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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Joseph von SonnenfelS.

teilet, die Abstechung sorgfältig, aber mit Wahl angebracht, und überhaupt die
feinste Symmetrie beobachtet wird. Jeder Teil seiner Musik macht, für sich
selbst betrachtet, ein sehr angenehmes Ganzes ans, das aber zu dem größeren
Ganzen in einem so ebenmäßigen Verhältnis steht, daß die Gluckschen Sätze
die wohlgestaltsten Körper sein würden, wofern die Töne sichtbar gemacht werden
könnten. Alceste war für diesen geschickten Mann eine weiträumigtc Bahn, die
Fruchtbarkeit seiner Gedanken zu zeigen. Es war schwer, bei einem Stoffe,
über deu durchaus Traurigkeit und Schivermuth gleich verbreitet ist, der Ein¬
förmigkeit und Wiederholung zu entkommen. Gluck hat diese Schwierigkeit mit
vielem Ruhme überwunden. Seine Chöre sind immer wesentlich unterschieden:
seine Recitative sprechend, und das Accompagnement nicht eine bloße trockne An-
stimmung, oder eine müßige Ausfüllung des Zwischenraums, sondern ein wesent¬
licher Teil des Ausdrucks, und oft selbst so sehr Ausdruck, daß sie den ganzen
Inhalt faßlich, und die Worte beinahe entbehrlich machen. Seine Arien sind
neu und von einer einfachen, aber gefühlvollen Melodie." Dann werden einzelne
Szenen in ihrer Bedeutsamkeit gekennzeichnet. Hier dürfte namentlich die Er¬
zählung von dem Eindrucke, den im ersten Akt der Schluß des dritten Auf¬
trittes hervorbrachte, für das heutige Publikum lehrreich sein, insofern dieser
Moment -- "eines von den schönsten Gemälden, die vielleicht jemals uns der
Bühne erschienen sind" -- wie so vieles andre wohl nirgends mehr lebendig
genug dargestellt wird. Endlich finden die Sänger, die Träger jener Wiener
Aufführungen der Oper, eine ausführliche, interessante Beurteilung, in welche
manche treffende Seitenbemerknng eingeflochten ist.

Die Rezension der "Minna von Barnhelm" enthält nach einer fein ent¬
worfenen Inhaltsübersicht folgenden Passus: "Rechtschaffen ist jede der handelnden
Personen, ohne daß jedoch daraus eine langweilige Einförmigkeit ihrer Hand¬
lungen entspringt. . . . Lessing hat die Abstechnng seiner Personen ans den Ver-
flößungen ihrer Charaktere hernnszuholen gewagt. Der Kontrast liegt in der
Art, wie die Redlichkeit bei jedem ausbricht; und diese Art wird durch die,
wenn ich so sagen darf, charakterischen Nebenfehler der Personen bestimmt,
welche der Verfasser jedem nicht nnr beigelassen, sondern stark ins Spiel gebracht,
und dadurch die Mannich sättigten, den unentbehrlichen Kontrapost bewirket hat."
Dann werden die einzelnen Personen charakterisirt. Wir wollen nur folgende Sätze
hervorheben: "Tellheim will, aus einer großen Niedlichkeit, wie ich sagen möchte,
Minnen nicht ehelichen." Und später: "Seine Niedlichkeit, ein Mädchen, das
ihn liebt, nicht in seine verzweifelten Umstände mit zu verwickeln, muß ihn in
aller Augen erhöhen. Wie wenige sind einer solchen Selbstverleugnung fähig,
wie viel mehrere würden in seinen Umständen es machen, wie die Ersäufenden,
sich an einen schwimmenden hangen, in Meinung, sich dadurch über dem Wasser
zu erhalten, und auch ihn mit sich zu Grund ziehen. Seine Niedlichkeit ist
übertrieben: das gab Lessing deu Knoten." Zum Schluß werden ein paar


Grenzboten IV. 1882. 83
Joseph von SonnenfelS.

teilet, die Abstechung sorgfältig, aber mit Wahl angebracht, und überhaupt die
feinste Symmetrie beobachtet wird. Jeder Teil seiner Musik macht, für sich
selbst betrachtet, ein sehr angenehmes Ganzes ans, das aber zu dem größeren
Ganzen in einem so ebenmäßigen Verhältnis steht, daß die Gluckschen Sätze
die wohlgestaltsten Körper sein würden, wofern die Töne sichtbar gemacht werden
könnten. Alceste war für diesen geschickten Mann eine weiträumigtc Bahn, die
Fruchtbarkeit seiner Gedanken zu zeigen. Es war schwer, bei einem Stoffe,
über deu durchaus Traurigkeit und Schivermuth gleich verbreitet ist, der Ein¬
förmigkeit und Wiederholung zu entkommen. Gluck hat diese Schwierigkeit mit
vielem Ruhme überwunden. Seine Chöre sind immer wesentlich unterschieden:
seine Recitative sprechend, und das Accompagnement nicht eine bloße trockne An-
stimmung, oder eine müßige Ausfüllung des Zwischenraums, sondern ein wesent¬
licher Teil des Ausdrucks, und oft selbst so sehr Ausdruck, daß sie den ganzen
Inhalt faßlich, und die Worte beinahe entbehrlich machen. Seine Arien sind
neu und von einer einfachen, aber gefühlvollen Melodie." Dann werden einzelne
Szenen in ihrer Bedeutsamkeit gekennzeichnet. Hier dürfte namentlich die Er¬
zählung von dem Eindrucke, den im ersten Akt der Schluß des dritten Auf¬
trittes hervorbrachte, für das heutige Publikum lehrreich sein, insofern dieser
Moment — „eines von den schönsten Gemälden, die vielleicht jemals uns der
Bühne erschienen sind" — wie so vieles andre wohl nirgends mehr lebendig
genug dargestellt wird. Endlich finden die Sänger, die Träger jener Wiener
Aufführungen der Oper, eine ausführliche, interessante Beurteilung, in welche
manche treffende Seitenbemerknng eingeflochten ist.

Die Rezension der „Minna von Barnhelm" enthält nach einer fein ent¬
worfenen Inhaltsübersicht folgenden Passus: „Rechtschaffen ist jede der handelnden
Personen, ohne daß jedoch daraus eine langweilige Einförmigkeit ihrer Hand¬
lungen entspringt. . . . Lessing hat die Abstechnng seiner Personen ans den Ver-
flößungen ihrer Charaktere hernnszuholen gewagt. Der Kontrast liegt in der
Art, wie die Redlichkeit bei jedem ausbricht; und diese Art wird durch die,
wenn ich so sagen darf, charakterischen Nebenfehler der Personen bestimmt,
welche der Verfasser jedem nicht nnr beigelassen, sondern stark ins Spiel gebracht,
und dadurch die Mannich sättigten, den unentbehrlichen Kontrapost bewirket hat."
Dann werden die einzelnen Personen charakterisirt. Wir wollen nur folgende Sätze
hervorheben: „Tellheim will, aus einer großen Niedlichkeit, wie ich sagen möchte,
Minnen nicht ehelichen." Und später: „Seine Niedlichkeit, ein Mädchen, das
ihn liebt, nicht in seine verzweifelten Umstände mit zu verwickeln, muß ihn in
aller Augen erhöhen. Wie wenige sind einer solchen Selbstverleugnung fähig,
wie viel mehrere würden in seinen Umständen es machen, wie die Ersäufenden,
sich an einen schwimmenden hangen, in Meinung, sich dadurch über dem Wasser
zu erhalten, und auch ihn mit sich zu Grund ziehen. Seine Niedlichkeit ist
übertrieben: das gab Lessing deu Knoten." Zum Schluß werden ein paar


Grenzboten IV. 1882. 83
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[0661] Joseph von SonnenfelS. teilet, die Abstechung sorgfältig, aber mit Wahl angebracht, und überhaupt die feinste Symmetrie beobachtet wird. Jeder Teil seiner Musik macht, für sich selbst betrachtet, ein sehr angenehmes Ganzes ans, das aber zu dem größeren Ganzen in einem so ebenmäßigen Verhältnis steht, daß die Gluckschen Sätze die wohlgestaltsten Körper sein würden, wofern die Töne sichtbar gemacht werden könnten. Alceste war für diesen geschickten Mann eine weiträumigtc Bahn, die Fruchtbarkeit seiner Gedanken zu zeigen. Es war schwer, bei einem Stoffe, über deu durchaus Traurigkeit und Schivermuth gleich verbreitet ist, der Ein¬ förmigkeit und Wiederholung zu entkommen. Gluck hat diese Schwierigkeit mit vielem Ruhme überwunden. Seine Chöre sind immer wesentlich unterschieden: seine Recitative sprechend, und das Accompagnement nicht eine bloße trockne An- stimmung, oder eine müßige Ausfüllung des Zwischenraums, sondern ein wesent¬ licher Teil des Ausdrucks, und oft selbst so sehr Ausdruck, daß sie den ganzen Inhalt faßlich, und die Worte beinahe entbehrlich machen. Seine Arien sind neu und von einer einfachen, aber gefühlvollen Melodie." Dann werden einzelne Szenen in ihrer Bedeutsamkeit gekennzeichnet. Hier dürfte namentlich die Er¬ zählung von dem Eindrucke, den im ersten Akt der Schluß des dritten Auf¬ trittes hervorbrachte, für das heutige Publikum lehrreich sein, insofern dieser Moment — „eines von den schönsten Gemälden, die vielleicht jemals uns der Bühne erschienen sind" — wie so vieles andre wohl nirgends mehr lebendig genug dargestellt wird. Endlich finden die Sänger, die Träger jener Wiener Aufführungen der Oper, eine ausführliche, interessante Beurteilung, in welche manche treffende Seitenbemerknng eingeflochten ist. Die Rezension der „Minna von Barnhelm" enthält nach einer fein ent¬ worfenen Inhaltsübersicht folgenden Passus: „Rechtschaffen ist jede der handelnden Personen, ohne daß jedoch daraus eine langweilige Einförmigkeit ihrer Hand¬ lungen entspringt. . . . Lessing hat die Abstechnng seiner Personen ans den Ver- flößungen ihrer Charaktere hernnszuholen gewagt. Der Kontrast liegt in der Art, wie die Redlichkeit bei jedem ausbricht; und diese Art wird durch die, wenn ich so sagen darf, charakterischen Nebenfehler der Personen bestimmt, welche der Verfasser jedem nicht nnr beigelassen, sondern stark ins Spiel gebracht, und dadurch die Mannich sättigten, den unentbehrlichen Kontrapost bewirket hat." Dann werden die einzelnen Personen charakterisirt. Wir wollen nur folgende Sätze hervorheben: „Tellheim will, aus einer großen Niedlichkeit, wie ich sagen möchte, Minnen nicht ehelichen." Und später: „Seine Niedlichkeit, ein Mädchen, das ihn liebt, nicht in seine verzweifelten Umstände mit zu verwickeln, muß ihn in aller Augen erhöhen. Wie wenige sind einer solchen Selbstverleugnung fähig, wie viel mehrere würden in seinen Umständen es machen, wie die Ersäufenden, sich an einen schwimmenden hangen, in Meinung, sich dadurch über dem Wasser zu erhalten, und auch ihn mit sich zu Grund ziehen. Seine Niedlichkeit ist übertrieben: das gab Lessing deu Knoten." Zum Schluß werden ein paar Grenzboten IV. 1882. 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/661>, abgerufen am 29.06.2024.