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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Zukunft des deutschen Dramas.

eines edeln, den höchsten Interessen der Menschheit zugewendeten Daseins sind
für so weite Kreise Bedürfnis geworden, daß eine Vertreibung aus diesem Para¬
diese uns nicht weniger schmerzlich dünkt als der Verlust eines Königreichs.

Nur möge man sich hüten, die Sache leicht zu nehmen! Unter Hinweis
auf die höchste" Aufgaben der Kunst, aus deren Erfüllung ihr allein das An¬
recht auf den Ehrenplatz im Kreise menschlicher Interessen erwächst, müssen wir
von der bürgerlichen Dramatik verlange", daß sie erstens individuelle Charaktere
liefere und diese mit der ganzen Tiefe und Feinheit der Empfindung darstelle,
deren ein moderner Mensch fähig ist; daß sie zweitens im Auge behalte, daß
ein künstlerisches Gebilde mehr als eine getreue Nachahmung der Natur, daß es
individuell und typisch zugleich sein soll und auch immer sein muß, wenn die
dargestellte Persönlichkeit gründlich in all ihren Beziehungen und treibenden
Kräfte" erfaßt wird. Nicht ohne tiefe Benachteiligung seines Werkes wird der
dramatische Dichter seinen Figuren dies unscheinbare Hinanswachsen aus den
Grenzen des Individuellen verkümmern; er drückt seine eigne Leistung dadurch
zu einem kurzlebigen Tagesereignis hinab. In mühelos von der Straße auf¬
gelesenen Vorkommnissen und mit leichtem Salvngeplauder die Konflikte der mo¬
dernen Gesellschaft kiinstlerisch darstelle" zu wollen, heißt mit Pistolen nach den
Sternen schießen.

Endlich noch ein Wort von der Technik, von der dramatischen Form, von
der Führung der Handlung, von dem Aufbau der Szenen. Seit die Dramatik
Shakespeares im Gegensatz zu den aristotelische" Überlieferungen die volle Un-
gebundenheit an Zeit und Ort lehrte, ist es bei uns bis in die neueste Zeit
herein Sitte gewesen, die Kvnzentrirung der Handlung auf einen einzigen Schau¬
platz, wie überhaupt die sorgsame Vermeidung jedes irgend entbehrlichen Ein-
schnitts i" das szenische Gefüge als Pedanterie und unwürdige Beschränkung
des freien dichterischen Fluges zu bezeichnen. Die starke Dichterkraft des Britten
vermag freilich unser Interesse trotz aller Zersplitterung stets wieder, wo es
not thut, auf die Hauptsache hinzulenken und zu sammeln. Und doch wirken
auch die Shakespearischen Dramen um so stärker auf uns, je weniger sie an
jener Zersplitterung leide", wie jeder ein sich erleben kann, wenn er eine leidlich
geschickte Bearbeitung derselben an sich vorbeigehen sieht. Für die Bedürfnisse
der modernen Bühne heißt die Parole: entschiedener Bruch mit der Technik
Shakespeares. Aus dem Wesen des Dramas selbst, das nach Frehtags treffender
Definition das Werden einer Aktion und ihre Folgen auf das Gemüt darstellen
'will, läßt sich kein Grund für eine Vielheit der Zeit und des Ortes entwickeln.
Was aber die aus der Natur einzelner Stoffe etwa hervortretenden Zweckmäßig¬
keitsgründe betrifft, so möge man des alten gefährlich zu umgehenden Kunst¬
gesetzes eingedenk sein, daß zur Erreichung eines bestimmten Zwecks möglichst
kleine Mittel aufgeboten werden müssen, wenn anders der Eindruck des Unschönen
vermieden werden soll. Wo in einer Historie der Rückschlag des Geschehenen


Die Zukunft des deutschen Dramas.

eines edeln, den höchsten Interessen der Menschheit zugewendeten Daseins sind
für so weite Kreise Bedürfnis geworden, daß eine Vertreibung aus diesem Para¬
diese uns nicht weniger schmerzlich dünkt als der Verlust eines Königreichs.

Nur möge man sich hüten, die Sache leicht zu nehmen! Unter Hinweis
auf die höchste» Aufgaben der Kunst, aus deren Erfüllung ihr allein das An¬
recht auf den Ehrenplatz im Kreise menschlicher Interessen erwächst, müssen wir
von der bürgerlichen Dramatik verlange», daß sie erstens individuelle Charaktere
liefere und diese mit der ganzen Tiefe und Feinheit der Empfindung darstelle,
deren ein moderner Mensch fähig ist; daß sie zweitens im Auge behalte, daß
ein künstlerisches Gebilde mehr als eine getreue Nachahmung der Natur, daß es
individuell und typisch zugleich sein soll und auch immer sein muß, wenn die
dargestellte Persönlichkeit gründlich in all ihren Beziehungen und treibenden
Kräfte» erfaßt wird. Nicht ohne tiefe Benachteiligung seines Werkes wird der
dramatische Dichter seinen Figuren dies unscheinbare Hinanswachsen aus den
Grenzen des Individuellen verkümmern; er drückt seine eigne Leistung dadurch
zu einem kurzlebigen Tagesereignis hinab. In mühelos von der Straße auf¬
gelesenen Vorkommnissen und mit leichtem Salvngeplauder die Konflikte der mo¬
dernen Gesellschaft kiinstlerisch darstelle» zu wollen, heißt mit Pistolen nach den
Sternen schießen.

Endlich noch ein Wort von der Technik, von der dramatischen Form, von
der Führung der Handlung, von dem Aufbau der Szenen. Seit die Dramatik
Shakespeares im Gegensatz zu den aristotelische» Überlieferungen die volle Un-
gebundenheit an Zeit und Ort lehrte, ist es bei uns bis in die neueste Zeit
herein Sitte gewesen, die Kvnzentrirung der Handlung auf einen einzigen Schau¬
platz, wie überhaupt die sorgsame Vermeidung jedes irgend entbehrlichen Ein-
schnitts i» das szenische Gefüge als Pedanterie und unwürdige Beschränkung
des freien dichterischen Fluges zu bezeichnen. Die starke Dichterkraft des Britten
vermag freilich unser Interesse trotz aller Zersplitterung stets wieder, wo es
not thut, auf die Hauptsache hinzulenken und zu sammeln. Und doch wirken
auch die Shakespearischen Dramen um so stärker auf uns, je weniger sie an
jener Zersplitterung leide», wie jeder ein sich erleben kann, wenn er eine leidlich
geschickte Bearbeitung derselben an sich vorbeigehen sieht. Für die Bedürfnisse
der modernen Bühne heißt die Parole: entschiedener Bruch mit der Technik
Shakespeares. Aus dem Wesen des Dramas selbst, das nach Frehtags treffender
Definition das Werden einer Aktion und ihre Folgen auf das Gemüt darstellen
'will, läßt sich kein Grund für eine Vielheit der Zeit und des Ortes entwickeln.
Was aber die aus der Natur einzelner Stoffe etwa hervortretenden Zweckmäßig¬
keitsgründe betrifft, so möge man des alten gefährlich zu umgehenden Kunst¬
gesetzes eingedenk sein, daß zur Erreichung eines bestimmten Zwecks möglichst
kleine Mittel aufgeboten werden müssen, wenn anders der Eindruck des Unschönen
vermieden werden soll. Wo in einer Historie der Rückschlag des Geschehenen


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[0392] Die Zukunft des deutschen Dramas. eines edeln, den höchsten Interessen der Menschheit zugewendeten Daseins sind für so weite Kreise Bedürfnis geworden, daß eine Vertreibung aus diesem Para¬ diese uns nicht weniger schmerzlich dünkt als der Verlust eines Königreichs. Nur möge man sich hüten, die Sache leicht zu nehmen! Unter Hinweis auf die höchste» Aufgaben der Kunst, aus deren Erfüllung ihr allein das An¬ recht auf den Ehrenplatz im Kreise menschlicher Interessen erwächst, müssen wir von der bürgerlichen Dramatik verlange», daß sie erstens individuelle Charaktere liefere und diese mit der ganzen Tiefe und Feinheit der Empfindung darstelle, deren ein moderner Mensch fähig ist; daß sie zweitens im Auge behalte, daß ein künstlerisches Gebilde mehr als eine getreue Nachahmung der Natur, daß es individuell und typisch zugleich sein soll und auch immer sein muß, wenn die dargestellte Persönlichkeit gründlich in all ihren Beziehungen und treibenden Kräfte» erfaßt wird. Nicht ohne tiefe Benachteiligung seines Werkes wird der dramatische Dichter seinen Figuren dies unscheinbare Hinanswachsen aus den Grenzen des Individuellen verkümmern; er drückt seine eigne Leistung dadurch zu einem kurzlebigen Tagesereignis hinab. In mühelos von der Straße auf¬ gelesenen Vorkommnissen und mit leichtem Salvngeplauder die Konflikte der mo¬ dernen Gesellschaft kiinstlerisch darstelle» zu wollen, heißt mit Pistolen nach den Sternen schießen. Endlich noch ein Wort von der Technik, von der dramatischen Form, von der Führung der Handlung, von dem Aufbau der Szenen. Seit die Dramatik Shakespeares im Gegensatz zu den aristotelische» Überlieferungen die volle Un- gebundenheit an Zeit und Ort lehrte, ist es bei uns bis in die neueste Zeit herein Sitte gewesen, die Kvnzentrirung der Handlung auf einen einzigen Schau¬ platz, wie überhaupt die sorgsame Vermeidung jedes irgend entbehrlichen Ein- schnitts i» das szenische Gefüge als Pedanterie und unwürdige Beschränkung des freien dichterischen Fluges zu bezeichnen. Die starke Dichterkraft des Britten vermag freilich unser Interesse trotz aller Zersplitterung stets wieder, wo es not thut, auf die Hauptsache hinzulenken und zu sammeln. Und doch wirken auch die Shakespearischen Dramen um so stärker auf uns, je weniger sie an jener Zersplitterung leide», wie jeder ein sich erleben kann, wenn er eine leidlich geschickte Bearbeitung derselben an sich vorbeigehen sieht. Für die Bedürfnisse der modernen Bühne heißt die Parole: entschiedener Bruch mit der Technik Shakespeares. Aus dem Wesen des Dramas selbst, das nach Frehtags treffender Definition das Werden einer Aktion und ihre Folgen auf das Gemüt darstellen 'will, läßt sich kein Grund für eine Vielheit der Zeit und des Ortes entwickeln. Was aber die aus der Natur einzelner Stoffe etwa hervortretenden Zweckmäßig¬ keitsgründe betrifft, so möge man des alten gefährlich zu umgehenden Kunst¬ gesetzes eingedenk sein, daß zur Erreichung eines bestimmten Zwecks möglichst kleine Mittel aufgeboten werden müssen, wenn anders der Eindruck des Unschönen vermieden werden soll. Wo in einer Historie der Rückschlag des Geschehenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/392>, abgerufen am 29.06.2024.