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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das Kaisertum und unsre nationale Politik.

antikisirendeu Vorstellungen und Theorien von: Staate, wie sie namentlich in
Frankreich ausgebildet worden sind, gehen von durchaus anderen Grundlagen
und Voraussetzungen aus, als sie die für unser Staatsleben und seine Bedürf¬
nisse einmal bestehenden und wahrhaft entscheidenden sind. In allen: Fortgange
der Geschichte aber können im allgemeinen zwei Arten von gesellschaftlichen Zu¬
ständen unterschieden werden, organische und unorganische, solche, in denen eine
bestimmte Gliederung des Ganzen in einzelne rechtlich geschiedene Abteilungen
oder Stände besteht, und solche, die auf dem Grundsatze der uuterschicdlosen
rechtlichen und politischen Gleichberechtigung der einzelnen Individuen beruhen.
In der Geschichte treten überall zu Anfang gewisse Zustände der ersteren Art
hervor, die aber dann einer allmählich fortschreitenden Auflösung, Zersetzung
oder Dekomposition unterliegen, wenn nicht etwa wie in Ägypten die einzelnen
Stände sich in kastcnartiger Erstarrung vollkommen gegeneinander isolirt und
begrenzt haben. Auch wir sind gegenwärtig nach Auflösung der früheren
Ordnungen und Schranken des Mittelalters in einen solchen unorganischen Zu¬
stand des gesellschaftlichen Lebens übergegangen. Die Gefahre", welche ein solcher
Zustand in sich trägt, sind in Verhältnissen wie in Amerika freilich nicht von
unmittelbar bedrohlicher Art. In einem alten und räumlich eingeengten Ge-
scllschaftskörpcr aber wie der unsrige treten diese Gefahren in einer mehr drin¬
genden und akuten Weise hervor als dort.

Es kann sich hier uicht etwa darum handeln, in die engen sozialen Ein¬
richtungen und Schranken des Mittelalters zurücklenken zu wollen. Auch unter
uns giebt es ja politische Romantiker wie in den Zeiten des alten Rom, welche
in dem unmöglichen und überschrittenen Ideal einer frühern Vergangenheit leben.
Weder die Idealisten des Vorwärts noch die des Zurück sind eine eigentlich
wahre und lebenskräftige Partei in unsrer Mitte. Aber auch das ganze auf
den allgemeinen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit beruhende Gcscllschafts-
weal des neueren Liberalismus kann noch nicht als die Basis einer wahren und
gesunden Ordnung des Staatslebens angesehen werden. Man steht noch viel
zu sehr unter dem Einflüsse dieser unwahren und praktisch unhaltbar ge¬
wordenen Lehren und Theorien. Das mißverstandene Ideal einer abstrakten
Humanität hat uns vielfach den Unterschied des realen Wertes und der prak¬
tische" Berechtigung zwischen den Individuen und den Gesellschaftsklassen über-
sehen lassen. Der Gedanke einer organischen Gliederung der Gesellschaft wird
wiederum anerkannt und in einer den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechenden
^ise einzuführen versucht werden müssen. Die Monarchie aber ist der
natürliche Ausdruck dieses organisatorischen Gedankens einer geordneten Gliede¬
rung im Leben der Gesellschaft. Es wird jetzt auch wesentlich nur von ihr die
^uitiative zu allen allgemeinen Fortschritten und Verbesserungen im sozialen
Lebe" ausgehen können. Es ist nicht genng, daß wir überhaupt wieder eine
^gemelli deutsche Monarchie oder ein Kaisertum haben, sondern wir müssen


Das Kaisertum und unsre nationale Politik.

antikisirendeu Vorstellungen und Theorien von: Staate, wie sie namentlich in
Frankreich ausgebildet worden sind, gehen von durchaus anderen Grundlagen
und Voraussetzungen aus, als sie die für unser Staatsleben und seine Bedürf¬
nisse einmal bestehenden und wahrhaft entscheidenden sind. In allen: Fortgange
der Geschichte aber können im allgemeinen zwei Arten von gesellschaftlichen Zu¬
ständen unterschieden werden, organische und unorganische, solche, in denen eine
bestimmte Gliederung des Ganzen in einzelne rechtlich geschiedene Abteilungen
oder Stände besteht, und solche, die auf dem Grundsatze der uuterschicdlosen
rechtlichen und politischen Gleichberechtigung der einzelnen Individuen beruhen.
In der Geschichte treten überall zu Anfang gewisse Zustände der ersteren Art
hervor, die aber dann einer allmählich fortschreitenden Auflösung, Zersetzung
oder Dekomposition unterliegen, wenn nicht etwa wie in Ägypten die einzelnen
Stände sich in kastcnartiger Erstarrung vollkommen gegeneinander isolirt und
begrenzt haben. Auch wir sind gegenwärtig nach Auflösung der früheren
Ordnungen und Schranken des Mittelalters in einen solchen unorganischen Zu¬
stand des gesellschaftlichen Lebens übergegangen. Die Gefahre», welche ein solcher
Zustand in sich trägt, sind in Verhältnissen wie in Amerika freilich nicht von
unmittelbar bedrohlicher Art. In einem alten und räumlich eingeengten Ge-
scllschaftskörpcr aber wie der unsrige treten diese Gefahren in einer mehr drin¬
genden und akuten Weise hervor als dort.

Es kann sich hier uicht etwa darum handeln, in die engen sozialen Ein¬
richtungen und Schranken des Mittelalters zurücklenken zu wollen. Auch unter
uns giebt es ja politische Romantiker wie in den Zeiten des alten Rom, welche
in dem unmöglichen und überschrittenen Ideal einer frühern Vergangenheit leben.
Weder die Idealisten des Vorwärts noch die des Zurück sind eine eigentlich
wahre und lebenskräftige Partei in unsrer Mitte. Aber auch das ganze auf
den allgemeinen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit beruhende Gcscllschafts-
weal des neueren Liberalismus kann noch nicht als die Basis einer wahren und
gesunden Ordnung des Staatslebens angesehen werden. Man steht noch viel
zu sehr unter dem Einflüsse dieser unwahren und praktisch unhaltbar ge¬
wordenen Lehren und Theorien. Das mißverstandene Ideal einer abstrakten
Humanität hat uns vielfach den Unterschied des realen Wertes und der prak¬
tische» Berechtigung zwischen den Individuen und den Gesellschaftsklassen über-
sehen lassen. Der Gedanke einer organischen Gliederung der Gesellschaft wird
wiederum anerkannt und in einer den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechenden
^ise einzuführen versucht werden müssen. Die Monarchie aber ist der
natürliche Ausdruck dieses organisatorischen Gedankens einer geordneten Gliede¬
rung im Leben der Gesellschaft. Es wird jetzt auch wesentlich nur von ihr die
^uitiative zu allen allgemeinen Fortschritten und Verbesserungen im sozialen
Lebe» ausgehen können. Es ist nicht genng, daß wir überhaupt wieder eine
^gemelli deutsche Monarchie oder ein Kaisertum haben, sondern wir müssen


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[0327] Das Kaisertum und unsre nationale Politik. antikisirendeu Vorstellungen und Theorien von: Staate, wie sie namentlich in Frankreich ausgebildet worden sind, gehen von durchaus anderen Grundlagen und Voraussetzungen aus, als sie die für unser Staatsleben und seine Bedürf¬ nisse einmal bestehenden und wahrhaft entscheidenden sind. In allen: Fortgange der Geschichte aber können im allgemeinen zwei Arten von gesellschaftlichen Zu¬ ständen unterschieden werden, organische und unorganische, solche, in denen eine bestimmte Gliederung des Ganzen in einzelne rechtlich geschiedene Abteilungen oder Stände besteht, und solche, die auf dem Grundsatze der uuterschicdlosen rechtlichen und politischen Gleichberechtigung der einzelnen Individuen beruhen. In der Geschichte treten überall zu Anfang gewisse Zustände der ersteren Art hervor, die aber dann einer allmählich fortschreitenden Auflösung, Zersetzung oder Dekomposition unterliegen, wenn nicht etwa wie in Ägypten die einzelnen Stände sich in kastcnartiger Erstarrung vollkommen gegeneinander isolirt und begrenzt haben. Auch wir sind gegenwärtig nach Auflösung der früheren Ordnungen und Schranken des Mittelalters in einen solchen unorganischen Zu¬ stand des gesellschaftlichen Lebens übergegangen. Die Gefahre», welche ein solcher Zustand in sich trägt, sind in Verhältnissen wie in Amerika freilich nicht von unmittelbar bedrohlicher Art. In einem alten und räumlich eingeengten Ge- scllschaftskörpcr aber wie der unsrige treten diese Gefahren in einer mehr drin¬ genden und akuten Weise hervor als dort. Es kann sich hier uicht etwa darum handeln, in die engen sozialen Ein¬ richtungen und Schranken des Mittelalters zurücklenken zu wollen. Auch unter uns giebt es ja politische Romantiker wie in den Zeiten des alten Rom, welche in dem unmöglichen und überschrittenen Ideal einer frühern Vergangenheit leben. Weder die Idealisten des Vorwärts noch die des Zurück sind eine eigentlich wahre und lebenskräftige Partei in unsrer Mitte. Aber auch das ganze auf den allgemeinen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit beruhende Gcscllschafts- weal des neueren Liberalismus kann noch nicht als die Basis einer wahren und gesunden Ordnung des Staatslebens angesehen werden. Man steht noch viel zu sehr unter dem Einflüsse dieser unwahren und praktisch unhaltbar ge¬ wordenen Lehren und Theorien. Das mißverstandene Ideal einer abstrakten Humanität hat uns vielfach den Unterschied des realen Wertes und der prak¬ tische» Berechtigung zwischen den Individuen und den Gesellschaftsklassen über- sehen lassen. Der Gedanke einer organischen Gliederung der Gesellschaft wird wiederum anerkannt und in einer den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechenden ^ise einzuführen versucht werden müssen. Die Monarchie aber ist der natürliche Ausdruck dieses organisatorischen Gedankens einer geordneten Gliede¬ rung im Leben der Gesellschaft. Es wird jetzt auch wesentlich nur von ihr die ^uitiative zu allen allgemeinen Fortschritten und Verbesserungen im sozialen Lebe» ausgehen können. Es ist nicht genng, daß wir überhaupt wieder eine ^gemelli deutsche Monarchie oder ein Kaisertum haben, sondern wir müssen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/327>, abgerufen am 28.09.2024.