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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Vakchen und Thyrsosträger.
R August Niemann ( oman vonGotha).

Das Recht der Üverschimg vorbe-
halten. Nachdruck verboten.
(Forthe^ung )

it diesen Worten hatte Flörchen Ephraim sachte an der Hand ge¬
zogen, und ehe er wußte, wie es geschah, hielt er ihre Gestalt
umschlungen und preßte seine Lippen auf den roten Mund des
philosophischen Mädchens, welches, wie es Ephraim vorkam, aus
dem Grunde eines gesunden Busens alle Weisheit der Weisen schöpfte.

Wenn jemand den guten Ephraim zu einer hübschen hellen Morgenstunde
in ein metaphysisches Gespräch gezogen und ihn gefragt hätte, was er wohl für
das größte Unglück hielte, so würde er gewiß den Verlust der klaren Überlegung
und das Versinken der Vernunft in den Wogen der Lust für ein solches erklärt
haben. Aber jetzt, Um ihm unter Flörchens Küssen und in ihren weichen Annen
dies in der That begegnete, hatte er durchaus nicht die Empfindung, es wider¬
fahre ihm ein großes Unglück. Es ging ihm in Wirklichkeit so, daß gleichsam
alle Bande seines Individuums sich lösten, so wie im Angesicht des Magnetberges die
eisernen Nägel und Klammern davonflöge,:, welche Sindbad des Seefahrers Schiff
zusammenhielten. Und so wie aus den weichenden und auseinanderfallenden Planken
des Schiffes die Bemannung in die Fluten der unergründlichen See glitt, so versank
auch Ephraims Seele in Liebe, während alle Verstandesnägel und logischen
Klammern davonflogen.

In zärtlichsten Gespräch, das oft durch eine Flut von Küssen unterbrochen
ward, ohne dadurch an Zusammenhang irgend etwas zu verlieren, saßen sie enge
aneinandergerückt und innig umschlungen in der dunkeln Roscnnische unter dem
alten braunen, heimlichen Dache. Ihre goldigen Locken überfluteten seine Stirn
und sein kurzes schwarzes Haar, seine Lippen brannten auf ihren Wangen, ihren
Augen, ihrem Halse und auf ihren Händen, die in tändelnden: Spiele die seinigen
zu fesseln suchten.

Inzwischen gingen aber die Ereignisse im Hause ihren Gang weiter und
litten es nicht, daß die beiden auf ewig ungeteilt dort oben sitzen blieben. So




Vakchen und Thyrsosträger.
R August Niemann ( oman vonGotha).

Das Recht der Üverschimg vorbe-
halten. Nachdruck verboten.
(Forthe^ung )

it diesen Worten hatte Flörchen Ephraim sachte an der Hand ge¬
zogen, und ehe er wußte, wie es geschah, hielt er ihre Gestalt
umschlungen und preßte seine Lippen auf den roten Mund des
philosophischen Mädchens, welches, wie es Ephraim vorkam, aus
dem Grunde eines gesunden Busens alle Weisheit der Weisen schöpfte.

Wenn jemand den guten Ephraim zu einer hübschen hellen Morgenstunde
in ein metaphysisches Gespräch gezogen und ihn gefragt hätte, was er wohl für
das größte Unglück hielte, so würde er gewiß den Verlust der klaren Überlegung
und das Versinken der Vernunft in den Wogen der Lust für ein solches erklärt
haben. Aber jetzt, Um ihm unter Flörchens Küssen und in ihren weichen Annen
dies in der That begegnete, hatte er durchaus nicht die Empfindung, es wider¬
fahre ihm ein großes Unglück. Es ging ihm in Wirklichkeit so, daß gleichsam
alle Bande seines Individuums sich lösten, so wie im Angesicht des Magnetberges die
eisernen Nägel und Klammern davonflöge,:, welche Sindbad des Seefahrers Schiff
zusammenhielten. Und so wie aus den weichenden und auseinanderfallenden Planken
des Schiffes die Bemannung in die Fluten der unergründlichen See glitt, so versank
auch Ephraims Seele in Liebe, während alle Verstandesnägel und logischen
Klammern davonflogen.

In zärtlichsten Gespräch, das oft durch eine Flut von Küssen unterbrochen
ward, ohne dadurch an Zusammenhang irgend etwas zu verlieren, saßen sie enge
aneinandergerückt und innig umschlungen in der dunkeln Roscnnische unter dem
alten braunen, heimlichen Dache. Ihre goldigen Locken überfluteten seine Stirn
und sein kurzes schwarzes Haar, seine Lippen brannten auf ihren Wangen, ihren
Augen, ihrem Halse und auf ihren Händen, die in tändelnden: Spiele die seinigen
zu fesseln suchten.

Inzwischen gingen aber die Ereignisse im Hause ihren Gang weiter und
litten es nicht, daß die beiden auf ewig ungeteilt dort oben sitzen blieben. So


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[0362] [Abbildung] Vakchen und Thyrsosträger. R August Niemann ( oman vonGotha). Das Recht der Üverschimg vorbe- halten. Nachdruck verboten. (Forthe^ung ) it diesen Worten hatte Flörchen Ephraim sachte an der Hand ge¬ zogen, und ehe er wußte, wie es geschah, hielt er ihre Gestalt umschlungen und preßte seine Lippen auf den roten Mund des philosophischen Mädchens, welches, wie es Ephraim vorkam, aus dem Grunde eines gesunden Busens alle Weisheit der Weisen schöpfte. Wenn jemand den guten Ephraim zu einer hübschen hellen Morgenstunde in ein metaphysisches Gespräch gezogen und ihn gefragt hätte, was er wohl für das größte Unglück hielte, so würde er gewiß den Verlust der klaren Überlegung und das Versinken der Vernunft in den Wogen der Lust für ein solches erklärt haben. Aber jetzt, Um ihm unter Flörchens Küssen und in ihren weichen Annen dies in der That begegnete, hatte er durchaus nicht die Empfindung, es wider¬ fahre ihm ein großes Unglück. Es ging ihm in Wirklichkeit so, daß gleichsam alle Bande seines Individuums sich lösten, so wie im Angesicht des Magnetberges die eisernen Nägel und Klammern davonflöge,:, welche Sindbad des Seefahrers Schiff zusammenhielten. Und so wie aus den weichenden und auseinanderfallenden Planken des Schiffes die Bemannung in die Fluten der unergründlichen See glitt, so versank auch Ephraims Seele in Liebe, während alle Verstandesnägel und logischen Klammern davonflogen. In zärtlichsten Gespräch, das oft durch eine Flut von Küssen unterbrochen ward, ohne dadurch an Zusammenhang irgend etwas zu verlieren, saßen sie enge aneinandergerückt und innig umschlungen in der dunkeln Roscnnische unter dem alten braunen, heimlichen Dache. Ihre goldigen Locken überfluteten seine Stirn und sein kurzes schwarzes Haar, seine Lippen brannten auf ihren Wangen, ihren Augen, ihrem Halse und auf ihren Händen, die in tändelnden: Spiele die seinigen zu fesseln suchten. Inzwischen gingen aber die Ereignisse im Hause ihren Gang weiter und litten es nicht, daß die beiden auf ewig ungeteilt dort oben sitzen blieben. So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/362>, abgerufen am 28.09.2024.