Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Das Kaisertum und unsre nationale Politik.
von Uonrad Hermann.

uf eine Zeit des Pnrteikampfes und der mehr oder weniger wüsten
und ziellosen Anarchie ist in der Regel eine solche des Absolutismus
oder der uneingeschränkten Herrschaft irgend eines Einzelnen gefolgt.
Cäsar und Cromwell, der erste und der dritte Napoleon in unsrer
Zeit sind derartige Beispiele aus der Geschichte. Auch unter uns
giebt es jetzt wenigstens eine Anarchie der politischen Meinungen, wenn auch
sonst thatsächlich Recht, Ordnung und Frieden herrscht. Diese Anarchie der
Meinungen zeigt sich darin, daß keine unsrer gegenwärtigen politischen Parteien
wirklich regierungsfähig ist oder ein irgendwie ausführbares und praktisch mögliches
Programm besitzt. Würde z. B. Herr Windthorst oder Herr Bebel oder auch
irgend ein Häuptling der mittleren Parteien zum allmächtigen Minister berufen
werden, so würde sich sofort das durchaus Undenkbare und Unhaltbare eines
derartigen Negierungsstandpunktes herausstellen. Man darf aber fragen: Was
sind das für Staatsmänner, von denen jeder in einem abstrakten und unmög¬
lichen Ideale lebt und sich nicht um die realen Bedingungen und die praktische
Möglichkeit seiner Erreichung bekümmert? Es wird im öffentlichen Leben stets
Parteien geben müssen; aber eine wahre politische Partei kann immer nur die¬
jenige sein, welche unter gegebenen Umständen auch regierungsfähig ist, d. h. welche
ihr Ziel oder Programm auch den ganzen reale" Verhältnissen des Staatslebens
anzupassen und es aus diesen heraus seiner Verwirklichung zuzuführen versteht.
Unsre Parteien aber sind durchaus nnr Gruppen einseitiger Doktrinäre, von
denen jede wesentlich bloß von der Bekämpfung der andern lebt und von denen


Grenzboten I. 1882. 40


Das Kaisertum und unsre nationale Politik.
von Uonrad Hermann.

uf eine Zeit des Pnrteikampfes und der mehr oder weniger wüsten
und ziellosen Anarchie ist in der Regel eine solche des Absolutismus
oder der uneingeschränkten Herrschaft irgend eines Einzelnen gefolgt.
Cäsar und Cromwell, der erste und der dritte Napoleon in unsrer
Zeit sind derartige Beispiele aus der Geschichte. Auch unter uns
giebt es jetzt wenigstens eine Anarchie der politischen Meinungen, wenn auch
sonst thatsächlich Recht, Ordnung und Frieden herrscht. Diese Anarchie der
Meinungen zeigt sich darin, daß keine unsrer gegenwärtigen politischen Parteien
wirklich regierungsfähig ist oder ein irgendwie ausführbares und praktisch mögliches
Programm besitzt. Würde z. B. Herr Windthorst oder Herr Bebel oder auch
irgend ein Häuptling der mittleren Parteien zum allmächtigen Minister berufen
werden, so würde sich sofort das durchaus Undenkbare und Unhaltbare eines
derartigen Negierungsstandpunktes herausstellen. Man darf aber fragen: Was
sind das für Staatsmänner, von denen jeder in einem abstrakten und unmög¬
lichen Ideale lebt und sich nicht um die realen Bedingungen und die praktische
Möglichkeit seiner Erreichung bekümmert? Es wird im öffentlichen Leben stets
Parteien geben müssen; aber eine wahre politische Partei kann immer nur die¬
jenige sein, welche unter gegebenen Umständen auch regierungsfähig ist, d. h. welche
ihr Ziel oder Programm auch den ganzen reale» Verhältnissen des Staatslebens
anzupassen und es aus diesen heraus seiner Verwirklichung zuzuführen versteht.
Unsre Parteien aber sind durchaus nnr Gruppen einseitiger Doktrinäre, von
denen jede wesentlich bloß von der Bekämpfung der andern lebt und von denen


Grenzboten I. 1882. 40
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0321" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86442"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341835_89804/figures/grenzboten_341835_89804_86442_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das Kaisertum und unsre nationale Politik.<lb/><note type="byline"> von Uonrad Hermann.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1367" next="#ID_1368"> uf eine Zeit des Pnrteikampfes und der mehr oder weniger wüsten<lb/>
und ziellosen Anarchie ist in der Regel eine solche des Absolutismus<lb/>
oder der uneingeschränkten Herrschaft irgend eines Einzelnen gefolgt.<lb/>
Cäsar und Cromwell, der erste und der dritte Napoleon in unsrer<lb/>
Zeit sind derartige Beispiele aus der Geschichte. Auch unter uns<lb/>
giebt es jetzt wenigstens eine Anarchie der politischen Meinungen, wenn auch<lb/>
sonst thatsächlich Recht, Ordnung und Frieden herrscht. Diese Anarchie der<lb/>
Meinungen zeigt sich darin, daß keine unsrer gegenwärtigen politischen Parteien<lb/>
wirklich regierungsfähig ist oder ein irgendwie ausführbares und praktisch mögliches<lb/>
Programm besitzt. Würde z. B. Herr Windthorst oder Herr Bebel oder auch<lb/>
irgend ein Häuptling der mittleren Parteien zum allmächtigen Minister berufen<lb/>
werden, so würde sich sofort das durchaus Undenkbare und Unhaltbare eines<lb/>
derartigen Negierungsstandpunktes herausstellen. Man darf aber fragen: Was<lb/>
sind das für Staatsmänner, von denen jeder in einem abstrakten und unmög¬<lb/>
lichen Ideale lebt und sich nicht um die realen Bedingungen und die praktische<lb/>
Möglichkeit seiner Erreichung bekümmert? Es wird im öffentlichen Leben stets<lb/>
Parteien geben müssen; aber eine wahre politische Partei kann immer nur die¬<lb/>
jenige sein, welche unter gegebenen Umständen auch regierungsfähig ist, d. h. welche<lb/>
ihr Ziel oder Programm auch den ganzen reale» Verhältnissen des Staatslebens<lb/>
anzupassen und es aus diesen heraus seiner Verwirklichung zuzuführen versteht.<lb/>
Unsre Parteien aber sind durchaus nnr Gruppen einseitiger Doktrinäre, von<lb/>
denen jede wesentlich bloß von der Bekämpfung der andern lebt und von denen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1882. 40</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0321] [Abbildung] Das Kaisertum und unsre nationale Politik. von Uonrad Hermann. uf eine Zeit des Pnrteikampfes und der mehr oder weniger wüsten und ziellosen Anarchie ist in der Regel eine solche des Absolutismus oder der uneingeschränkten Herrschaft irgend eines Einzelnen gefolgt. Cäsar und Cromwell, der erste und der dritte Napoleon in unsrer Zeit sind derartige Beispiele aus der Geschichte. Auch unter uns giebt es jetzt wenigstens eine Anarchie der politischen Meinungen, wenn auch sonst thatsächlich Recht, Ordnung und Frieden herrscht. Diese Anarchie der Meinungen zeigt sich darin, daß keine unsrer gegenwärtigen politischen Parteien wirklich regierungsfähig ist oder ein irgendwie ausführbares und praktisch mögliches Programm besitzt. Würde z. B. Herr Windthorst oder Herr Bebel oder auch irgend ein Häuptling der mittleren Parteien zum allmächtigen Minister berufen werden, so würde sich sofort das durchaus Undenkbare und Unhaltbare eines derartigen Negierungsstandpunktes herausstellen. Man darf aber fragen: Was sind das für Staatsmänner, von denen jeder in einem abstrakten und unmög¬ lichen Ideale lebt und sich nicht um die realen Bedingungen und die praktische Möglichkeit seiner Erreichung bekümmert? Es wird im öffentlichen Leben stets Parteien geben müssen; aber eine wahre politische Partei kann immer nur die¬ jenige sein, welche unter gegebenen Umständen auch regierungsfähig ist, d. h. welche ihr Ziel oder Programm auch den ganzen reale» Verhältnissen des Staatslebens anzupassen und es aus diesen heraus seiner Verwirklichung zuzuführen versteht. Unsre Parteien aber sind durchaus nnr Gruppen einseitiger Doktrinäre, von denen jede wesentlich bloß von der Bekämpfung der andern lebt und von denen Grenzboten I. 1882. 40

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/321
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/321>, abgerufen am 29.06.2024.