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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Inkonsequenz des Fürsten Bismarck,

Bekehrung zu einem entgegengesetzten System. Der Fürst hat seinerseits mehr¬
mals das Geständnis abgelegt, daß ihm bis dahin die Fragen der Handelspolitik
verhältnismäßig fremd gewesen, daß er, von auswärtigen Dingen überwiegend
in Anspruch genommen, sich auf den Präsidenten des früheren Bundeskanzler¬
amtes, nachmals Reichskanzleramtes verlassen habe -- ein ergiebiger Stoff zur
Verdächtigung. Denn wie bequem läßt sich uun der schnelle Erwerb selbständiger
Einsicht anzweifeln, wie beqnem der Tadel übernommener Verantwortung für
eine falsche Politik von großer Tragweite begründen. Aber man kommt zu
solchen Anklagen nur durch die unbillige, wahrhcitswidrige Ausbeutung vereinzelter
Äußerungen. Als der Kanzler den eignen Blick auf die Handelspolitik wandte,
begriff er die Notwendigkeit eines neuen Weges. Aber die frühere Leitung trifft
darum nicht der Vorwurf, daß sie falsche Wege gegangen, sondern nur der Vor¬
wurf, die Notwendigkeit eines andern Weges nicht im rechten Moment begriffen
zu haben. Keine Regierungsthätigkeit steht so unter dem Gebote der Opportunist
wie die Handelspolitik. Als Napoleon III. den Handelsvertrag mit England
geschlossen, dem eine ganze Reihe ähnlicher Verträge folgten, auch ein solcher
zwischen dem damaligen Zollverein und Frankreich, wäre es sehr unrichtig ge¬
wesen, sich dieser europäischen Bewegung zu widersetzen. Sie trieb zu einem
Experiment, dessen Ergebnis man abwarten mußte. Als aber bei dem heran¬
nahenden Ablauf der Handelsverträge allgemein die Lust zur Erneuerung schwand,
wäre die isolirte Fortsetzung der Freihandelspolitik ebenso pflichtwidrig gewesen
wie früher die isolirte Ausschließung von derselben. Der Fehler der deutschen
Handelspolitik war, daß unter Führung der Minister Camphausen und Delbrück,
auch nachdem der Krieg von 1870 den deutsch-französischen Handelsvertrag aus
die Meistbegüustigungsklausel reduzirt hatte, unsrerseits immer noch einseitig Zölle
herabgesetzt wurden. Aber der europäische Umschwung war es nicht allein, der
das Verharren auf der Freihandelsbahn selbstmörderisch machte. Es kam die
ganz neue Erscheinung der Einfuhr amerikanischer und russischer Getreidemassen
hinzu, welche dem deutschen Ackerbau die Lebensbedingungen zu entziehen drohte;
es kam die wirtschaftliche Niederlage nach dein Taumel der ersten siebziger Jahre
hinzu. So war die Zollreform von 1879 nicht das Produkt einer plötzlichen Be¬
kehrung gegenüber unveränderten Thatsachen, sondern das Produkt der rechtzeitigen
Würdigung einer kolossalen Veränderung der Thatsachen. Möchte doch jeder
Patriotische und wahrheitliebende Mann in Deutschland sich diesen Umstand deut¬
lich vor Augen halten, um das Verdienst des Mannes nicht zu verkennen, der
deu Mut und die sichere Erkenntnis hatte, die verderblichen Folgen veränderter
Weltverhältnisse im rechten Augenblick von uns abzuwenden.

Ein andrer ergiebiger Stoff zum Vorwurf der Inkonsequenz ist der Kultur¬
kampf. Die Jahrgänge der Mnigesctzgebung, welche das Rüstzeug dieses Kampfes
bilden, sind entstanden ans der Wahrnehmung, daß die unter den bis Anfang
der siebziger Jahre geltenden Verfassungsbestimmungen immer zunehmende Macht


Die Inkonsequenz des Fürsten Bismarck,

Bekehrung zu einem entgegengesetzten System. Der Fürst hat seinerseits mehr¬
mals das Geständnis abgelegt, daß ihm bis dahin die Fragen der Handelspolitik
verhältnismäßig fremd gewesen, daß er, von auswärtigen Dingen überwiegend
in Anspruch genommen, sich auf den Präsidenten des früheren Bundeskanzler¬
amtes, nachmals Reichskanzleramtes verlassen habe — ein ergiebiger Stoff zur
Verdächtigung. Denn wie bequem läßt sich uun der schnelle Erwerb selbständiger
Einsicht anzweifeln, wie beqnem der Tadel übernommener Verantwortung für
eine falsche Politik von großer Tragweite begründen. Aber man kommt zu
solchen Anklagen nur durch die unbillige, wahrhcitswidrige Ausbeutung vereinzelter
Äußerungen. Als der Kanzler den eignen Blick auf die Handelspolitik wandte,
begriff er die Notwendigkeit eines neuen Weges. Aber die frühere Leitung trifft
darum nicht der Vorwurf, daß sie falsche Wege gegangen, sondern nur der Vor¬
wurf, die Notwendigkeit eines andern Weges nicht im rechten Moment begriffen
zu haben. Keine Regierungsthätigkeit steht so unter dem Gebote der Opportunist
wie die Handelspolitik. Als Napoleon III. den Handelsvertrag mit England
geschlossen, dem eine ganze Reihe ähnlicher Verträge folgten, auch ein solcher
zwischen dem damaligen Zollverein und Frankreich, wäre es sehr unrichtig ge¬
wesen, sich dieser europäischen Bewegung zu widersetzen. Sie trieb zu einem
Experiment, dessen Ergebnis man abwarten mußte. Als aber bei dem heran¬
nahenden Ablauf der Handelsverträge allgemein die Lust zur Erneuerung schwand,
wäre die isolirte Fortsetzung der Freihandelspolitik ebenso pflichtwidrig gewesen
wie früher die isolirte Ausschließung von derselben. Der Fehler der deutschen
Handelspolitik war, daß unter Führung der Minister Camphausen und Delbrück,
auch nachdem der Krieg von 1870 den deutsch-französischen Handelsvertrag aus
die Meistbegüustigungsklausel reduzirt hatte, unsrerseits immer noch einseitig Zölle
herabgesetzt wurden. Aber der europäische Umschwung war es nicht allein, der
das Verharren auf der Freihandelsbahn selbstmörderisch machte. Es kam die
ganz neue Erscheinung der Einfuhr amerikanischer und russischer Getreidemassen
hinzu, welche dem deutschen Ackerbau die Lebensbedingungen zu entziehen drohte;
es kam die wirtschaftliche Niederlage nach dein Taumel der ersten siebziger Jahre
hinzu. So war die Zollreform von 1879 nicht das Produkt einer plötzlichen Be¬
kehrung gegenüber unveränderten Thatsachen, sondern das Produkt der rechtzeitigen
Würdigung einer kolossalen Veränderung der Thatsachen. Möchte doch jeder
Patriotische und wahrheitliebende Mann in Deutschland sich diesen Umstand deut¬
lich vor Augen halten, um das Verdienst des Mannes nicht zu verkennen, der
deu Mut und die sichere Erkenntnis hatte, die verderblichen Folgen veränderter
Weltverhältnisse im rechten Augenblick von uns abzuwenden.

Ein andrer ergiebiger Stoff zum Vorwurf der Inkonsequenz ist der Kultur¬
kampf. Die Jahrgänge der Mnigesctzgebung, welche das Rüstzeug dieses Kampfes
bilden, sind entstanden ans der Wahrnehmung, daß die unter den bis Anfang
der siebziger Jahre geltenden Verfassungsbestimmungen immer zunehmende Macht


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[0267] Die Inkonsequenz des Fürsten Bismarck, Bekehrung zu einem entgegengesetzten System. Der Fürst hat seinerseits mehr¬ mals das Geständnis abgelegt, daß ihm bis dahin die Fragen der Handelspolitik verhältnismäßig fremd gewesen, daß er, von auswärtigen Dingen überwiegend in Anspruch genommen, sich auf den Präsidenten des früheren Bundeskanzler¬ amtes, nachmals Reichskanzleramtes verlassen habe — ein ergiebiger Stoff zur Verdächtigung. Denn wie bequem läßt sich uun der schnelle Erwerb selbständiger Einsicht anzweifeln, wie beqnem der Tadel übernommener Verantwortung für eine falsche Politik von großer Tragweite begründen. Aber man kommt zu solchen Anklagen nur durch die unbillige, wahrhcitswidrige Ausbeutung vereinzelter Äußerungen. Als der Kanzler den eignen Blick auf die Handelspolitik wandte, begriff er die Notwendigkeit eines neuen Weges. Aber die frühere Leitung trifft darum nicht der Vorwurf, daß sie falsche Wege gegangen, sondern nur der Vor¬ wurf, die Notwendigkeit eines andern Weges nicht im rechten Moment begriffen zu haben. Keine Regierungsthätigkeit steht so unter dem Gebote der Opportunist wie die Handelspolitik. Als Napoleon III. den Handelsvertrag mit England geschlossen, dem eine ganze Reihe ähnlicher Verträge folgten, auch ein solcher zwischen dem damaligen Zollverein und Frankreich, wäre es sehr unrichtig ge¬ wesen, sich dieser europäischen Bewegung zu widersetzen. Sie trieb zu einem Experiment, dessen Ergebnis man abwarten mußte. Als aber bei dem heran¬ nahenden Ablauf der Handelsverträge allgemein die Lust zur Erneuerung schwand, wäre die isolirte Fortsetzung der Freihandelspolitik ebenso pflichtwidrig gewesen wie früher die isolirte Ausschließung von derselben. Der Fehler der deutschen Handelspolitik war, daß unter Führung der Minister Camphausen und Delbrück, auch nachdem der Krieg von 1870 den deutsch-französischen Handelsvertrag aus die Meistbegüustigungsklausel reduzirt hatte, unsrerseits immer noch einseitig Zölle herabgesetzt wurden. Aber der europäische Umschwung war es nicht allein, der das Verharren auf der Freihandelsbahn selbstmörderisch machte. Es kam die ganz neue Erscheinung der Einfuhr amerikanischer und russischer Getreidemassen hinzu, welche dem deutschen Ackerbau die Lebensbedingungen zu entziehen drohte; es kam die wirtschaftliche Niederlage nach dein Taumel der ersten siebziger Jahre hinzu. So war die Zollreform von 1879 nicht das Produkt einer plötzlichen Be¬ kehrung gegenüber unveränderten Thatsachen, sondern das Produkt der rechtzeitigen Würdigung einer kolossalen Veränderung der Thatsachen. Möchte doch jeder Patriotische und wahrheitliebende Mann in Deutschland sich diesen Umstand deut¬ lich vor Augen halten, um das Verdienst des Mannes nicht zu verkennen, der deu Mut und die sichere Erkenntnis hatte, die verderblichen Folgen veränderter Weltverhältnisse im rechten Augenblick von uns abzuwenden. Ein andrer ergiebiger Stoff zum Vorwurf der Inkonsequenz ist der Kultur¬ kampf. Die Jahrgänge der Mnigesctzgebung, welche das Rüstzeug dieses Kampfes bilden, sind entstanden ans der Wahrnehmung, daß die unter den bis Anfang der siebziger Jahre geltenden Verfassungsbestimmungen immer zunehmende Macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/267>, abgerufen am 29.06.2024.