Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ankunft des deutschen Dramas,

Interesse in dem Maße, als die aktive Teilnahme am politischen Leben wächst,
von dem geschichtlichen Trauerspiel ab. Daraus erhellt, daß dieser Kunstform
zur vollen Entfaltung ihrer Bedeutung sowie zur ganzen Ausreifung ihrer
Technik nur eine verhältnismäßig kurze Spanne Zeit verliehen wurde. Denn
ein erst in der Entwicklung begriffenes Volksbewußtsein, ein vorzugsweise nach
außen lebendes, naiver Thatlust und Thatkraft sich freuendes Zeitalter gestaltet
seine Erinnerungen allenthalben zu epischer Dichtung, Solange die Menschen
noch nicht gelernt haben, in einer bedeutenden Handlang nicht allein den Ursprung
einer Reihe folgenreicher Ereignisse, sondern auch das Resultat einer Reihe
seelischer Kämpfe zu erblicken, solange erscheint ihnen die Handlung an sich als
das einzige, an das ihre Empfindung anknüpfen kann. Bevor ein gewaltiges
Geschick mit dem Auge des Dramatikers aufgefaßt werden kaun, muß erst in
der Menschenbrust etwas entstanden sein, das sich dem hereinbrechenden Schicksal
nicht stumm unterwirft, sondern trotzig entgegenstemmt; ein Gefühl von dem
Rechte, von dem Werte und -- vou der Gefahr der Selbstbestimmung muß in
der Seele lebendig sein, damit das Scheitern eines starken Charakters mit voller
tragischer Macht wirken könne. Und da die Kunst, vor allen die Dichtkunst,
auf nationalem Boden zu sprossen pflegt, so ist es erklärlich, daß auch bei weiter
vorgeschrittener geistiger Kultur das Drama gemeiniglich erst dann sein Haupt
erhoben hat, wenn ein besondrer Anlaß das Nationalgefühl sammelte und be¬
reicherte. So pflegt auch in der Natur die aufgesammelte Spannkraft erst dann
in lebendige Kraft überzugehen, wenn von außen ein Anstoß kommt, der die
Atome aus ihrem ruhigen Gleichgewicht bringt. Wir sehen in Griechenland
das Aufblühen der Dramatik an den Zusammenstoß der hellenischen Welt mit
der orientalischen, in England an die Glanzepoche Elisabeths, in Frankreich an
die Beseitigung der Fronde und den Zusammenschluß der Stämme geknüpft.
Und in Deutschland hatten die Schlachten des siebenjährigen Krieges unser Volk
aus dem hundertjährigen Winterschlafe geweckt, ehe die Jahre des Sturmes und
Drnuges zwar unreife, aber doch deutsche Dramen zelligem und ehe in Lessing
ein Reformator der deutschen Schaubühne erstand. Dabei ist es wenigstens
bei den erstgenannten drei Nationen, die sich selbständiger als wir entwickeln
konnte", nicht zu verkennen, daß die Zeit dramatischer Blüte zusammenfällt mit
einer charakteristischen Neigung, die Objekte der Kunstwerke auf der Höhe des
Lebens, im Glänze des Thrones, zu suchen. Vielleicht nur deshalb tritt dann
das Drama mit Vorliebe im Gewände der historischen Tragödie ans; vielleicht
deshalb zumeist verliert die letztre an Bedeutung, sobald das Volk sich selbst
mit seinem Empfinde" und seinem sittlichen Horizont Gegenstand des höchsten
Interesses wird.

Vieles vereinigt sich, das uns die Hoffnung nimmt, in der nächsten Zu¬
kunft, in der gegenwärtigen Kulturpcriode unsres Volkes, noch einmal historische
Tragödien von unvergänglicher, klassischer Bedeutung entstehen zu sehen. Die


Die Ankunft des deutschen Dramas,

Interesse in dem Maße, als die aktive Teilnahme am politischen Leben wächst,
von dem geschichtlichen Trauerspiel ab. Daraus erhellt, daß dieser Kunstform
zur vollen Entfaltung ihrer Bedeutung sowie zur ganzen Ausreifung ihrer
Technik nur eine verhältnismäßig kurze Spanne Zeit verliehen wurde. Denn
ein erst in der Entwicklung begriffenes Volksbewußtsein, ein vorzugsweise nach
außen lebendes, naiver Thatlust und Thatkraft sich freuendes Zeitalter gestaltet
seine Erinnerungen allenthalben zu epischer Dichtung, Solange die Menschen
noch nicht gelernt haben, in einer bedeutenden Handlang nicht allein den Ursprung
einer Reihe folgenreicher Ereignisse, sondern auch das Resultat einer Reihe
seelischer Kämpfe zu erblicken, solange erscheint ihnen die Handlung an sich als
das einzige, an das ihre Empfindung anknüpfen kann. Bevor ein gewaltiges
Geschick mit dem Auge des Dramatikers aufgefaßt werden kaun, muß erst in
der Menschenbrust etwas entstanden sein, das sich dem hereinbrechenden Schicksal
nicht stumm unterwirft, sondern trotzig entgegenstemmt; ein Gefühl von dem
Rechte, von dem Werte und — vou der Gefahr der Selbstbestimmung muß in
der Seele lebendig sein, damit das Scheitern eines starken Charakters mit voller
tragischer Macht wirken könne. Und da die Kunst, vor allen die Dichtkunst,
auf nationalem Boden zu sprossen pflegt, so ist es erklärlich, daß auch bei weiter
vorgeschrittener geistiger Kultur das Drama gemeiniglich erst dann sein Haupt
erhoben hat, wenn ein besondrer Anlaß das Nationalgefühl sammelte und be¬
reicherte. So pflegt auch in der Natur die aufgesammelte Spannkraft erst dann
in lebendige Kraft überzugehen, wenn von außen ein Anstoß kommt, der die
Atome aus ihrem ruhigen Gleichgewicht bringt. Wir sehen in Griechenland
das Aufblühen der Dramatik an den Zusammenstoß der hellenischen Welt mit
der orientalischen, in England an die Glanzepoche Elisabeths, in Frankreich an
die Beseitigung der Fronde und den Zusammenschluß der Stämme geknüpft.
Und in Deutschland hatten die Schlachten des siebenjährigen Krieges unser Volk
aus dem hundertjährigen Winterschlafe geweckt, ehe die Jahre des Sturmes und
Drnuges zwar unreife, aber doch deutsche Dramen zelligem und ehe in Lessing
ein Reformator der deutschen Schaubühne erstand. Dabei ist es wenigstens
bei den erstgenannten drei Nationen, die sich selbständiger als wir entwickeln
konnte», nicht zu verkennen, daß die Zeit dramatischer Blüte zusammenfällt mit
einer charakteristischen Neigung, die Objekte der Kunstwerke auf der Höhe des
Lebens, im Glänze des Thrones, zu suchen. Vielleicht nur deshalb tritt dann
das Drama mit Vorliebe im Gewände der historischen Tragödie ans; vielleicht
deshalb zumeist verliert die letztre an Bedeutung, sobald das Volk sich selbst
mit seinem Empfinde» und seinem sittlichen Horizont Gegenstand des höchsten
Interesses wird.

Vieles vereinigt sich, das uns die Hoffnung nimmt, in der nächsten Zu¬
kunft, in der gegenwärtigen Kulturpcriode unsres Volkes, noch einmal historische
Tragödien von unvergänglicher, klassischer Bedeutung entstehen zu sehen. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0389" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86510"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ankunft des deutschen Dramas,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1616" prev="#ID_1615"> Interesse in dem Maße, als die aktive Teilnahme am politischen Leben wächst,<lb/>
von dem geschichtlichen Trauerspiel ab. Daraus erhellt, daß dieser Kunstform<lb/>
zur vollen Entfaltung ihrer Bedeutung sowie zur ganzen Ausreifung ihrer<lb/>
Technik nur eine verhältnismäßig kurze Spanne Zeit verliehen wurde. Denn<lb/>
ein erst in der Entwicklung begriffenes Volksbewußtsein, ein vorzugsweise nach<lb/>
außen lebendes, naiver Thatlust und Thatkraft sich freuendes Zeitalter gestaltet<lb/>
seine Erinnerungen allenthalben zu epischer Dichtung, Solange die Menschen<lb/>
noch nicht gelernt haben, in einer bedeutenden Handlang nicht allein den Ursprung<lb/>
einer Reihe folgenreicher Ereignisse, sondern auch das Resultat einer Reihe<lb/>
seelischer Kämpfe zu erblicken, solange erscheint ihnen die Handlung an sich als<lb/>
das einzige, an das ihre Empfindung anknüpfen kann. Bevor ein gewaltiges<lb/>
Geschick mit dem Auge des Dramatikers aufgefaßt werden kaun, muß erst in<lb/>
der Menschenbrust etwas entstanden sein, das sich dem hereinbrechenden Schicksal<lb/>
nicht stumm unterwirft, sondern trotzig entgegenstemmt; ein Gefühl von dem<lb/>
Rechte, von dem Werte und &#x2014; vou der Gefahr der Selbstbestimmung muß in<lb/>
der Seele lebendig sein, damit das Scheitern eines starken Charakters mit voller<lb/>
tragischer Macht wirken könne. Und da die Kunst, vor allen die Dichtkunst,<lb/>
auf nationalem Boden zu sprossen pflegt, so ist es erklärlich, daß auch bei weiter<lb/>
vorgeschrittener geistiger Kultur das Drama gemeiniglich erst dann sein Haupt<lb/>
erhoben hat, wenn ein besondrer Anlaß das Nationalgefühl sammelte und be¬<lb/>
reicherte. So pflegt auch in der Natur die aufgesammelte Spannkraft erst dann<lb/>
in lebendige Kraft überzugehen, wenn von außen ein Anstoß kommt, der die<lb/>
Atome aus ihrem ruhigen Gleichgewicht bringt. Wir sehen in Griechenland<lb/>
das Aufblühen der Dramatik an den Zusammenstoß der hellenischen Welt mit<lb/>
der orientalischen, in England an die Glanzepoche Elisabeths, in Frankreich an<lb/>
die Beseitigung der Fronde und den Zusammenschluß der Stämme geknüpft.<lb/>
Und in Deutschland hatten die Schlachten des siebenjährigen Krieges unser Volk<lb/>
aus dem hundertjährigen Winterschlafe geweckt, ehe die Jahre des Sturmes und<lb/>
Drnuges zwar unreife, aber doch deutsche Dramen zelligem und ehe in Lessing<lb/>
ein Reformator der deutschen Schaubühne erstand. Dabei ist es wenigstens<lb/>
bei den erstgenannten drei Nationen, die sich selbständiger als wir entwickeln<lb/>
konnte», nicht zu verkennen, daß die Zeit dramatischer Blüte zusammenfällt mit<lb/>
einer charakteristischen Neigung, die Objekte der Kunstwerke auf der Höhe des<lb/>
Lebens, im Glänze des Thrones, zu suchen. Vielleicht nur deshalb tritt dann<lb/>
das Drama mit Vorliebe im Gewände der historischen Tragödie ans; vielleicht<lb/>
deshalb zumeist verliert die letztre an Bedeutung, sobald das Volk sich selbst<lb/>
mit seinem Empfinde» und seinem sittlichen Horizont Gegenstand des höchsten<lb/>
Interesses wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1617" next="#ID_1618"> Vieles vereinigt sich, das uns die Hoffnung nimmt, in der nächsten Zu¬<lb/>
kunft, in der gegenwärtigen Kulturpcriode unsres Volkes, noch einmal historische<lb/>
Tragödien von unvergänglicher, klassischer Bedeutung entstehen zu sehen. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0389] Die Ankunft des deutschen Dramas, Interesse in dem Maße, als die aktive Teilnahme am politischen Leben wächst, von dem geschichtlichen Trauerspiel ab. Daraus erhellt, daß dieser Kunstform zur vollen Entfaltung ihrer Bedeutung sowie zur ganzen Ausreifung ihrer Technik nur eine verhältnismäßig kurze Spanne Zeit verliehen wurde. Denn ein erst in der Entwicklung begriffenes Volksbewußtsein, ein vorzugsweise nach außen lebendes, naiver Thatlust und Thatkraft sich freuendes Zeitalter gestaltet seine Erinnerungen allenthalben zu epischer Dichtung, Solange die Menschen noch nicht gelernt haben, in einer bedeutenden Handlang nicht allein den Ursprung einer Reihe folgenreicher Ereignisse, sondern auch das Resultat einer Reihe seelischer Kämpfe zu erblicken, solange erscheint ihnen die Handlung an sich als das einzige, an das ihre Empfindung anknüpfen kann. Bevor ein gewaltiges Geschick mit dem Auge des Dramatikers aufgefaßt werden kaun, muß erst in der Menschenbrust etwas entstanden sein, das sich dem hereinbrechenden Schicksal nicht stumm unterwirft, sondern trotzig entgegenstemmt; ein Gefühl von dem Rechte, von dem Werte und — vou der Gefahr der Selbstbestimmung muß in der Seele lebendig sein, damit das Scheitern eines starken Charakters mit voller tragischer Macht wirken könne. Und da die Kunst, vor allen die Dichtkunst, auf nationalem Boden zu sprossen pflegt, so ist es erklärlich, daß auch bei weiter vorgeschrittener geistiger Kultur das Drama gemeiniglich erst dann sein Haupt erhoben hat, wenn ein besondrer Anlaß das Nationalgefühl sammelte und be¬ reicherte. So pflegt auch in der Natur die aufgesammelte Spannkraft erst dann in lebendige Kraft überzugehen, wenn von außen ein Anstoß kommt, der die Atome aus ihrem ruhigen Gleichgewicht bringt. Wir sehen in Griechenland das Aufblühen der Dramatik an den Zusammenstoß der hellenischen Welt mit der orientalischen, in England an die Glanzepoche Elisabeths, in Frankreich an die Beseitigung der Fronde und den Zusammenschluß der Stämme geknüpft. Und in Deutschland hatten die Schlachten des siebenjährigen Krieges unser Volk aus dem hundertjährigen Winterschlafe geweckt, ehe die Jahre des Sturmes und Drnuges zwar unreife, aber doch deutsche Dramen zelligem und ehe in Lessing ein Reformator der deutschen Schaubühne erstand. Dabei ist es wenigstens bei den erstgenannten drei Nationen, die sich selbständiger als wir entwickeln konnte», nicht zu verkennen, daß die Zeit dramatischer Blüte zusammenfällt mit einer charakteristischen Neigung, die Objekte der Kunstwerke auf der Höhe des Lebens, im Glänze des Thrones, zu suchen. Vielleicht nur deshalb tritt dann das Drama mit Vorliebe im Gewände der historischen Tragödie ans; vielleicht deshalb zumeist verliert die letztre an Bedeutung, sobald das Volk sich selbst mit seinem Empfinde» und seinem sittlichen Horizont Gegenstand des höchsten Interesses wird. Vieles vereinigt sich, das uns die Hoffnung nimmt, in der nächsten Zu¬ kunft, in der gegenwärtigen Kulturpcriode unsres Volkes, noch einmal historische Tragödien von unvergänglicher, klassischer Bedeutung entstehen zu sehen. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/389
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/389>, abgerufen am 29.06.2024.