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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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kommission in Konflikt zu geraten, und zwar wegen der von ihm begründeten
Wochenschrift "Die vernünftigen Tadlerinnen,"

Diese Wochenschrift ist nicht, wie es nach den unbestimmten Angaben unsrer
landläufigen Literaturgeschichten scheinen könnte, eine belletristische Zeitschrift, in
der Gottsched etwa die poetischen Erzeugnisse andrer kritisirt und seine eignen
Ansichten über Poesie vorgetragen hätte, sondern es ist eine der zahlreichen
"moralischen" Wochenschriften, die, nach englischem Vorbilde, in den zwanziger
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland aufkamen. Die erste dieser
Art war -- wenn wir absehen von den bereits 1721 in Zürich durch Bodmer und
Breitinger begonnenen "Disenrsen der Mahler" -- der in Hamburg erscheinende,
von Brockes, I. A. Fabricius u. a, herausgegebene "Patriot" (1724 und
1725). Die zweite waren die "Vernünftigen Tadlerinnen," deren erster Jahr¬
gang 1725 in Halle gedruckt wurde, während der zweite 1726 in Leipzig er¬
schien. Zahlreiche ähnliche Blätter, die gleichzeitig an andern Orten Deutsch¬
lands gegründet wurden, brachten es meist nicht über die ersten paar Nummern
hinaus. Nur der "Patriot" und die "Tadlerinnen" erlebten je zwei Jahr¬
gänge. Die letztern wurden sogar 1738 und 1747 in Buchform nochmals neu
aufgelegt.

Den Hauptinhalt der "Tadlerinnen" bilden kurze Aufsätze und Briefe, in denen
die zahllosen gesellschaftlichen Untugenden, Geschmacklosigkeiten und Nnrrheiten
jener Zeit verspottet und in charakteristischen Typen vorgeführt werden. Für
die gesellschaftlichen Zustände aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
bilden sie eine wichtige Quelle. Der Titel war dem englischen IMör nachge¬
bildet. Da aber Gottsched und seine Mitarbeiter, wie es im Vorwort zur zweiten
Auflage heißt, die Absicht hatten, "dein deutschen Frauenzimmer ein Blatt in die
Hände zu bringen, welches ihm zu einer angenehmen Zeitkürzung dienen und
doch von nützlicheren und lehrreicheren Inhalte seyn sollte, als die gewöhn¬
lichen Romane," so bedienten sie sich "des unschuldigen Kunstgriffes, sich selbst
für Frauenzimmer auszugeben." Die einzelnen Aufsätze waren mit Calliste, Iris,
Phyllis u. a. unterzeichnet. Dazwischen kamen Briefe mit allerhand andern
Unterschriften zum Abdruck, die den Herausgebern entweder wirklich oder an¬
geblich zugegangen waren, und die sie dann, mit Zusätzen, Nachträgen oder Ent¬
gegnungen begleitet, unter die Aufsätze mischten.

Die Zeitgenossen moquirten sich i^ewiß vielfach über die Zeitschrift. Man wollte
darauf schwören -- wie es in einem im August 1726 erschienenen Flngblattc
"An die Vernnnsftigen Tadlerinnen" heißt, als dessen Verfasser sich vor der Bücher¬
kommission Henrici bekannte, -- daß die Tadlerinnen Allongeperücken trügen;
Man sehe ja die Mannsfüße unter der weiblichen Kappe hervorragen und höre
sie so stark wie die gröbsten Fuhrleute tapfer. Mitunter würden gewiß gute
Lehren von den Tadlerinnen gegeben, aber ihren Zweck würden sie schwerlich
erreichen. "Männer-Stimmen klingen ansehnlich: Aber der Weiber Nichten und


kommission in Konflikt zu geraten, und zwar wegen der von ihm begründeten
Wochenschrift „Die vernünftigen Tadlerinnen,"

Diese Wochenschrift ist nicht, wie es nach den unbestimmten Angaben unsrer
landläufigen Literaturgeschichten scheinen könnte, eine belletristische Zeitschrift, in
der Gottsched etwa die poetischen Erzeugnisse andrer kritisirt und seine eignen
Ansichten über Poesie vorgetragen hätte, sondern es ist eine der zahlreichen
„moralischen" Wochenschriften, die, nach englischem Vorbilde, in den zwanziger
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland aufkamen. Die erste dieser
Art war — wenn wir absehen von den bereits 1721 in Zürich durch Bodmer und
Breitinger begonnenen „Disenrsen der Mahler" — der in Hamburg erscheinende,
von Brockes, I. A. Fabricius u. a, herausgegebene „Patriot" (1724 und
1725). Die zweite waren die „Vernünftigen Tadlerinnen," deren erster Jahr¬
gang 1725 in Halle gedruckt wurde, während der zweite 1726 in Leipzig er¬
schien. Zahlreiche ähnliche Blätter, die gleichzeitig an andern Orten Deutsch¬
lands gegründet wurden, brachten es meist nicht über die ersten paar Nummern
hinaus. Nur der „Patriot" und die „Tadlerinnen" erlebten je zwei Jahr¬
gänge. Die letztern wurden sogar 1738 und 1747 in Buchform nochmals neu
aufgelegt.

Den Hauptinhalt der „Tadlerinnen" bilden kurze Aufsätze und Briefe, in denen
die zahllosen gesellschaftlichen Untugenden, Geschmacklosigkeiten und Nnrrheiten
jener Zeit verspottet und in charakteristischen Typen vorgeführt werden. Für
die gesellschaftlichen Zustände aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
bilden sie eine wichtige Quelle. Der Titel war dem englischen IMör nachge¬
bildet. Da aber Gottsched und seine Mitarbeiter, wie es im Vorwort zur zweiten
Auflage heißt, die Absicht hatten, „dein deutschen Frauenzimmer ein Blatt in die
Hände zu bringen, welches ihm zu einer angenehmen Zeitkürzung dienen und
doch von nützlicheren und lehrreicheren Inhalte seyn sollte, als die gewöhn¬
lichen Romane," so bedienten sie sich „des unschuldigen Kunstgriffes, sich selbst
für Frauenzimmer auszugeben." Die einzelnen Aufsätze waren mit Calliste, Iris,
Phyllis u. a. unterzeichnet. Dazwischen kamen Briefe mit allerhand andern
Unterschriften zum Abdruck, die den Herausgebern entweder wirklich oder an¬
geblich zugegangen waren, und die sie dann, mit Zusätzen, Nachträgen oder Ent¬
gegnungen begleitet, unter die Aufsätze mischten.

Die Zeitgenossen moquirten sich i^ewiß vielfach über die Zeitschrift. Man wollte
darauf schwören — wie es in einem im August 1726 erschienenen Flngblattc
„An die Vernnnsftigen Tadlerinnen" heißt, als dessen Verfasser sich vor der Bücher¬
kommission Henrici bekannte, — daß die Tadlerinnen Allongeperücken trügen;
Man sehe ja die Mannsfüße unter der weiblichen Kappe hervorragen und höre
sie so stark wie die gröbsten Fuhrleute tapfer. Mitunter würden gewiß gute
Lehren von den Tadlerinnen gegeben, aber ihren Zweck würden sie schwerlich
erreichen. „Männer-Stimmen klingen ansehnlich: Aber der Weiber Nichten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/279>, abgerufen am 29.06.2024.