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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Weihnachtsbräuche in der Reformationszeit.

aber verhandeln sie unter der Linde oder sonst an einem öffentlichen Orte über
ihre Angelegenheiten, darauf aber führen die Jungen unter dem Schall der
Flöte den Reigen, und die Alten suchen die Schenke anf und laben sich am
Wein. Kein Mann kommt ohne Waffen an die Öffentlichkeit, mit dem Messer
sind sie für jeden Schicksalswechsel umgürtet. . . Den Herren müssen sie im Jahr
über oft Dienste leisten, den Acker bestellen, die Saat ausstreuen, die Ernte
machen und in den Scheuern bergen, Holz fallen, Gebäude errichten, Gräben
ziehen, kurz, nichts giebt es, das dem dienstbaren und beklagenswerten Stande
nicht als schuldige Leistung zugesprochen würde; doch nichts ist für sie härter,
als daß der größere Teil des Ackers, den sie bestellen, nicht ihnen gehört, sondern
denen, von welchen sie ihn jährlich um einen bestimmten Teil der Frucht zurück¬
erwerben müssen."

Auf diese allgemeine Schilderung Deutschlands folgen einige Kapitel, welche
die einzelnen Landschaften vorführen: Sachsen, Westfalen, Franken, Schwaben,
Baiern und Kärnten; mit dem fünfzehnten Kapitel hebt der anziehendste Teil
des Werkes an, worin Bom von seiner Heimat, dem schönen Frankenlande, er¬
zählt. Da mochten dem geistlichen Herrn die Jugenderlebnisse wieder lebendig
vor die Augen treten: mit welchem Jubel einst daheim die Weinernte begangen
wurde, welch seltsame Gebräuche an den hohen Festtagen beobachtet wurden,
wie in Würzburg während seiner Studienzeit von dem bischöflichen Hofgesinde
der Johannestag gefeiert wurde, oder wie die Würzburger Knaben unter Gesang
mit brennenden Fackeln von der Weinlese heimkehrten, wie die Schüler in der
alten Bischofsstadt lebten, ihr Christfest feierten und wie den nachlässigen unter
ihnen gleich als erste eindringliche Mahnung der Stock drohte.

"Es sind viele wunderbare Gebräuche im Schwange -- beginnt dieser Ab¬
schnitt --, die ich deswegen erzählen will, damit nicht das, was sich über aus¬
ländisches Wesen geschrieben findet, für eitel Dichtung gehalten werde. In
welcher Weise Franken die drei Tage vor dem vierzigtügigen Fasten feiert,
braucht nicht erzählt zu werden, wenn man weiß, mit welcher ausnahmslosen,
mit welcher freiwilligen Raserei das übrige Deutschland, vou dem sich Franken
nicht im geringsten absondert, zu dieser Zeit lebt. Man ißt, trinkt und überläßt
sich allen möglichen Spielen und Scherzen, als ob man morgen sterben müsse
und zuvor heute alles bis auf den Grund auskosten wolle; jedermann sinnt auf
ein neues Schaustück, wodurch er Herz und Auge ergötzt und in Bewunderung
fesselt. Und damit nicht das Anstandsgefühl an der Teilnahme an den Lust¬
barkeiten hindert, verbergen sie das Gesicht hinter Larven, ahmen Alter und
Geschlecht nach, Männer tragen Frauen-, Frauen Männerkleider. Einige, welche
Satyrn oder vielmehr böse Geister darstellen wollen, bemalen sich mit roter
oder schwarzer Farbe und machen sich durch nichtswürdige Trachten unkenntlich,
andre laufen nackt umher und stellen Luperkalen dar. . . An der Aschermittwoch
findet sich in den meisten Orten ein wunderbarer Brauch: die jungen Mädchen,


Weihnachtsbräuche in der Reformationszeit.

aber verhandeln sie unter der Linde oder sonst an einem öffentlichen Orte über
ihre Angelegenheiten, darauf aber führen die Jungen unter dem Schall der
Flöte den Reigen, und die Alten suchen die Schenke anf und laben sich am
Wein. Kein Mann kommt ohne Waffen an die Öffentlichkeit, mit dem Messer
sind sie für jeden Schicksalswechsel umgürtet. . . Den Herren müssen sie im Jahr
über oft Dienste leisten, den Acker bestellen, die Saat ausstreuen, die Ernte
machen und in den Scheuern bergen, Holz fallen, Gebäude errichten, Gräben
ziehen, kurz, nichts giebt es, das dem dienstbaren und beklagenswerten Stande
nicht als schuldige Leistung zugesprochen würde; doch nichts ist für sie härter,
als daß der größere Teil des Ackers, den sie bestellen, nicht ihnen gehört, sondern
denen, von welchen sie ihn jährlich um einen bestimmten Teil der Frucht zurück¬
erwerben müssen."

Auf diese allgemeine Schilderung Deutschlands folgen einige Kapitel, welche
die einzelnen Landschaften vorführen: Sachsen, Westfalen, Franken, Schwaben,
Baiern und Kärnten; mit dem fünfzehnten Kapitel hebt der anziehendste Teil
des Werkes an, worin Bom von seiner Heimat, dem schönen Frankenlande, er¬
zählt. Da mochten dem geistlichen Herrn die Jugenderlebnisse wieder lebendig
vor die Augen treten: mit welchem Jubel einst daheim die Weinernte begangen
wurde, welch seltsame Gebräuche an den hohen Festtagen beobachtet wurden,
wie in Würzburg während seiner Studienzeit von dem bischöflichen Hofgesinde
der Johannestag gefeiert wurde, oder wie die Würzburger Knaben unter Gesang
mit brennenden Fackeln von der Weinlese heimkehrten, wie die Schüler in der
alten Bischofsstadt lebten, ihr Christfest feierten und wie den nachlässigen unter
ihnen gleich als erste eindringliche Mahnung der Stock drohte.

„Es sind viele wunderbare Gebräuche im Schwange — beginnt dieser Ab¬
schnitt —, die ich deswegen erzählen will, damit nicht das, was sich über aus¬
ländisches Wesen geschrieben findet, für eitel Dichtung gehalten werde. In
welcher Weise Franken die drei Tage vor dem vierzigtügigen Fasten feiert,
braucht nicht erzählt zu werden, wenn man weiß, mit welcher ausnahmslosen,
mit welcher freiwilligen Raserei das übrige Deutschland, vou dem sich Franken
nicht im geringsten absondert, zu dieser Zeit lebt. Man ißt, trinkt und überläßt
sich allen möglichen Spielen und Scherzen, als ob man morgen sterben müsse
und zuvor heute alles bis auf den Grund auskosten wolle; jedermann sinnt auf
ein neues Schaustück, wodurch er Herz und Auge ergötzt und in Bewunderung
fesselt. Und damit nicht das Anstandsgefühl an der Teilnahme an den Lust¬
barkeiten hindert, verbergen sie das Gesicht hinter Larven, ahmen Alter und
Geschlecht nach, Männer tragen Frauen-, Frauen Männerkleider. Einige, welche
Satyrn oder vielmehr böse Geister darstellen wollen, bemalen sich mit roter
oder schwarzer Farbe und machen sich durch nichtswürdige Trachten unkenntlich,
andre laufen nackt umher und stellen Luperkalen dar. . . An der Aschermittwoch
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/666>, abgerufen am 29.06.2024.