Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.Das Kaisertum und unsre nationale Politik. keine einen wahrhaft fruchtbringenden und lebenskräftigen Gedanken für die Wetter¬ Die formelle Basis unsres gegenwärtigen parlamentarischen Lebens ist das Das Kaisertum und unsre nationale Politik. keine einen wahrhaft fruchtbringenden und lebenskräftigen Gedanken für die Wetter¬ Die formelle Basis unsres gegenwärtigen parlamentarischen Lebens ist das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86443"/> <fw type="header" place="top"> Das Kaisertum und unsre nationale Politik.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1368" prev="#ID_1367"> keine einen wahrhaft fruchtbringenden und lebenskräftigen Gedanken für die Wetter¬<lb/> führung des Staatswohles überhaupt besitzt. Es wird mehr oder weniger überall<lb/> zwei Hauptparteien oder Gesammtströmungen im öffentlichen Leben geben, die<lb/> eilte, welche das gerade Bestehende möglichst zu erhalten, und die andre, welche<lb/> es nach irgend einer bestimmten Richtung hin weiterzuführen oder fortzubilden<lb/> bestrebt ist. Der nähere Inhalt und Charakter dieser Parteien aber ist überall<lb/> ein sehr verschiedner nach Maßgabe der besondern Verhältnisse jedes einzelnen<lb/> Staatslebens selbst. Was wir jetzt konservativ, fortschrittlich, liberal :c. nennen,<lb/> hat mehr oder weniger einen zufälligen oder konventionellen Sinn und Inhalt<lb/> angenommen, der mehr eine bestimmte Tendenz oder eingebildete und eigensinnige<lb/> Vellcität als ein wahrhaft mögliches und erreichbares Ziel des politischen Strebens<lb/> bezeichnet. Wir nennen diesen ganzen Zustand eine Anarchie, weil, wenn nicht<lb/> noch etwas andres außer den Parteien da wäre, wir nach dem Hindurchgange<lb/> durch irgend ein politisches Chaos zuletzt unrettbar einer brutalen Willkür- oder<lb/> Gewaltherrschaft anheimfallen würden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1369" next="#ID_1370"> Die formelle Basis unsres gegenwärtigen parlamentarischen Lebens ist das<lb/> gleichmäßige allgemeine Stimm- oder Wahlrecht, die sogenannte breiteste demo¬<lb/> kratische Grundlage, welche noch von dem Jahre 1848 her sich zu uns fortge¬<lb/> pflanzt hat. Eine Staatsverfassung auf dieser Basis würde im Altertum eine<lb/> Ochlokratie genannt worden sein, eine Lebensform, die dort rechtlich eigentlich<lb/> nie bestanden hat und die namentlich von Aristoteles geradezu für die schlechteste<lb/> aller denkbaren Staatsverfassungen erklärt wird. Aber auch der Ausdruck der<lb/> Demokratie hat bei uns eine an sich falsche oder seinem wahren Sinn und Wesen<lb/> fremde Bedeutung angenommen. Im Altertum unterschied man bestimmt die<lb/> beiden Begriffe der Demokratie und der Ochlokratie, während wir jetzt dasjenige<lb/> eine Demokratie zu nennen pflegen, was dort richtiger Ochlokratie genannt worden<lb/> wäre. Es war ein durchaus mißverstandenes Ideal einer antiken demokratischen<lb/> Republik, was man am Ende des vorigen Jahrhunderts in Frankreich zu kopiren<lb/> versuchte. Wer in Rom oder in Athen die allgemeine politische Gleichberech¬<lb/> tigung aller Menschen hätte proklamiren wollen, wäre dort einfach ins Narren¬<lb/> haus gesteckt worden. Die antiken Staatsverfnsfnngen waren ihrem allgemeinen<lb/> Typus nach deu Städteverfassungen des Mittelalters oder der neuern Zeit analog.<lb/> Überall standen die patrizischen Geschlechter und die Zünfte oder Abteilungen<lb/> der Bürgerschaft einander gegenüber. Unser politischer Begriff Volk als die<lb/> Gesammtheit aller erwachsenen männlichen Köpfe ist etwas ganz andres als der<lb/> <Z^wL in Athen oder die xlsds in Rom, Bezeichnungen, welche wesentlich unserm<lb/> speziellen Begriffe einer städtischen Bürgerschaft entsprechen. Die Staatsver-<lb/> fassungen des Altertums waren im allgemeinen wohlcrsonncne und den praktischen<lb/> Verhältnissen angepaßte politische Kunstwerke, in denen jeder Klasse der Bevöl¬<lb/> kerung ein bestimmter Anteil am öffentlichen Leben zugestanden wurde, während<lb/> wir in der rohen lind brutalen Formel des uneingeschränkten Selbstbestimmungs-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0322]
Das Kaisertum und unsre nationale Politik.
keine einen wahrhaft fruchtbringenden und lebenskräftigen Gedanken für die Wetter¬
führung des Staatswohles überhaupt besitzt. Es wird mehr oder weniger überall
zwei Hauptparteien oder Gesammtströmungen im öffentlichen Leben geben, die
eilte, welche das gerade Bestehende möglichst zu erhalten, und die andre, welche
es nach irgend einer bestimmten Richtung hin weiterzuführen oder fortzubilden
bestrebt ist. Der nähere Inhalt und Charakter dieser Parteien aber ist überall
ein sehr verschiedner nach Maßgabe der besondern Verhältnisse jedes einzelnen
Staatslebens selbst. Was wir jetzt konservativ, fortschrittlich, liberal :c. nennen,
hat mehr oder weniger einen zufälligen oder konventionellen Sinn und Inhalt
angenommen, der mehr eine bestimmte Tendenz oder eingebildete und eigensinnige
Vellcität als ein wahrhaft mögliches und erreichbares Ziel des politischen Strebens
bezeichnet. Wir nennen diesen ganzen Zustand eine Anarchie, weil, wenn nicht
noch etwas andres außer den Parteien da wäre, wir nach dem Hindurchgange
durch irgend ein politisches Chaos zuletzt unrettbar einer brutalen Willkür- oder
Gewaltherrschaft anheimfallen würden.
Die formelle Basis unsres gegenwärtigen parlamentarischen Lebens ist das
gleichmäßige allgemeine Stimm- oder Wahlrecht, die sogenannte breiteste demo¬
kratische Grundlage, welche noch von dem Jahre 1848 her sich zu uns fortge¬
pflanzt hat. Eine Staatsverfassung auf dieser Basis würde im Altertum eine
Ochlokratie genannt worden sein, eine Lebensform, die dort rechtlich eigentlich
nie bestanden hat und die namentlich von Aristoteles geradezu für die schlechteste
aller denkbaren Staatsverfassungen erklärt wird. Aber auch der Ausdruck der
Demokratie hat bei uns eine an sich falsche oder seinem wahren Sinn und Wesen
fremde Bedeutung angenommen. Im Altertum unterschied man bestimmt die
beiden Begriffe der Demokratie und der Ochlokratie, während wir jetzt dasjenige
eine Demokratie zu nennen pflegen, was dort richtiger Ochlokratie genannt worden
wäre. Es war ein durchaus mißverstandenes Ideal einer antiken demokratischen
Republik, was man am Ende des vorigen Jahrhunderts in Frankreich zu kopiren
versuchte. Wer in Rom oder in Athen die allgemeine politische Gleichberech¬
tigung aller Menschen hätte proklamiren wollen, wäre dort einfach ins Narren¬
haus gesteckt worden. Die antiken Staatsverfnsfnngen waren ihrem allgemeinen
Typus nach deu Städteverfassungen des Mittelalters oder der neuern Zeit analog.
Überall standen die patrizischen Geschlechter und die Zünfte oder Abteilungen
der Bürgerschaft einander gegenüber. Unser politischer Begriff Volk als die
Gesammtheit aller erwachsenen männlichen Köpfe ist etwas ganz andres als der
<Z^wL in Athen oder die xlsds in Rom, Bezeichnungen, welche wesentlich unserm
speziellen Begriffe einer städtischen Bürgerschaft entsprechen. Die Staatsver-
fassungen des Altertums waren im allgemeinen wohlcrsonncne und den praktischen
Verhältnissen angepaßte politische Kunstwerke, in denen jeder Klasse der Bevöl¬
kerung ein bestimmter Anteil am öffentlichen Leben zugestanden wurde, während
wir in der rohen lind brutalen Formel des uneingeschränkten Selbstbestimmungs-
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