Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zukunft des deutschen Or^uns.

Kunst eines Volkes fristet entweder eine kümmerliche Trcibhausexistenz, oder sie
bemächtigt sich des Zeitgeistes und nimmt ihre Motive aus dem Kreise dessen,
was den vornehmlichen Bewußtseinsinhalt der Zeitgenossen ausmacht. Seit zwei
Mcuscheiialtern ist das Zentrum dieses Kreises ein völlig andres geworden.
Die unmittelbare Gegenwart, das Heute und Morgen, der gesellschaftliche Or¬
ganismus mit seinen physiologischen und pathologischen Erscheinungen nimmt
uns ganz in Anspruch, und demgemäß überwiegt das Fachwissen vor allgemeiner
Bildung, die praktische Verständigkeit vor philosophischer Reflexion. Es ist wie
im solonischen Athen: wir halten den für einen unreifen Menschen und schlechten
Bürger, der nicht politisch Partei ergreift. Wir schätzen deu Menschen nicht
nach seinem Werte, sondern nach seinen Leistungen, weil wir den national-
ökonomischen Grundsatz gelernt haben, daß nicht die Anhäufung des Kapitals
schlechthin, sondern die nutzbringende Anlage desselben der Gesellschaft zuträglich
ist. Eine Zeit aber, deren Interesse und Thätigkeit ganz vorzugsweise dem
materiellen Gewinn zugewendet bleibt, eine Zeit, die allen Ernstes die Frage
Ventiliren kann, ob die Bildung der Jugend nicht zlveckmäßiger den Realschulen
als den Gymnasien anvertraut werde, hat die Empfänglichkeit für Tragödien
hohen Stils verloren.

Anders verhält sie sich zu historischen Lustspielen. Überall, wo statt der
Harmonie der geistigen Kräfte vorzugsweise die Verstandesthätigkeit ausgebildet
und geübt wird, wächst auch Interesse und Verständnis für fein angelegte und
verwickelte Intrigue als die Arena geistiger Gewandtheit und findigen, schlag¬
fertigen Wesens. Der Blick für die kleinen Mängel und Verkehrtheiten mensch¬
licher Charaktere wird geschärft, das Wohlgefallen am Witz wird gesteigert; kurz,
diejenigen Mittel, mit denen das Lustspiel arbeitet, finden bei jedermann An¬
klang und volles Verständnis. Werden historische Charaktere herangezogen, so
bleibt doch eben das Historische an ihnen nicht viel mehr als Dekoration. Von
vornherein muß auf die Darstellung großer Katastrophen, welthistorischer Ak¬
tionen verzichtet werden, damit kein Mißverhältnis zwischen Ursache und Wir¬
kung zum Vorschein komme. Und doch erweitert der historische Hintergrund die
Perspektive und übernimmt einen großen Teil von der Verpflichtung des Dich¬
ters, die Handlung aus der ursprünglichem relativen Bedeutungslosigkeit heraus¬
zuheben. Der Genuß dieser Dichtungen ist bequem, weil sie, auch wenn nicht
tiefer erfaßt, doch nugenehm unterhalten und alle lustigen Geister im Zuschauer
erwecken. Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß damit
noch nicht die Jnfcrioritcit des Lustspiels vor dem ernsten Drama ausgesprochen
sein soll. Nur daß ihm mehr accidentelle, ich möchte sagen äußere Hilfsmittel
zu Gebote stehen. Fast jede Zeit dünkt sich der Vergangenheit gegenüber fort¬
geschritten, richtiger, den menschlichen Äultnrbestrebungen dienlicher. Daher haftet
an altertümlichen Sitten und Zuständen für den Durchschnittsmenschen leicht
etwas Lächerliches; sie rufen innere Befriedigung in ihm hervor, weil sie sein


Die Zukunft des deutschen Or^uns.

Kunst eines Volkes fristet entweder eine kümmerliche Trcibhausexistenz, oder sie
bemächtigt sich des Zeitgeistes und nimmt ihre Motive aus dem Kreise dessen,
was den vornehmlichen Bewußtseinsinhalt der Zeitgenossen ausmacht. Seit zwei
Mcuscheiialtern ist das Zentrum dieses Kreises ein völlig andres geworden.
Die unmittelbare Gegenwart, das Heute und Morgen, der gesellschaftliche Or¬
ganismus mit seinen physiologischen und pathologischen Erscheinungen nimmt
uns ganz in Anspruch, und demgemäß überwiegt das Fachwissen vor allgemeiner
Bildung, die praktische Verständigkeit vor philosophischer Reflexion. Es ist wie
im solonischen Athen: wir halten den für einen unreifen Menschen und schlechten
Bürger, der nicht politisch Partei ergreift. Wir schätzen deu Menschen nicht
nach seinem Werte, sondern nach seinen Leistungen, weil wir den national-
ökonomischen Grundsatz gelernt haben, daß nicht die Anhäufung des Kapitals
schlechthin, sondern die nutzbringende Anlage desselben der Gesellschaft zuträglich
ist. Eine Zeit aber, deren Interesse und Thätigkeit ganz vorzugsweise dem
materiellen Gewinn zugewendet bleibt, eine Zeit, die allen Ernstes die Frage
Ventiliren kann, ob die Bildung der Jugend nicht zlveckmäßiger den Realschulen
als den Gymnasien anvertraut werde, hat die Empfänglichkeit für Tragödien
hohen Stils verloren.

Anders verhält sie sich zu historischen Lustspielen. Überall, wo statt der
Harmonie der geistigen Kräfte vorzugsweise die Verstandesthätigkeit ausgebildet
und geübt wird, wächst auch Interesse und Verständnis für fein angelegte und
verwickelte Intrigue als die Arena geistiger Gewandtheit und findigen, schlag¬
fertigen Wesens. Der Blick für die kleinen Mängel und Verkehrtheiten mensch¬
licher Charaktere wird geschärft, das Wohlgefallen am Witz wird gesteigert; kurz,
diejenigen Mittel, mit denen das Lustspiel arbeitet, finden bei jedermann An¬
klang und volles Verständnis. Werden historische Charaktere herangezogen, so
bleibt doch eben das Historische an ihnen nicht viel mehr als Dekoration. Von
vornherein muß auf die Darstellung großer Katastrophen, welthistorischer Ak¬
tionen verzichtet werden, damit kein Mißverhältnis zwischen Ursache und Wir¬
kung zum Vorschein komme. Und doch erweitert der historische Hintergrund die
Perspektive und übernimmt einen großen Teil von der Verpflichtung des Dich¬
ters, die Handlung aus der ursprünglichem relativen Bedeutungslosigkeit heraus¬
zuheben. Der Genuß dieser Dichtungen ist bequem, weil sie, auch wenn nicht
tiefer erfaßt, doch nugenehm unterhalten und alle lustigen Geister im Zuschauer
erwecken. Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß damit
noch nicht die Jnfcrioritcit des Lustspiels vor dem ernsten Drama ausgesprochen
sein soll. Nur daß ihm mehr accidentelle, ich möchte sagen äußere Hilfsmittel
zu Gebote stehen. Fast jede Zeit dünkt sich der Vergangenheit gegenüber fort¬
geschritten, richtiger, den menschlichen Äultnrbestrebungen dienlicher. Daher haftet
an altertümlichen Sitten und Zuständen für den Durchschnittsmenschen leicht
etwas Lächerliches; sie rufen innere Befriedigung in ihm hervor, weil sie sein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86511"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zukunft des deutschen Or^uns.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1618" prev="#ID_1617"> Kunst eines Volkes fristet entweder eine kümmerliche Trcibhausexistenz, oder sie<lb/>
bemächtigt sich des Zeitgeistes und nimmt ihre Motive aus dem Kreise dessen,<lb/>
was den vornehmlichen Bewußtseinsinhalt der Zeitgenossen ausmacht. Seit zwei<lb/>
Mcuscheiialtern ist das Zentrum dieses Kreises ein völlig andres geworden.<lb/>
Die unmittelbare Gegenwart, das Heute und Morgen, der gesellschaftliche Or¬<lb/>
ganismus mit seinen physiologischen und pathologischen Erscheinungen nimmt<lb/>
uns ganz in Anspruch, und demgemäß überwiegt das Fachwissen vor allgemeiner<lb/>
Bildung, die praktische Verständigkeit vor philosophischer Reflexion. Es ist wie<lb/>
im solonischen Athen: wir halten den für einen unreifen Menschen und schlechten<lb/>
Bürger, der nicht politisch Partei ergreift. Wir schätzen deu Menschen nicht<lb/>
nach seinem Werte, sondern nach seinen Leistungen, weil wir den national-<lb/>
ökonomischen Grundsatz gelernt haben, daß nicht die Anhäufung des Kapitals<lb/>
schlechthin, sondern die nutzbringende Anlage desselben der Gesellschaft zuträglich<lb/>
ist. Eine Zeit aber, deren Interesse und Thätigkeit ganz vorzugsweise dem<lb/>
materiellen Gewinn zugewendet bleibt, eine Zeit, die allen Ernstes die Frage<lb/>
Ventiliren kann, ob die Bildung der Jugend nicht zlveckmäßiger den Realschulen<lb/>
als den Gymnasien anvertraut werde, hat die Empfänglichkeit für Tragödien<lb/>
hohen Stils verloren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1619" next="#ID_1620"> Anders verhält sie sich zu historischen Lustspielen. Überall, wo statt der<lb/>
Harmonie der geistigen Kräfte vorzugsweise die Verstandesthätigkeit ausgebildet<lb/>
und geübt wird, wächst auch Interesse und Verständnis für fein angelegte und<lb/>
verwickelte Intrigue als die Arena geistiger Gewandtheit und findigen, schlag¬<lb/>
fertigen Wesens. Der Blick für die kleinen Mängel und Verkehrtheiten mensch¬<lb/>
licher Charaktere wird geschärft, das Wohlgefallen am Witz wird gesteigert; kurz,<lb/>
diejenigen Mittel, mit denen das Lustspiel arbeitet, finden bei jedermann An¬<lb/>
klang und volles Verständnis. Werden historische Charaktere herangezogen, so<lb/>
bleibt doch eben das Historische an ihnen nicht viel mehr als Dekoration. Von<lb/>
vornherein muß auf die Darstellung großer Katastrophen, welthistorischer Ak¬<lb/>
tionen verzichtet werden, damit kein Mißverhältnis zwischen Ursache und Wir¬<lb/>
kung zum Vorschein komme. Und doch erweitert der historische Hintergrund die<lb/>
Perspektive und übernimmt einen großen Teil von der Verpflichtung des Dich¬<lb/>
ters, die Handlung aus der ursprünglichem relativen Bedeutungslosigkeit heraus¬<lb/>
zuheben. Der Genuß dieser Dichtungen ist bequem, weil sie, auch wenn nicht<lb/>
tiefer erfaßt, doch nugenehm unterhalten und alle lustigen Geister im Zuschauer<lb/>
erwecken. Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß damit<lb/>
noch nicht die Jnfcrioritcit des Lustspiels vor dem ernsten Drama ausgesprochen<lb/>
sein soll. Nur daß ihm mehr accidentelle, ich möchte sagen äußere Hilfsmittel<lb/>
zu Gebote stehen. Fast jede Zeit dünkt sich der Vergangenheit gegenüber fort¬<lb/>
geschritten, richtiger, den menschlichen Äultnrbestrebungen dienlicher. Daher haftet<lb/>
an altertümlichen Sitten und Zuständen für den Durchschnittsmenschen leicht<lb/>
etwas Lächerliches; sie rufen innere Befriedigung in ihm hervor, weil sie sein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0390] Die Zukunft des deutschen Or^uns. Kunst eines Volkes fristet entweder eine kümmerliche Trcibhausexistenz, oder sie bemächtigt sich des Zeitgeistes und nimmt ihre Motive aus dem Kreise dessen, was den vornehmlichen Bewußtseinsinhalt der Zeitgenossen ausmacht. Seit zwei Mcuscheiialtern ist das Zentrum dieses Kreises ein völlig andres geworden. Die unmittelbare Gegenwart, das Heute und Morgen, der gesellschaftliche Or¬ ganismus mit seinen physiologischen und pathologischen Erscheinungen nimmt uns ganz in Anspruch, und demgemäß überwiegt das Fachwissen vor allgemeiner Bildung, die praktische Verständigkeit vor philosophischer Reflexion. Es ist wie im solonischen Athen: wir halten den für einen unreifen Menschen und schlechten Bürger, der nicht politisch Partei ergreift. Wir schätzen deu Menschen nicht nach seinem Werte, sondern nach seinen Leistungen, weil wir den national- ökonomischen Grundsatz gelernt haben, daß nicht die Anhäufung des Kapitals schlechthin, sondern die nutzbringende Anlage desselben der Gesellschaft zuträglich ist. Eine Zeit aber, deren Interesse und Thätigkeit ganz vorzugsweise dem materiellen Gewinn zugewendet bleibt, eine Zeit, die allen Ernstes die Frage Ventiliren kann, ob die Bildung der Jugend nicht zlveckmäßiger den Realschulen als den Gymnasien anvertraut werde, hat die Empfänglichkeit für Tragödien hohen Stils verloren. Anders verhält sie sich zu historischen Lustspielen. Überall, wo statt der Harmonie der geistigen Kräfte vorzugsweise die Verstandesthätigkeit ausgebildet und geübt wird, wächst auch Interesse und Verständnis für fein angelegte und verwickelte Intrigue als die Arena geistiger Gewandtheit und findigen, schlag¬ fertigen Wesens. Der Blick für die kleinen Mängel und Verkehrtheiten mensch¬ licher Charaktere wird geschärft, das Wohlgefallen am Witz wird gesteigert; kurz, diejenigen Mittel, mit denen das Lustspiel arbeitet, finden bei jedermann An¬ klang und volles Verständnis. Werden historische Charaktere herangezogen, so bleibt doch eben das Historische an ihnen nicht viel mehr als Dekoration. Von vornherein muß auf die Darstellung großer Katastrophen, welthistorischer Ak¬ tionen verzichtet werden, damit kein Mißverhältnis zwischen Ursache und Wir¬ kung zum Vorschein komme. Und doch erweitert der historische Hintergrund die Perspektive und übernimmt einen großen Teil von der Verpflichtung des Dich¬ ters, die Handlung aus der ursprünglichem relativen Bedeutungslosigkeit heraus¬ zuheben. Der Genuß dieser Dichtungen ist bequem, weil sie, auch wenn nicht tiefer erfaßt, doch nugenehm unterhalten und alle lustigen Geister im Zuschauer erwecken. Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß damit noch nicht die Jnfcrioritcit des Lustspiels vor dem ernsten Drama ausgesprochen sein soll. Nur daß ihm mehr accidentelle, ich möchte sagen äußere Hilfsmittel zu Gebote stehen. Fast jede Zeit dünkt sich der Vergangenheit gegenüber fort¬ geschritten, richtiger, den menschlichen Äultnrbestrebungen dienlicher. Daher haftet an altertümlichen Sitten und Zuständen für den Durchschnittsmenschen leicht etwas Lächerliches; sie rufen innere Befriedigung in ihm hervor, weil sie sein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/390
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/390>, abgerufen am 28.09.2024.