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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Wilhelm Raabe.

wart oder die unmittelbare Vergangenheit deutschen Lebens hineingreift und schon
in der Darstellung der Szenerie seinen Zauber bewährt. Denn in allen deut¬
schen Gegenden, in allen Hügellandschaften und stillen Waldwinkeln ist der
Autor zu Hause, seine Menschen läßt er in den einfachen und doch unerschöpf¬
lichen Schönheiten von Haide und Holz, Feld und Wiese schwelgen -- im
Sonnenlicht ziehen die Wolken über die Landschaften hin, in denen sich die
Abenteuer begeben. Einsame Güter, Hänser und Mühlen an Flüssen und Weihern
sind Lieblingsplätze der Gestalten, welche Raabe vorzuführen liebt. Wie kaum
ein zweiter, ist er mit den kleinen deutschen Städten, mit all ihrer wunderlichen
Mannichfaltigkeit, in Patrizier- und Bürgerhäusern, stillen Höfen, Erkern und
Giebelzimmern mit altem Gerät vertraut. Die Schauplätze, auf denen ruhiges
Lebensbehagen und Idyllen aller Art gedeihen, sind ihm ans Herz gewachsen.
Seine Virtuosität in der Einzelschilderung von tausend Dingen, die doch nur
den einen Zweck haben, Behagen zu wecken, ist erstaunlich. Man nehme in
einem der liebenswürdigsten seiner neuen Bücher, im "Horacker," die Szenerie:
den Hausgarten des alten Konrektors Eckerbusch in dem mitteldeutsche" Neste,
wo die Geschichte spielt, die drei Eichen um Waldrande, die Waldblöße, auf der
der Korrektor und der Zeichenlehrer ihr Vesperbrot verzehren und ihr Aben¬
teuer erleben, den Garten und die Laube im Pfarrhause zu Gansewiuckcl, oder
im "Wunnigcl" das Haus am Schloßberg mit seiner Einrichtung von drei Jahr¬
hunderten her, oder in den "Alten Nestern" den Bauernhof des Helden und
die Fischerhütte am Fluß -- überall ist in wenigen Zügen volle Anschaulich¬
keit erreicht und Stimmung erweckt. Und das Gleiche gilt von den Hinter¬
gründen auch in den größeren Romanen des Autors, wenigstens in den meisten.

Und in diese Szenerie hinein, die nie Selbstzweck wird, in der also auch
kein Überwiegen der Deskriptiv" stattfindet, wie es andre Kleinmaler lieben,
stellt Raabe Menschen, die aufs innigste mit derselben verwachsen, von dem
Heimatsgefühl in aller Stärke erfüllt sind, zumeist durch wunderliche Schicksale
ihrem ursprünglichen Boden entrissen werden, aber mit aller Kraft und Zähig¬
keit deutschen Wesens nach demselben zurückverlangen, ihn sich zurückerobern.
Die Mannichfaltigkeit der Menschengestalten, ihrer äußern und geistigen Er¬
scheinungen, ihrer Vorbedingungen und Verbindungen, ihrer Humore und Schick¬
sale ist ganz außerordentlich. Auf den ersten Blick scheinen viele Charaktere
Raabcs, namentlich die ans dem deutschen Philistertum genommenen, einander
ähnlich zu sein. Genauer betrachtet stellt sich jedesmal eine Verschiedenheit im
Kern heraus. Der deutsche Individualismus, der am liebsten seinen Gott und
seinen König für sich allein nach eigensten Geschmack haben möchte, tritt uus
mit all seiner Wunderlichkeit, mit seinen leicht erkennbaren Mängeln und seineu
tieferen Vorzügen entgegen, Raabe ist weder an sich ein Freund der modernsten
Uniformirung, noch hegt er den Glauben, daß dieselbe der Poesie ersprießlich
sein werde. Mit liebevollen Blick auch für die unscheinbarsten Besonderheiten,


Wilhelm Raabe.

wart oder die unmittelbare Vergangenheit deutschen Lebens hineingreift und schon
in der Darstellung der Szenerie seinen Zauber bewährt. Denn in allen deut¬
schen Gegenden, in allen Hügellandschaften und stillen Waldwinkeln ist der
Autor zu Hause, seine Menschen läßt er in den einfachen und doch unerschöpf¬
lichen Schönheiten von Haide und Holz, Feld und Wiese schwelgen — im
Sonnenlicht ziehen die Wolken über die Landschaften hin, in denen sich die
Abenteuer begeben. Einsame Güter, Hänser und Mühlen an Flüssen und Weihern
sind Lieblingsplätze der Gestalten, welche Raabe vorzuführen liebt. Wie kaum
ein zweiter, ist er mit den kleinen deutschen Städten, mit all ihrer wunderlichen
Mannichfaltigkeit, in Patrizier- und Bürgerhäusern, stillen Höfen, Erkern und
Giebelzimmern mit altem Gerät vertraut. Die Schauplätze, auf denen ruhiges
Lebensbehagen und Idyllen aller Art gedeihen, sind ihm ans Herz gewachsen.
Seine Virtuosität in der Einzelschilderung von tausend Dingen, die doch nur
den einen Zweck haben, Behagen zu wecken, ist erstaunlich. Man nehme in
einem der liebenswürdigsten seiner neuen Bücher, im „Horacker," die Szenerie:
den Hausgarten des alten Konrektors Eckerbusch in dem mitteldeutsche« Neste,
wo die Geschichte spielt, die drei Eichen um Waldrande, die Waldblöße, auf der
der Korrektor und der Zeichenlehrer ihr Vesperbrot verzehren und ihr Aben¬
teuer erleben, den Garten und die Laube im Pfarrhause zu Gansewiuckcl, oder
im „Wunnigcl" das Haus am Schloßberg mit seiner Einrichtung von drei Jahr¬
hunderten her, oder in den „Alten Nestern" den Bauernhof des Helden und
die Fischerhütte am Fluß — überall ist in wenigen Zügen volle Anschaulich¬
keit erreicht und Stimmung erweckt. Und das Gleiche gilt von den Hinter¬
gründen auch in den größeren Romanen des Autors, wenigstens in den meisten.

Und in diese Szenerie hinein, die nie Selbstzweck wird, in der also auch
kein Überwiegen der Deskriptiv» stattfindet, wie es andre Kleinmaler lieben,
stellt Raabe Menschen, die aufs innigste mit derselben verwachsen, von dem
Heimatsgefühl in aller Stärke erfüllt sind, zumeist durch wunderliche Schicksale
ihrem ursprünglichen Boden entrissen werden, aber mit aller Kraft und Zähig¬
keit deutschen Wesens nach demselben zurückverlangen, ihn sich zurückerobern.
Die Mannichfaltigkeit der Menschengestalten, ihrer äußern und geistigen Er¬
scheinungen, ihrer Vorbedingungen und Verbindungen, ihrer Humore und Schick¬
sale ist ganz außerordentlich. Auf den ersten Blick scheinen viele Charaktere
Raabcs, namentlich die ans dem deutschen Philistertum genommenen, einander
ähnlich zu sein. Genauer betrachtet stellt sich jedesmal eine Verschiedenheit im
Kern heraus. Der deutsche Individualismus, der am liebsten seinen Gott und
seinen König für sich allein nach eigensten Geschmack haben möchte, tritt uus
mit all seiner Wunderlichkeit, mit seinen leicht erkennbaren Mängeln und seineu
tieferen Vorzügen entgegen, Raabe ist weder an sich ein Freund der modernsten
Uniformirung, noch hegt er den Glauben, daß dieselbe der Poesie ersprießlich
sein werde. Mit liebevollen Blick auch für die unscheinbarsten Besonderheiten,


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[0351] Wilhelm Raabe. wart oder die unmittelbare Vergangenheit deutschen Lebens hineingreift und schon in der Darstellung der Szenerie seinen Zauber bewährt. Denn in allen deut¬ schen Gegenden, in allen Hügellandschaften und stillen Waldwinkeln ist der Autor zu Hause, seine Menschen läßt er in den einfachen und doch unerschöpf¬ lichen Schönheiten von Haide und Holz, Feld und Wiese schwelgen — im Sonnenlicht ziehen die Wolken über die Landschaften hin, in denen sich die Abenteuer begeben. Einsame Güter, Hänser und Mühlen an Flüssen und Weihern sind Lieblingsplätze der Gestalten, welche Raabe vorzuführen liebt. Wie kaum ein zweiter, ist er mit den kleinen deutschen Städten, mit all ihrer wunderlichen Mannichfaltigkeit, in Patrizier- und Bürgerhäusern, stillen Höfen, Erkern und Giebelzimmern mit altem Gerät vertraut. Die Schauplätze, auf denen ruhiges Lebensbehagen und Idyllen aller Art gedeihen, sind ihm ans Herz gewachsen. Seine Virtuosität in der Einzelschilderung von tausend Dingen, die doch nur den einen Zweck haben, Behagen zu wecken, ist erstaunlich. Man nehme in einem der liebenswürdigsten seiner neuen Bücher, im „Horacker," die Szenerie: den Hausgarten des alten Konrektors Eckerbusch in dem mitteldeutsche« Neste, wo die Geschichte spielt, die drei Eichen um Waldrande, die Waldblöße, auf der der Korrektor und der Zeichenlehrer ihr Vesperbrot verzehren und ihr Aben¬ teuer erleben, den Garten und die Laube im Pfarrhause zu Gansewiuckcl, oder im „Wunnigcl" das Haus am Schloßberg mit seiner Einrichtung von drei Jahr¬ hunderten her, oder in den „Alten Nestern" den Bauernhof des Helden und die Fischerhütte am Fluß — überall ist in wenigen Zügen volle Anschaulich¬ keit erreicht und Stimmung erweckt. Und das Gleiche gilt von den Hinter¬ gründen auch in den größeren Romanen des Autors, wenigstens in den meisten. Und in diese Szenerie hinein, die nie Selbstzweck wird, in der also auch kein Überwiegen der Deskriptiv» stattfindet, wie es andre Kleinmaler lieben, stellt Raabe Menschen, die aufs innigste mit derselben verwachsen, von dem Heimatsgefühl in aller Stärke erfüllt sind, zumeist durch wunderliche Schicksale ihrem ursprünglichen Boden entrissen werden, aber mit aller Kraft und Zähig¬ keit deutschen Wesens nach demselben zurückverlangen, ihn sich zurückerobern. Die Mannichfaltigkeit der Menschengestalten, ihrer äußern und geistigen Er¬ scheinungen, ihrer Vorbedingungen und Verbindungen, ihrer Humore und Schick¬ sale ist ganz außerordentlich. Auf den ersten Blick scheinen viele Charaktere Raabcs, namentlich die ans dem deutschen Philistertum genommenen, einander ähnlich zu sein. Genauer betrachtet stellt sich jedesmal eine Verschiedenheit im Kern heraus. Der deutsche Individualismus, der am liebsten seinen Gott und seinen König für sich allein nach eigensten Geschmack haben möchte, tritt uus mit all seiner Wunderlichkeit, mit seinen leicht erkennbaren Mängeln und seineu tieferen Vorzügen entgegen, Raabe ist weder an sich ein Freund der modernsten Uniformirung, noch hegt er den Glauben, daß dieselbe der Poesie ersprießlich sein werde. Mit liebevollen Blick auch für die unscheinbarsten Besonderheiten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/351>, abgerufen am 29.06.2024.