Bewußtsein allmählich Gestalt gewinnen sieht, so steht er ihnen am Ende viel
unfreier gegenüber, als wenn sie plötzlich, fix und fertig, aus der Dämmerung
historischer Vergangenheit vor ihm auftauchen. Denn obwohl er die Charaktere
selten ganz so brauchen kann, wie die Überlieferung sie ihm geschildert, so treten


Grenzboten I. 1882. 49
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[0393] Die Zukunft des deutschen Dramas. auf weiten Umkreis geschildert wird, wo Volksszenen auf der einen, intime Zwie¬ gespräche auf der andern Seite unvermeidlich sind, da wird mau am Eude einen öfteren Szenenwechsel ruhiger hinnehmen. Bei frei erfundenen modernen Stoffen fällt jeder Anlaß hinweg. In jedem Falle wird es sich darum handeln, wie das Werden der be¬ treffenden Aktion und ihre Rückwirkung am deutlichsten und eindringlichsten ver¬ verausch änlich t werden kann. Demnach wird sich — obwohl der Schwerpunkt des Stückes nicht in die Charaktere, sondern in die Handlung gelegt werden muß — die szenische Konstruktion wesentlich nach den dargestellten Charakteren richten müssen. Lebhafte, willensstarke und entschlossene Menschen handeln so¬ zusagen in einem rascheren und wechselreicheren Tempo als Hamletnaturen. Deshalb wird der Dichter bei jenen die Motive energisch gruppiren, ihre Wir¬ kung schneller hervortreten lassen; es sind reich bewegte, lebhaft kontmstircnde Szenen fast unumgänglich und immer von durchgreifender Gewalt. Der moderne Zuschauer will aber, seiner größeren Innerlichkeit, seinem ausgebildeten Em- pfindungsleben entsprechend, auch eine sorgfältige Motivirung, und deshalb mögen, in den ersten Akten besonders, einige große, komplizirt gebaute, vielseitig an¬ regende Szenen am Platze sein. Dieselben befriedigen zugleich das Interesse an gewandter Technik und erwecken eine auch dem dichterischen Inhalt günstige geistige Spannung. Andrerseits ist es gewiß nicht zu unterschätzen, daß der moderne Zuschauer, seiner reflektirenden Geistesrichtung wegen, manche Wirkung und Rückwirkung sich selbst ausmalt und dem Dichter dadurch die Arbeit er¬ leichtert, indem er ihm Raum und Zeit giebt, umso verschiedenere Accorde an¬ zuschlagen. Ein historisches Drama im eigentlichen Sinne findet schon an dem modernen Verlangen nach vielseitiger, tiefer Motivirung ein schwer übersteigliches Hindernis. Will man, um Raum zu gewinnen, und zugleich um deu im Grunde stets epischen Stoff in einen dramatischen zu verwandeln, alles Geschehende direkt vom Spieler und Gegenspieler ausgehen lassen, so macht man die ganze An¬ gelegenheit zu einer rein persönlichen und drückt die weltgeschichtliche Bedeutung des Vorganges zum Range einer Dekoration hinab. Und dasselbe ist in noch höherem Grade der Fall, wenn etwa bloß eine mit den weltgeschichtlichen Vor¬ gängen nur äußerlich verknüpfte Episode aus dem Leben des Helden dargestellt wird. Immer würde sich dann das Historische viel besser verwerten lassen, wenn der Stoff in epische Form gegossen, anstatt in dramatische gezwängt würde. Eins allerdings ließe sich mit dem Anschein der Berechtigung einwenden. Wenn der Dichter seine Figuren aus sich selbst erschafft, wenn er sie in seinem Bewußtsein allmählich Gestalt gewinnen sieht, so steht er ihnen am Ende viel unfreier gegenüber, als wenn sie plötzlich, fix und fertig, aus der Dämmerung historischer Vergangenheit vor ihm auftauchen. Denn obwohl er die Charaktere selten ganz so brauchen kann, wie die Überlieferung sie ihm geschildert, so treten Grenzboten I. 1882. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/393>, abgerufen am 29.06.2024.