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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Zukunft dos deutschen Dramas.

Selbstgefühl steigern, und mit innerlichem Kitzel sieht er sie auf der Bühne an
sich vorübergehen, sobald der Dichter ihm nur uicht absichtlich diese Freude
vergällt.

So zweifellos aber auch die Sympathie der Zeitgenossen dem historischen
Lustspiel sich in höherem Grade zuwendet als der historischen Tragödie, so kann
doch die dramatische Kunst ein lebensfähiges Ganzes auch in Zukunft erst dann
bilden, wenn durch das ernste Drama dem Lustspiel eine tiefere Auffassung und
eine richtige Stellung zu Teil wird. Der Stoff für das ernste Drama wird
aber für die nächste Zukunft kaum anderswo gefunden werden als in den sitt¬
lichen Konflikten des bürgerlichen Lebens. Ihre Motive liegen in der modernen
Gesellschaft, und diese Motive geben weder an Reichhaltigkeit, noch an Bedeutung
für den einzelnen Menschen, noch an Wichtigkeit für die menschliche Gesellschaft,
noch endlich an fesselnden Interesse den sujets der historischen Dramen das
geringste nach. Wenn auf dem Gebiete der letzteren ohne Zweifel nur einer
starken dichterischen Kraft Bleibendes gelingt, so wird andrerseits ein modern
sozialer Stoff sich durch dichterische Genialität sehr wohl in klassische Form um-
schmelzen und zu einem Kunstgebilde von tinvergänglichem Werte gestalten lassen.
Nicht allein daß jede hoch entwickelte Zivilisation reich an innern Gegensätzen,
an zwiespältigen und sich befehdenden Elementen ist; uicht uur, daß während
ihrer Dauer das Empfindungsleben immer reichhaltiger, die Reaktion der Seele
auf äußere Eindrücke immer feiner wird: dnrch die allgemeine Verbreitung ge¬
schichtlicher Kenntnisse und dnrch die Gewöhnung des Geistes an weiten Um-
blick wie an klare Einsicht in die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft
wird in weite Kreise das Bewußtsein getragen, daß das relativ Nichtige nicht
das absolut Wahre sei, daß Einrichtungen, Gesetze, Sitten zwar für das Ge¬
deihen der Gesammtheit unangefochten bleiben müssen, daß aber der Einzelne
unter Umständen unbeschadet seines sittlichen Selbstbewußtseins sich über das
zeitig Geltende hinwegsetzen darf, wenn er die Überzeugung von einer höheren,
allgemeineren Wahrheit in sich trügt. Der Drang, die eigne Persönlichkeit ohne
Zwang zu bethätigen, wird in demselben Grade unwiderstehlich, als der Einzelne
mit seinem Empfinden und Denken sich von der Allgemeinheit absondert. Kurz,
der Kampf zwischen subjektiver Berechtigung und objektivem Recht, zwischen in¬
dividuellem Bedürfnis und allgemeinem Gesetz wird keinem mehr erspart und
findet deshalb volles, leidenschaftliches Verständnis, so oft er uns auf der Bühne
an Menschen unseres Geistes und unserer Weltanschauung gezeigt wird. Darin
liegt denn zugleich die Abweisung eines hin und wieder ausgesprochenen Ver¬
dikts, als könne ein bürgerliches Drama sich hinsichtlich seines Eindrucks nie
mit dem historischen messen, weil, abgesehen von allem andern, seinem Helden
bei der Katastrophe die "Fallhöhe" fehle. Eine ehrenvolle Stellung in der
bürgerlichen Gesellschaft, thätige Teilnahme an allem, was die Zeit bewegt, vor
allem aber seelische Ruhe und harmonisches Empfindungsleben als Grundlage


Die Zukunft dos deutschen Dramas.

Selbstgefühl steigern, und mit innerlichem Kitzel sieht er sie auf der Bühne an
sich vorübergehen, sobald der Dichter ihm nur uicht absichtlich diese Freude
vergällt.

So zweifellos aber auch die Sympathie der Zeitgenossen dem historischen
Lustspiel sich in höherem Grade zuwendet als der historischen Tragödie, so kann
doch die dramatische Kunst ein lebensfähiges Ganzes auch in Zukunft erst dann
bilden, wenn durch das ernste Drama dem Lustspiel eine tiefere Auffassung und
eine richtige Stellung zu Teil wird. Der Stoff für das ernste Drama wird
aber für die nächste Zukunft kaum anderswo gefunden werden als in den sitt¬
lichen Konflikten des bürgerlichen Lebens. Ihre Motive liegen in der modernen
Gesellschaft, und diese Motive geben weder an Reichhaltigkeit, noch an Bedeutung
für den einzelnen Menschen, noch an Wichtigkeit für die menschliche Gesellschaft,
noch endlich an fesselnden Interesse den sujets der historischen Dramen das
geringste nach. Wenn auf dem Gebiete der letzteren ohne Zweifel nur einer
starken dichterischen Kraft Bleibendes gelingt, so wird andrerseits ein modern
sozialer Stoff sich durch dichterische Genialität sehr wohl in klassische Form um-
schmelzen und zu einem Kunstgebilde von tinvergänglichem Werte gestalten lassen.
Nicht allein daß jede hoch entwickelte Zivilisation reich an innern Gegensätzen,
an zwiespältigen und sich befehdenden Elementen ist; uicht uur, daß während
ihrer Dauer das Empfindungsleben immer reichhaltiger, die Reaktion der Seele
auf äußere Eindrücke immer feiner wird: dnrch die allgemeine Verbreitung ge¬
schichtlicher Kenntnisse und dnrch die Gewöhnung des Geistes an weiten Um-
blick wie an klare Einsicht in die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft
wird in weite Kreise das Bewußtsein getragen, daß das relativ Nichtige nicht
das absolut Wahre sei, daß Einrichtungen, Gesetze, Sitten zwar für das Ge¬
deihen der Gesammtheit unangefochten bleiben müssen, daß aber der Einzelne
unter Umständen unbeschadet seines sittlichen Selbstbewußtseins sich über das
zeitig Geltende hinwegsetzen darf, wenn er die Überzeugung von einer höheren,
allgemeineren Wahrheit in sich trügt. Der Drang, die eigne Persönlichkeit ohne
Zwang zu bethätigen, wird in demselben Grade unwiderstehlich, als der Einzelne
mit seinem Empfinden und Denken sich von der Allgemeinheit absondert. Kurz,
der Kampf zwischen subjektiver Berechtigung und objektivem Recht, zwischen in¬
dividuellem Bedürfnis und allgemeinem Gesetz wird keinem mehr erspart und
findet deshalb volles, leidenschaftliches Verständnis, so oft er uns auf der Bühne
an Menschen unseres Geistes und unserer Weltanschauung gezeigt wird. Darin
liegt denn zugleich die Abweisung eines hin und wieder ausgesprochenen Ver¬
dikts, als könne ein bürgerliches Drama sich hinsichtlich seines Eindrucks nie
mit dem historischen messen, weil, abgesehen von allem andern, seinem Helden
bei der Katastrophe die „Fallhöhe" fehle. Eine ehrenvolle Stellung in der
bürgerlichen Gesellschaft, thätige Teilnahme an allem, was die Zeit bewegt, vor
allem aber seelische Ruhe und harmonisches Empfindungsleben als Grundlage


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[0391] Die Zukunft dos deutschen Dramas. Selbstgefühl steigern, und mit innerlichem Kitzel sieht er sie auf der Bühne an sich vorübergehen, sobald der Dichter ihm nur uicht absichtlich diese Freude vergällt. So zweifellos aber auch die Sympathie der Zeitgenossen dem historischen Lustspiel sich in höherem Grade zuwendet als der historischen Tragödie, so kann doch die dramatische Kunst ein lebensfähiges Ganzes auch in Zukunft erst dann bilden, wenn durch das ernste Drama dem Lustspiel eine tiefere Auffassung und eine richtige Stellung zu Teil wird. Der Stoff für das ernste Drama wird aber für die nächste Zukunft kaum anderswo gefunden werden als in den sitt¬ lichen Konflikten des bürgerlichen Lebens. Ihre Motive liegen in der modernen Gesellschaft, und diese Motive geben weder an Reichhaltigkeit, noch an Bedeutung für den einzelnen Menschen, noch an Wichtigkeit für die menschliche Gesellschaft, noch endlich an fesselnden Interesse den sujets der historischen Dramen das geringste nach. Wenn auf dem Gebiete der letzteren ohne Zweifel nur einer starken dichterischen Kraft Bleibendes gelingt, so wird andrerseits ein modern sozialer Stoff sich durch dichterische Genialität sehr wohl in klassische Form um- schmelzen und zu einem Kunstgebilde von tinvergänglichem Werte gestalten lassen. Nicht allein daß jede hoch entwickelte Zivilisation reich an innern Gegensätzen, an zwiespältigen und sich befehdenden Elementen ist; uicht uur, daß während ihrer Dauer das Empfindungsleben immer reichhaltiger, die Reaktion der Seele auf äußere Eindrücke immer feiner wird: dnrch die allgemeine Verbreitung ge¬ schichtlicher Kenntnisse und dnrch die Gewöhnung des Geistes an weiten Um- blick wie an klare Einsicht in die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft wird in weite Kreise das Bewußtsein getragen, daß das relativ Nichtige nicht das absolut Wahre sei, daß Einrichtungen, Gesetze, Sitten zwar für das Ge¬ deihen der Gesammtheit unangefochten bleiben müssen, daß aber der Einzelne unter Umständen unbeschadet seines sittlichen Selbstbewußtseins sich über das zeitig Geltende hinwegsetzen darf, wenn er die Überzeugung von einer höheren, allgemeineren Wahrheit in sich trügt. Der Drang, die eigne Persönlichkeit ohne Zwang zu bethätigen, wird in demselben Grade unwiderstehlich, als der Einzelne mit seinem Empfinden und Denken sich von der Allgemeinheit absondert. Kurz, der Kampf zwischen subjektiver Berechtigung und objektivem Recht, zwischen in¬ dividuellem Bedürfnis und allgemeinem Gesetz wird keinem mehr erspart und findet deshalb volles, leidenschaftliches Verständnis, so oft er uns auf der Bühne an Menschen unseres Geistes und unserer Weltanschauung gezeigt wird. Darin liegt denn zugleich die Abweisung eines hin und wieder ausgesprochenen Ver¬ dikts, als könne ein bürgerliches Drama sich hinsichtlich seines Eindrucks nie mit dem historischen messen, weil, abgesehen von allem andern, seinem Helden bei der Katastrophe die „Fallhöhe" fehle. Eine ehrenvolle Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft, thätige Teilnahme an allem, was die Zeit bewegt, vor allem aber seelische Ruhe und harmonisches Empfindungsleben als Grundlage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/391>, abgerufen am 29.06.2024.