Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.Wilhelm Raabe. mit der Spürkraft des echten Humoristen stellt der Autor die Generation ganz In den Menscheudarstellungen Naabes ist es bemerkenswert, daß er ver¬ Wilhelm Raabe. mit der Spürkraft des echten Humoristen stellt der Autor die Generation ganz In den Menscheudarstellungen Naabes ist es bemerkenswert, daß er ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86473"/> <fw type="header" place="top"> Wilhelm Raabe.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1446" prev="#ID_1445"> mit der Spürkraft des echten Humoristen stellt der Autor die Generation ganz<lb/> individueller, scharf selbständiger, ans ihre eigne Weise zu einer innern Vorzüg-<lb/> lichkeit gcdiehener Menschen dar, die in allerhand behaglichen Nestern und<lb/> Winkeln, kleinen alten Städten und großen alten Höfen gediehen ist. Es ist<lb/> kaum in der Kürze anzudeuten, welch eine Fülle guter Beobachtung und<lb/> lebendigster Mitempfindung für echte Menschennatur schon in den Nnabeschen<lb/> Erzählungen steckt, und höchstens zu bedauern, daß die Wunderlichkeit und<lb/> Launenhaftigkeit der Komposition wenigstens vieler Erzählungen hie und da<lb/> auch die Charakteristik schädigt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1447" next="#ID_1448"> In den Menscheudarstellungen Naabes ist es bemerkenswert, daß er ver¬<lb/> hältnismäßig wenig scharfe, schon von weitem in die Angen fallende Gegensätze<lb/> hat, obschon man;den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Liebens¬<lb/> würdig und Abstoßend in seinen kleinen Welten nie vergißt. Es ist sein be¬<lb/> sondres Talent, durch einen einzigen Zug, durch ein scheinbar leichtes Gewicht,<lb/> das er in die eine von zwei gleichstehenden Wagschalen wirft, die Charaktere zu<lb/> scheiden. Meisterhaft gelingt es ihm, die verhängnisvollen Wirkungen darzustellen,<lb/> welche enge Lebensznstcinde und kleinliche Lebensaufgaben für Naturen haben<lb/> könne», die von Haus aus der Güte und des Mitleids entbehren, während<lb/> er doch andrerseits große Triumphe darin feiert, innerlich edle und tüchtige<lb/> Nature» in den beschränktesten Verhältnissen und kleinlichsten Umgebungen mit<lb/> höchster Wirkungskraft auszustatten. Aller Idealismus seiner Menschen wurzelt<lb/> und gipfelt zugleich in einer unversiegbarer Liebesteilnahme am Geschick andrer<lb/> Menschen. Die Herzenswarme seiner Gestalten erscheint nicht als Annex zu<lb/> ihrer Heimatliebe oder ihren behaglichen Lebensgewohnheiten, aber sie hängt<lb/> mit denselben insoweit zusammen, als die Philosophie der meisten darauf hinaus¬<lb/> läuft, daß die Erde nichts Höheres zu biete» habe, als in schlichter Beschränkung<lb/> das Glück, ein paar innerlich gleichgestimmte Seelen, ein paar wahrhaft zuver¬<lb/> lässige Menschen zu wissen und mit ihnen zu leben, sie vollaus zu genießen bis an<lb/> die Grenze alles Irdischen! Es ist ein Nachklang von jenem Rousseauschen<lb/> Ideal: „Zu den Füßen der Geliebten sitzend wird er Hans brechen, alle Tage,<lb/> und nichts »vollen und wünschen als Hanf zu brechen" in vielen Raabeschen<lb/> Situationen und Gestalten. Und insofern stehen sie allerdings zum Wesen des<lb/> Tages und den Anschauungen der modernen Durchschnittsbildung in einem ent¬<lb/> schiedenen, man könnte sagen in einem schneidenden Gegensatze. Raabe muß<lb/> tausende von Lesern haben, die den wahren Kern seiner Dichtungen, die Grund¬<lb/> empfindung, welche sich still eindringlich überall geltend macht, ohne reflektirt<lb/> oder gar lehrhaft aufzutreten, gar nicht spüren oder durch die Caprieeivs seines<lb/> Humors über sie hinweggetäuscht werden. Deal von der Hast und Hetz, der Erwerb¬<lb/> gier und Mammonanbetnng, den Dänionen des Größenwahnsinns, der äußerlichen<lb/> Eitelkeit, des Strebertums und der Schwindelneigungen ist er schlecht erbaut, sie<lb/> sind ihm unversöhnliche Gegensätze zu der deutschen Welt, welche er kennt, liebt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0352]
Wilhelm Raabe.
mit der Spürkraft des echten Humoristen stellt der Autor die Generation ganz
individueller, scharf selbständiger, ans ihre eigne Weise zu einer innern Vorzüg-
lichkeit gcdiehener Menschen dar, die in allerhand behaglichen Nestern und
Winkeln, kleinen alten Städten und großen alten Höfen gediehen ist. Es ist
kaum in der Kürze anzudeuten, welch eine Fülle guter Beobachtung und
lebendigster Mitempfindung für echte Menschennatur schon in den Nnabeschen
Erzählungen steckt, und höchstens zu bedauern, daß die Wunderlichkeit und
Launenhaftigkeit der Komposition wenigstens vieler Erzählungen hie und da
auch die Charakteristik schädigt.
In den Menscheudarstellungen Naabes ist es bemerkenswert, daß er ver¬
hältnismäßig wenig scharfe, schon von weitem in die Angen fallende Gegensätze
hat, obschon man;den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Liebens¬
würdig und Abstoßend in seinen kleinen Welten nie vergißt. Es ist sein be¬
sondres Talent, durch einen einzigen Zug, durch ein scheinbar leichtes Gewicht,
das er in die eine von zwei gleichstehenden Wagschalen wirft, die Charaktere zu
scheiden. Meisterhaft gelingt es ihm, die verhängnisvollen Wirkungen darzustellen,
welche enge Lebensznstcinde und kleinliche Lebensaufgaben für Naturen haben
könne», die von Haus aus der Güte und des Mitleids entbehren, während
er doch andrerseits große Triumphe darin feiert, innerlich edle und tüchtige
Nature» in den beschränktesten Verhältnissen und kleinlichsten Umgebungen mit
höchster Wirkungskraft auszustatten. Aller Idealismus seiner Menschen wurzelt
und gipfelt zugleich in einer unversiegbarer Liebesteilnahme am Geschick andrer
Menschen. Die Herzenswarme seiner Gestalten erscheint nicht als Annex zu
ihrer Heimatliebe oder ihren behaglichen Lebensgewohnheiten, aber sie hängt
mit denselben insoweit zusammen, als die Philosophie der meisten darauf hinaus¬
läuft, daß die Erde nichts Höheres zu biete» habe, als in schlichter Beschränkung
das Glück, ein paar innerlich gleichgestimmte Seelen, ein paar wahrhaft zuver¬
lässige Menschen zu wissen und mit ihnen zu leben, sie vollaus zu genießen bis an
die Grenze alles Irdischen! Es ist ein Nachklang von jenem Rousseauschen
Ideal: „Zu den Füßen der Geliebten sitzend wird er Hans brechen, alle Tage,
und nichts »vollen und wünschen als Hanf zu brechen" in vielen Raabeschen
Situationen und Gestalten. Und insofern stehen sie allerdings zum Wesen des
Tages und den Anschauungen der modernen Durchschnittsbildung in einem ent¬
schiedenen, man könnte sagen in einem schneidenden Gegensatze. Raabe muß
tausende von Lesern haben, die den wahren Kern seiner Dichtungen, die Grund¬
empfindung, welche sich still eindringlich überall geltend macht, ohne reflektirt
oder gar lehrhaft aufzutreten, gar nicht spüren oder durch die Caprieeivs seines
Humors über sie hinweggetäuscht werden. Deal von der Hast und Hetz, der Erwerb¬
gier und Mammonanbetnng, den Dänionen des Größenwahnsinns, der äußerlichen
Eitelkeit, des Strebertums und der Schwindelneigungen ist er schlecht erbaut, sie
sind ihm unversöhnliche Gegensätze zu der deutschen Welt, welche er kennt, liebt
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