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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Mlholm Raabe,

literarische Produkt oder die Natur, die sich in einer Reihe literarischer Produkte
darstellt, hervorbringt.

Wenige bekannte Autoren werden sich rühme" können, daß ihre Wirkung
im ganzen liebenswürdiger, anmutender und erquicklicher sei als diejenige, deren
der Erzähler Wilhelm Raube sich rühmen darf. Zwar laufen bei einem so besonders
angelegten und so fleißigen Schriftsteller, wie der Verfasser des "Hungerpastor"
und "Schüdderump" ist, allerhand Erfindungen und Gestalten mit unter, an
denen allenfalls uur einzelne seiner zahlreichen Leser Wohlgefallen finden können.
Aber dafür entschädigt die Mehrzahl seiner Arbeiten durch Gemütstiefe und
Phnntasiereichtum und vor allem durch ein goldnes Heimatgcfühl für die pessi¬
mistischen und herben Stimmungen, denen auch dieser Dichter der Gegenwart
leider zu Zeiten unterliegt.

Wilhelm Raubes Talent hat seit den ersten fünfziger Jahre", wo er "ut
der "Chronik der Sperlingsgassc" in die Literatur trat, eine sehr bedeutsame
Entwicklung erfahren; gleichwohl sind gewisse Grundelemente des eigentümlichen
humoristischen Schriftstellers schon in seinen Erstlingsschriften vorhanden gewesen
und bis heute wirksam geblieben. Auch die Neigung zu", Pessimismus tritt für
den schärferen Beobachter schon in den frühesten, von vielen Seiten als völlig
unbefangen und harmlos erachteten Phantasiestückeu unzweifelhaft hervor. Aber
freilich hat dieser Pessimismus Naabes eine ganz besondre Färbung und äußert
sich vor allen Dingen weder gespreizt noch rcnommistisch (wie bei andern Gliedern
der pessimistischen Schule), sondern wächst aus der besondern Anhänglichkeit des
Dichters an gewisse einfache, ursprüngliche, von ihm mit leidenschaftlicher Wärme
ergriffene Zustände und Lebenserscheinungen hervor. Indem er diese Zustände,
die er preist und nicht leugnet, die er mit inniger Liebe als völlig wirkliche darstellt,
beständig von dämonischen Gewalten, welche die verschiedenste Gestalt annehmen,
bedroht und zu Zeiten wenigstens vernichtet sieht, überkommt ihn zwar nicht ohne
weitres die unerschütterliche Überzeugung, daß die Summe der unvermeidlichen
Leiden die Genüsse des Lebens weit überwiege, aber die Frage nach dem Ver¬
hältnis, in dem die einen zu den andern stehen, kann er sich nicht immer ver¬
sagen. Und so kommt es darauf an, welche Antwort unser Autor sich und seinen
Lesern im einzelnen Falle erteilt. Oft genng fällt dieselbe so ans, daß der Leser,
welcher nur den einen Teil, sagen wir die eine Hälfte der Naabeschen Schriften
kennen lernte, aus ihnen einen durchaus sonnigen, heitern, mit den Unvollkommen-
heiten des Lebens wohlthätig versöhnenden Eindruck empfangen müßte, während
die übrigen wenigstens dunkeln Bildern gleichen, in die nur ein breites, mächtiges
Licht hineinfällt und unwiderstehlich anlockt.

Wilhelm Naabes Begabung ist keine einseitige, eine Anzahl seiner besten
Erzählungen dürfen historische im vollen Sinne des Wortes genannt werden,
den Hintergrund verschiedener Zeiten weiß er mit Meisterschaft zu schildern. Aber
die freieste Entfaltung gewinnt seine Phantasie doch, so oft er in die Gegen-


Mlholm Raabe,

literarische Produkt oder die Natur, die sich in einer Reihe literarischer Produkte
darstellt, hervorbringt.

Wenige bekannte Autoren werden sich rühme» können, daß ihre Wirkung
im ganzen liebenswürdiger, anmutender und erquicklicher sei als diejenige, deren
der Erzähler Wilhelm Raube sich rühmen darf. Zwar laufen bei einem so besonders
angelegten und so fleißigen Schriftsteller, wie der Verfasser des „Hungerpastor"
und „Schüdderump" ist, allerhand Erfindungen und Gestalten mit unter, an
denen allenfalls uur einzelne seiner zahlreichen Leser Wohlgefallen finden können.
Aber dafür entschädigt die Mehrzahl seiner Arbeiten durch Gemütstiefe und
Phnntasiereichtum und vor allem durch ein goldnes Heimatgcfühl für die pessi¬
mistischen und herben Stimmungen, denen auch dieser Dichter der Gegenwart
leider zu Zeiten unterliegt.

Wilhelm Raubes Talent hat seit den ersten fünfziger Jahre», wo er »ut
der „Chronik der Sperlingsgassc" in die Literatur trat, eine sehr bedeutsame
Entwicklung erfahren; gleichwohl sind gewisse Grundelemente des eigentümlichen
humoristischen Schriftstellers schon in seinen Erstlingsschriften vorhanden gewesen
und bis heute wirksam geblieben. Auch die Neigung zu», Pessimismus tritt für
den schärferen Beobachter schon in den frühesten, von vielen Seiten als völlig
unbefangen und harmlos erachteten Phantasiestückeu unzweifelhaft hervor. Aber
freilich hat dieser Pessimismus Naabes eine ganz besondre Färbung und äußert
sich vor allen Dingen weder gespreizt noch rcnommistisch (wie bei andern Gliedern
der pessimistischen Schule), sondern wächst aus der besondern Anhänglichkeit des
Dichters an gewisse einfache, ursprüngliche, von ihm mit leidenschaftlicher Wärme
ergriffene Zustände und Lebenserscheinungen hervor. Indem er diese Zustände,
die er preist und nicht leugnet, die er mit inniger Liebe als völlig wirkliche darstellt,
beständig von dämonischen Gewalten, welche die verschiedenste Gestalt annehmen,
bedroht und zu Zeiten wenigstens vernichtet sieht, überkommt ihn zwar nicht ohne
weitres die unerschütterliche Überzeugung, daß die Summe der unvermeidlichen
Leiden die Genüsse des Lebens weit überwiege, aber die Frage nach dem Ver¬
hältnis, in dem die einen zu den andern stehen, kann er sich nicht immer ver¬
sagen. Und so kommt es darauf an, welche Antwort unser Autor sich und seinen
Lesern im einzelnen Falle erteilt. Oft genng fällt dieselbe so ans, daß der Leser,
welcher nur den einen Teil, sagen wir die eine Hälfte der Naabeschen Schriften
kennen lernte, aus ihnen einen durchaus sonnigen, heitern, mit den Unvollkommen-
heiten des Lebens wohlthätig versöhnenden Eindruck empfangen müßte, während
die übrigen wenigstens dunkeln Bildern gleichen, in die nur ein breites, mächtiges
Licht hineinfällt und unwiderstehlich anlockt.

Wilhelm Naabes Begabung ist keine einseitige, eine Anzahl seiner besten
Erzählungen dürfen historische im vollen Sinne des Wortes genannt werden,
den Hintergrund verschiedener Zeiten weiß er mit Meisterschaft zu schildern. Aber
die freieste Entfaltung gewinnt seine Phantasie doch, so oft er in die Gegen-


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[0350] Mlholm Raabe, literarische Produkt oder die Natur, die sich in einer Reihe literarischer Produkte darstellt, hervorbringt. Wenige bekannte Autoren werden sich rühme» können, daß ihre Wirkung im ganzen liebenswürdiger, anmutender und erquicklicher sei als diejenige, deren der Erzähler Wilhelm Raube sich rühmen darf. Zwar laufen bei einem so besonders angelegten und so fleißigen Schriftsteller, wie der Verfasser des „Hungerpastor" und „Schüdderump" ist, allerhand Erfindungen und Gestalten mit unter, an denen allenfalls uur einzelne seiner zahlreichen Leser Wohlgefallen finden können. Aber dafür entschädigt die Mehrzahl seiner Arbeiten durch Gemütstiefe und Phnntasiereichtum und vor allem durch ein goldnes Heimatgcfühl für die pessi¬ mistischen und herben Stimmungen, denen auch dieser Dichter der Gegenwart leider zu Zeiten unterliegt. Wilhelm Raubes Talent hat seit den ersten fünfziger Jahre», wo er »ut der „Chronik der Sperlingsgassc" in die Literatur trat, eine sehr bedeutsame Entwicklung erfahren; gleichwohl sind gewisse Grundelemente des eigentümlichen humoristischen Schriftstellers schon in seinen Erstlingsschriften vorhanden gewesen und bis heute wirksam geblieben. Auch die Neigung zu», Pessimismus tritt für den schärferen Beobachter schon in den frühesten, von vielen Seiten als völlig unbefangen und harmlos erachteten Phantasiestückeu unzweifelhaft hervor. Aber freilich hat dieser Pessimismus Naabes eine ganz besondre Färbung und äußert sich vor allen Dingen weder gespreizt noch rcnommistisch (wie bei andern Gliedern der pessimistischen Schule), sondern wächst aus der besondern Anhänglichkeit des Dichters an gewisse einfache, ursprüngliche, von ihm mit leidenschaftlicher Wärme ergriffene Zustände und Lebenserscheinungen hervor. Indem er diese Zustände, die er preist und nicht leugnet, die er mit inniger Liebe als völlig wirkliche darstellt, beständig von dämonischen Gewalten, welche die verschiedenste Gestalt annehmen, bedroht und zu Zeiten wenigstens vernichtet sieht, überkommt ihn zwar nicht ohne weitres die unerschütterliche Überzeugung, daß die Summe der unvermeidlichen Leiden die Genüsse des Lebens weit überwiege, aber die Frage nach dem Ver¬ hältnis, in dem die einen zu den andern stehen, kann er sich nicht immer ver¬ sagen. Und so kommt es darauf an, welche Antwort unser Autor sich und seinen Lesern im einzelnen Falle erteilt. Oft genng fällt dieselbe so ans, daß der Leser, welcher nur den einen Teil, sagen wir die eine Hälfte der Naabeschen Schriften kennen lernte, aus ihnen einen durchaus sonnigen, heitern, mit den Unvollkommen- heiten des Lebens wohlthätig versöhnenden Eindruck empfangen müßte, während die übrigen wenigstens dunkeln Bildern gleichen, in die nur ein breites, mächtiges Licht hineinfällt und unwiderstehlich anlockt. Wilhelm Naabes Begabung ist keine einseitige, eine Anzahl seiner besten Erzählungen dürfen historische im vollen Sinne des Wortes genannt werden, den Hintergrund verschiedener Zeiten weiß er mit Meisterschaft zu schildern. Aber die freieste Entfaltung gewinnt seine Phantasie doch, so oft er in die Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/350>, abgerufen am 29.06.2024.