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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Wilhelm Raabe.

und in ihren tausend verschwindenden Einzelheiten aufsucht und darstellt. Die
schlechte Modernität ist ihm der Gegensatz zu allem echten und lobenswerten
Leben, und jedesmal, wo er ihr begegnet, nimmt sei" Humor unwillkürlich etwas
von der Schärfe und Unbarmherzigkeit der Satire an, und die Typen, mit
welchen er sie darstellt, erhalten eine Wendung zur Karikatur. Die poetische
Grundstimmung unsres Schriftstellers erträgt jede Art von Philisterium und
gutmütiger Beschränktheit, von menschlicher Hilssbedürftigkeit und von Irrtum,
jede Art von Laune und Absonderlichkeit, sie gewinnt gescheiterten Existenzen
und verkümmerten Naturen noch etwas Liebenswertes, einen hellen Schimmer
und Nachglanz ab, aber sie weigert sich, in der eitlen Selbstbespiegelung, im
Erhabenheitsdünkel und der egoistisch-brutalen Lebensanschauung der jüngsten
Tage irgendwelche Poesie zu sehen. Der vielgeschvltene Pessimismus Raabcs
läuft wenigstens zu Zeiten darauf hinaus, das; die Kegel für diese Kugeln zu
günstig gesetzt sind, daß die nackte Gleichgiltigkeit und die freche Überhebung
es heutzutage oft gar so leicht und wohlfeil hat, das Bessere unter die plumpen
Füße zu treten.

Es ist schon oben gesagt worden, daß Raabe von dein Rechte des Humoristen,
die Komposition seiner Erzählungen leichter nud lockerer zu halten, jede festere
Jneinanderfügung durch allerhand Gerank und Blütterbelleidung zu verstecke",
sehr ausgiebigen Gebrauch macht, und daß er, da es sich ihm wesentlich um
Charakteristih in den Proportionen und Zusammenhängen seiner Erzählungen han¬
delt, eben uicht mustergiltig genannt werden kann. Am ehesten erreicht er eine ge
wisse Geschlossenheit und das Gleichmaß aller Teile in seinen kleineren Komposi¬
tionen; wir werdeu noch auf einige derselben hinzuweisen haben, die auch den
strengsten Anforderungen in dieser Beziehung entsprechen. In den größeren
Romanen gesellt sich zu der Art, über Wichtiges hinwegzuspringen und das
Recht des epischen Netardirens gelegentlich zu brauchen, hie und da eine gewisse
Undeutlichkeit, eine Vorliebe für Einzelgestalten, deren frühere schwere Schicksale
in einem bedenklichen Dunkel liegen, eine Neigung, mit bloßen Andeutungen
und gleichsam mit poetischen Ausrufungszeichen zu wirken. Diese letztem können
im Drama zu Zeiten einen vollen Eindruck hervorbringe", in der Erzählung
nnr dann, wenn sie dramatisch, im Munde der vorgeführten Gestalten, nicht
aber, wenn sie in der Zwischensprache des Erzählers vorkommen. Entsprechend
der Eigenart der Raabeschen Kompositionc", ans welche wir bei den Einzel¬
werken näher einzugehen haben, ist auch der Stil des Schriftstellers in gewisser
Weise ungleich. Er erhebt sich zu großer Kraft und einer außerordentlichen
Anmut, wo Raabe im vollen Fluß der Darstellung ist, und er behält etwas
Lebendig-Gewinnendes, solange der Autor ganz bei seinem Gegenstande weilt.
Hat er sich mit Reflexionen und Seitenblicken von demselben entfernt, muß er
gleichsam erst wieder einen Anlauf nehmen, so erhält auch sein Stil etwas Ab¬
gerissenes, Unfertiges, merkwürdig Schwankendes. Immer aber bleibt es im


Grouzboten I. 1882, 44
Wilhelm Raabe.

und in ihren tausend verschwindenden Einzelheiten aufsucht und darstellt. Die
schlechte Modernität ist ihm der Gegensatz zu allem echten und lobenswerten
Leben, und jedesmal, wo er ihr begegnet, nimmt sei» Humor unwillkürlich etwas
von der Schärfe und Unbarmherzigkeit der Satire an, und die Typen, mit
welchen er sie darstellt, erhalten eine Wendung zur Karikatur. Die poetische
Grundstimmung unsres Schriftstellers erträgt jede Art von Philisterium und
gutmütiger Beschränktheit, von menschlicher Hilssbedürftigkeit und von Irrtum,
jede Art von Laune und Absonderlichkeit, sie gewinnt gescheiterten Existenzen
und verkümmerten Naturen noch etwas Liebenswertes, einen hellen Schimmer
und Nachglanz ab, aber sie weigert sich, in der eitlen Selbstbespiegelung, im
Erhabenheitsdünkel und der egoistisch-brutalen Lebensanschauung der jüngsten
Tage irgendwelche Poesie zu sehen. Der vielgeschvltene Pessimismus Raabcs
läuft wenigstens zu Zeiten darauf hinaus, das; die Kegel für diese Kugeln zu
günstig gesetzt sind, daß die nackte Gleichgiltigkeit und die freche Überhebung
es heutzutage oft gar so leicht und wohlfeil hat, das Bessere unter die plumpen
Füße zu treten.

Es ist schon oben gesagt worden, daß Raabe von dein Rechte des Humoristen,
die Komposition seiner Erzählungen leichter nud lockerer zu halten, jede festere
Jneinanderfügung durch allerhand Gerank und Blütterbelleidung zu verstecke»,
sehr ausgiebigen Gebrauch macht, und daß er, da es sich ihm wesentlich um
Charakteristih in den Proportionen und Zusammenhängen seiner Erzählungen han¬
delt, eben uicht mustergiltig genannt werden kann. Am ehesten erreicht er eine ge
wisse Geschlossenheit und das Gleichmaß aller Teile in seinen kleineren Komposi¬
tionen; wir werdeu noch auf einige derselben hinzuweisen haben, die auch den
strengsten Anforderungen in dieser Beziehung entsprechen. In den größeren
Romanen gesellt sich zu der Art, über Wichtiges hinwegzuspringen und das
Recht des epischen Netardirens gelegentlich zu brauchen, hie und da eine gewisse
Undeutlichkeit, eine Vorliebe für Einzelgestalten, deren frühere schwere Schicksale
in einem bedenklichen Dunkel liegen, eine Neigung, mit bloßen Andeutungen
und gleichsam mit poetischen Ausrufungszeichen zu wirken. Diese letztem können
im Drama zu Zeiten einen vollen Eindruck hervorbringe», in der Erzählung
nnr dann, wenn sie dramatisch, im Munde der vorgeführten Gestalten, nicht
aber, wenn sie in der Zwischensprache des Erzählers vorkommen. Entsprechend
der Eigenart der Raabeschen Kompositionc», ans welche wir bei den Einzel¬
werken näher einzugehen haben, ist auch der Stil des Schriftstellers in gewisser
Weise ungleich. Er erhebt sich zu großer Kraft und einer außerordentlichen
Anmut, wo Raabe im vollen Fluß der Darstellung ist, und er behält etwas
Lebendig-Gewinnendes, solange der Autor ganz bei seinem Gegenstande weilt.
Hat er sich mit Reflexionen und Seitenblicken von demselben entfernt, muß er
gleichsam erst wieder einen Anlauf nehmen, so erhält auch sein Stil etwas Ab¬
gerissenes, Unfertiges, merkwürdig Schwankendes. Immer aber bleibt es im


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[0353] Wilhelm Raabe. und in ihren tausend verschwindenden Einzelheiten aufsucht und darstellt. Die schlechte Modernität ist ihm der Gegensatz zu allem echten und lobenswerten Leben, und jedesmal, wo er ihr begegnet, nimmt sei» Humor unwillkürlich etwas von der Schärfe und Unbarmherzigkeit der Satire an, und die Typen, mit welchen er sie darstellt, erhalten eine Wendung zur Karikatur. Die poetische Grundstimmung unsres Schriftstellers erträgt jede Art von Philisterium und gutmütiger Beschränktheit, von menschlicher Hilssbedürftigkeit und von Irrtum, jede Art von Laune und Absonderlichkeit, sie gewinnt gescheiterten Existenzen und verkümmerten Naturen noch etwas Liebenswertes, einen hellen Schimmer und Nachglanz ab, aber sie weigert sich, in der eitlen Selbstbespiegelung, im Erhabenheitsdünkel und der egoistisch-brutalen Lebensanschauung der jüngsten Tage irgendwelche Poesie zu sehen. Der vielgeschvltene Pessimismus Raabcs läuft wenigstens zu Zeiten darauf hinaus, das; die Kegel für diese Kugeln zu günstig gesetzt sind, daß die nackte Gleichgiltigkeit und die freche Überhebung es heutzutage oft gar so leicht und wohlfeil hat, das Bessere unter die plumpen Füße zu treten. Es ist schon oben gesagt worden, daß Raabe von dein Rechte des Humoristen, die Komposition seiner Erzählungen leichter nud lockerer zu halten, jede festere Jneinanderfügung durch allerhand Gerank und Blütterbelleidung zu verstecke», sehr ausgiebigen Gebrauch macht, und daß er, da es sich ihm wesentlich um Charakteristih in den Proportionen und Zusammenhängen seiner Erzählungen han¬ delt, eben uicht mustergiltig genannt werden kann. Am ehesten erreicht er eine ge wisse Geschlossenheit und das Gleichmaß aller Teile in seinen kleineren Komposi¬ tionen; wir werdeu noch auf einige derselben hinzuweisen haben, die auch den strengsten Anforderungen in dieser Beziehung entsprechen. In den größeren Romanen gesellt sich zu der Art, über Wichtiges hinwegzuspringen und das Recht des epischen Netardirens gelegentlich zu brauchen, hie und da eine gewisse Undeutlichkeit, eine Vorliebe für Einzelgestalten, deren frühere schwere Schicksale in einem bedenklichen Dunkel liegen, eine Neigung, mit bloßen Andeutungen und gleichsam mit poetischen Ausrufungszeichen zu wirken. Diese letztem können im Drama zu Zeiten einen vollen Eindruck hervorbringe», in der Erzählung nnr dann, wenn sie dramatisch, im Munde der vorgeführten Gestalten, nicht aber, wenn sie in der Zwischensprache des Erzählers vorkommen. Entsprechend der Eigenart der Raabeschen Kompositionc», ans welche wir bei den Einzel¬ werken näher einzugehen haben, ist auch der Stil des Schriftstellers in gewisser Weise ungleich. Er erhebt sich zu großer Kraft und einer außerordentlichen Anmut, wo Raabe im vollen Fluß der Darstellung ist, und er behält etwas Lebendig-Gewinnendes, solange der Autor ganz bei seinem Gegenstande weilt. Hat er sich mit Reflexionen und Seitenblicken von demselben entfernt, muß er gleichsam erst wieder einen Anlauf nehmen, so erhält auch sein Stil etwas Ab¬ gerissenes, Unfertiges, merkwürdig Schwankendes. Immer aber bleibt es im Grouzboten I. 1882, 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/353>, abgerufen am 29.06.2024.