Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Kaisertum und unsre nationale Politik.

rechts der Massen den allein wahren Schlüssel aller politischen Weisheit und
Gerechtigkeit aufgefunden zu haben glauben.

Die allein richtige Lehrmeisterin über den wahren Wert aller politischen
Theorien ist zuletzt die Geschichte. Wir greifen zu einer Theorie in der Regel
erst dann, wenn uns der Boden der praktischen Wirklichkeit unter den Füßen
verschwindet oder wenn uns die Natur gleichsam ihren Dienst zu den gebotenen
Zwecken des Lebens versagt. In der französischen Revolution kvnstmirte man
den Staat nach einer abstrakten Theorie, nachdem man den wirklichen Staat
als faul und unbrauchbar zur Thüre hinausgeworfen hatte. In Rom im Alter¬
tum und in England in der neuern Zeit hat sich das Staatsleben von selbst
und organisch oder ohne wesentliche Beihilfe allgemeiner Theorien weiter ent¬
wickelt. Anders in Frankreich, welches damals mit feiner ganzen früheren Ge¬
schichte brach und daher den Staat ganz von frischem nach allgemeinen Theorien
und Grundsätzen aufzubauen versuchte. Wir in Deutschland haben wohl diese
allgemeinen Theorien Frankreichs nachgeahmt und ans unsern Boden übertragen,
über doch immer nur schüchtern und mit halbem oder unvollkommenem Erfolg.
Deutschland hat nie so vollständig mit seiner ganzen früheren Geschichte und
Vergangenheit gebrochen wie Frankreich. Der Grund hiervon war der, daß
die Monarchie oder die einheitliche politische Centralgewalt bei uns ihre Auf¬
gabe von Anfang an tiefer, wahrhafter und vollkommener aufgefaßt hat als dort.
Freilich im dreißigjährigen Kriege war uns die politische Einheit dem Wesen
oder der Hauptsache nach verloren gegangen. Aber in den einzelnen Gebieten
und namentlich in den größeren Staaten hatte sich von da an die Monarchie
im allgemeinen ihrer Aufgabe der politischen Konsolidirung des gesellschaftlichen
Lebens und der Beförderung des Vvlkswohles durch Beseitigung des Druckes
der feudalen Privilegien mit Eifer und Hingebung unterzogen. Man kann sagen,
daß die Monarchie in Deutschland eine echt demokratische und darum auch wahr¬
haft volkstümliche Einrichtung geworden ist. Das wahre Interesse der Mo¬
narchie und des Volkes im weiteren Sinne ist eines und dasselbe, nämlich das
an einer wohlgeordneten, einheitlichen und starken Regierung und Verwaltung
des Staates. In Frankreich dagegen hatte sich die Monarchie identifizirt nicht
mit den Interessen des Volkes, sondern mit denen der höhern Privilegium
Stände oder der Aristokratie. Sie sank daher mit diesen zusammen in den Ab¬
grund des revolutionären Kraters hinab. Der ganze Kampf mit den Einrich¬
tungen und Traditionen des Mittelalters ist in Deutschland wesentlich von oben
herab oder durch die Monarchie eingeleitet und geführt worden. Etwas Ähn¬
liches ist fast in keinem neueren europäischen Laude geschehen. Wir sehen überall
die Monarchie entweder überhaupt entwurzelt oder wie in England zu einem
bloßen romantischen Schattcnbilde ihrer eigentlichen Bedeutung zusmnmenge-
schwnnde". Diese bei uns erwachsene Institution muß durchaus anerkannt und
^ ihrem Wesen richtig aufzufassen und zu verstehen versucht werden. Unser


Das Kaisertum und unsre nationale Politik.

rechts der Massen den allein wahren Schlüssel aller politischen Weisheit und
Gerechtigkeit aufgefunden zu haben glauben.

Die allein richtige Lehrmeisterin über den wahren Wert aller politischen
Theorien ist zuletzt die Geschichte. Wir greifen zu einer Theorie in der Regel
erst dann, wenn uns der Boden der praktischen Wirklichkeit unter den Füßen
verschwindet oder wenn uns die Natur gleichsam ihren Dienst zu den gebotenen
Zwecken des Lebens versagt. In der französischen Revolution kvnstmirte man
den Staat nach einer abstrakten Theorie, nachdem man den wirklichen Staat
als faul und unbrauchbar zur Thüre hinausgeworfen hatte. In Rom im Alter¬
tum und in England in der neuern Zeit hat sich das Staatsleben von selbst
und organisch oder ohne wesentliche Beihilfe allgemeiner Theorien weiter ent¬
wickelt. Anders in Frankreich, welches damals mit feiner ganzen früheren Ge¬
schichte brach und daher den Staat ganz von frischem nach allgemeinen Theorien
und Grundsätzen aufzubauen versuchte. Wir in Deutschland haben wohl diese
allgemeinen Theorien Frankreichs nachgeahmt und ans unsern Boden übertragen,
über doch immer nur schüchtern und mit halbem oder unvollkommenem Erfolg.
Deutschland hat nie so vollständig mit seiner ganzen früheren Geschichte und
Vergangenheit gebrochen wie Frankreich. Der Grund hiervon war der, daß
die Monarchie oder die einheitliche politische Centralgewalt bei uns ihre Auf¬
gabe von Anfang an tiefer, wahrhafter und vollkommener aufgefaßt hat als dort.
Freilich im dreißigjährigen Kriege war uns die politische Einheit dem Wesen
oder der Hauptsache nach verloren gegangen. Aber in den einzelnen Gebieten
und namentlich in den größeren Staaten hatte sich von da an die Monarchie
im allgemeinen ihrer Aufgabe der politischen Konsolidirung des gesellschaftlichen
Lebens und der Beförderung des Vvlkswohles durch Beseitigung des Druckes
der feudalen Privilegien mit Eifer und Hingebung unterzogen. Man kann sagen,
daß die Monarchie in Deutschland eine echt demokratische und darum auch wahr¬
haft volkstümliche Einrichtung geworden ist. Das wahre Interesse der Mo¬
narchie und des Volkes im weiteren Sinne ist eines und dasselbe, nämlich das
an einer wohlgeordneten, einheitlichen und starken Regierung und Verwaltung
des Staates. In Frankreich dagegen hatte sich die Monarchie identifizirt nicht
mit den Interessen des Volkes, sondern mit denen der höhern Privilegium
Stände oder der Aristokratie. Sie sank daher mit diesen zusammen in den Ab¬
grund des revolutionären Kraters hinab. Der ganze Kampf mit den Einrich¬
tungen und Traditionen des Mittelalters ist in Deutschland wesentlich von oben
herab oder durch die Monarchie eingeleitet und geführt worden. Etwas Ähn¬
liches ist fast in keinem neueren europäischen Laude geschehen. Wir sehen überall
die Monarchie entweder überhaupt entwurzelt oder wie in England zu einem
bloßen romantischen Schattcnbilde ihrer eigentlichen Bedeutung zusmnmenge-
schwnnde». Diese bei uns erwachsene Institution muß durchaus anerkannt und
^ ihrem Wesen richtig aufzufassen und zu verstehen versucht werden. Unser


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86444"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Kaisertum und unsre nationale Politik.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1370" prev="#ID_1369"> rechts der Massen den allein wahren Schlüssel aller politischen Weisheit und<lb/>
Gerechtigkeit aufgefunden zu haben glauben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1371" next="#ID_1372"> Die allein richtige Lehrmeisterin über den wahren Wert aller politischen<lb/>
Theorien ist zuletzt die Geschichte. Wir greifen zu einer Theorie in der Regel<lb/>
erst dann, wenn uns der Boden der praktischen Wirklichkeit unter den Füßen<lb/>
verschwindet oder wenn uns die Natur gleichsam ihren Dienst zu den gebotenen<lb/>
Zwecken des Lebens versagt. In der französischen Revolution kvnstmirte man<lb/>
den Staat nach einer abstrakten Theorie, nachdem man den wirklichen Staat<lb/>
als faul und unbrauchbar zur Thüre hinausgeworfen hatte. In Rom im Alter¬<lb/>
tum und in England in der neuern Zeit hat sich das Staatsleben von selbst<lb/>
und organisch oder ohne wesentliche Beihilfe allgemeiner Theorien weiter ent¬<lb/>
wickelt. Anders in Frankreich, welches damals mit feiner ganzen früheren Ge¬<lb/>
schichte brach und daher den Staat ganz von frischem nach allgemeinen Theorien<lb/>
und Grundsätzen aufzubauen versuchte. Wir in Deutschland haben wohl diese<lb/>
allgemeinen Theorien Frankreichs nachgeahmt und ans unsern Boden übertragen,<lb/>
über doch immer nur schüchtern und mit halbem oder unvollkommenem Erfolg.<lb/>
Deutschland hat nie so vollständig mit seiner ganzen früheren Geschichte und<lb/>
Vergangenheit gebrochen wie Frankreich. Der Grund hiervon war der, daß<lb/>
die Monarchie oder die einheitliche politische Centralgewalt bei uns ihre Auf¬<lb/>
gabe von Anfang an tiefer, wahrhafter und vollkommener aufgefaßt hat als dort.<lb/>
Freilich im dreißigjährigen Kriege war uns die politische Einheit dem Wesen<lb/>
oder der Hauptsache nach verloren gegangen. Aber in den einzelnen Gebieten<lb/>
und namentlich in den größeren Staaten hatte sich von da an die Monarchie<lb/>
im allgemeinen ihrer Aufgabe der politischen Konsolidirung des gesellschaftlichen<lb/>
Lebens und der Beförderung des Vvlkswohles durch Beseitigung des Druckes<lb/>
der feudalen Privilegien mit Eifer und Hingebung unterzogen. Man kann sagen,<lb/>
daß die Monarchie in Deutschland eine echt demokratische und darum auch wahr¬<lb/>
haft volkstümliche Einrichtung geworden ist. Das wahre Interesse der Mo¬<lb/>
narchie und des Volkes im weiteren Sinne ist eines und dasselbe, nämlich das<lb/>
an einer wohlgeordneten, einheitlichen und starken Regierung und Verwaltung<lb/>
des Staates. In Frankreich dagegen hatte sich die Monarchie identifizirt nicht<lb/>
mit den Interessen des Volkes, sondern mit denen der höhern Privilegium<lb/>
Stände oder der Aristokratie. Sie sank daher mit diesen zusammen in den Ab¬<lb/>
grund des revolutionären Kraters hinab. Der ganze Kampf mit den Einrich¬<lb/>
tungen und Traditionen des Mittelalters ist in Deutschland wesentlich von oben<lb/>
herab oder durch die Monarchie eingeleitet und geführt worden. Etwas Ähn¬<lb/>
liches ist fast in keinem neueren europäischen Laude geschehen. Wir sehen überall<lb/>
die Monarchie entweder überhaupt entwurzelt oder wie in England zu einem<lb/>
bloßen romantischen Schattcnbilde ihrer eigentlichen Bedeutung zusmnmenge-<lb/>
schwnnde». Diese bei uns erwachsene Institution muß durchaus anerkannt und<lb/>
^ ihrem Wesen richtig aufzufassen und zu verstehen versucht werden. Unser</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0323] Das Kaisertum und unsre nationale Politik. rechts der Massen den allein wahren Schlüssel aller politischen Weisheit und Gerechtigkeit aufgefunden zu haben glauben. Die allein richtige Lehrmeisterin über den wahren Wert aller politischen Theorien ist zuletzt die Geschichte. Wir greifen zu einer Theorie in der Regel erst dann, wenn uns der Boden der praktischen Wirklichkeit unter den Füßen verschwindet oder wenn uns die Natur gleichsam ihren Dienst zu den gebotenen Zwecken des Lebens versagt. In der französischen Revolution kvnstmirte man den Staat nach einer abstrakten Theorie, nachdem man den wirklichen Staat als faul und unbrauchbar zur Thüre hinausgeworfen hatte. In Rom im Alter¬ tum und in England in der neuern Zeit hat sich das Staatsleben von selbst und organisch oder ohne wesentliche Beihilfe allgemeiner Theorien weiter ent¬ wickelt. Anders in Frankreich, welches damals mit feiner ganzen früheren Ge¬ schichte brach und daher den Staat ganz von frischem nach allgemeinen Theorien und Grundsätzen aufzubauen versuchte. Wir in Deutschland haben wohl diese allgemeinen Theorien Frankreichs nachgeahmt und ans unsern Boden übertragen, über doch immer nur schüchtern und mit halbem oder unvollkommenem Erfolg. Deutschland hat nie so vollständig mit seiner ganzen früheren Geschichte und Vergangenheit gebrochen wie Frankreich. Der Grund hiervon war der, daß die Monarchie oder die einheitliche politische Centralgewalt bei uns ihre Auf¬ gabe von Anfang an tiefer, wahrhafter und vollkommener aufgefaßt hat als dort. Freilich im dreißigjährigen Kriege war uns die politische Einheit dem Wesen oder der Hauptsache nach verloren gegangen. Aber in den einzelnen Gebieten und namentlich in den größeren Staaten hatte sich von da an die Monarchie im allgemeinen ihrer Aufgabe der politischen Konsolidirung des gesellschaftlichen Lebens und der Beförderung des Vvlkswohles durch Beseitigung des Druckes der feudalen Privilegien mit Eifer und Hingebung unterzogen. Man kann sagen, daß die Monarchie in Deutschland eine echt demokratische und darum auch wahr¬ haft volkstümliche Einrichtung geworden ist. Das wahre Interesse der Mo¬ narchie und des Volkes im weiteren Sinne ist eines und dasselbe, nämlich das an einer wohlgeordneten, einheitlichen und starken Regierung und Verwaltung des Staates. In Frankreich dagegen hatte sich die Monarchie identifizirt nicht mit den Interessen des Volkes, sondern mit denen der höhern Privilegium Stände oder der Aristokratie. Sie sank daher mit diesen zusammen in den Ab¬ grund des revolutionären Kraters hinab. Der ganze Kampf mit den Einrich¬ tungen und Traditionen des Mittelalters ist in Deutschland wesentlich von oben herab oder durch die Monarchie eingeleitet und geführt worden. Etwas Ähn¬ liches ist fast in keinem neueren europäischen Laude geschehen. Wir sehen überall die Monarchie entweder überhaupt entwurzelt oder wie in England zu einem bloßen romantischen Schattcnbilde ihrer eigentlichen Bedeutung zusmnmenge- schwnnde». Diese bei uns erwachsene Institution muß durchaus anerkannt und ^ ihrem Wesen richtig aufzufassen und zu verstehen versucht werden. Unser

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/323
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/323>, abgerufen am 29.06.2024.