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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Joseph von Sonnenfels.

vcmber, worin die Frage aufgeworfen wird: "Wie hat der Dichter die Sprache
der niedern Rollen zu geben, welche er von ungefähr in seine Schauspiele mit
einzieht?" Auch der Brief vom 19. Juni 1768 über die Eigenschaften, die ein
nationaler Dichter haben soll, ist beachtenswert.

Das meiste Interesse in den "Briefen über die Wienerische Schaubühne"
haben zwei längere Partien, bei denen die Behandlung von vielem Geschmack
und Urteil zeugt und der Gegenstand ein besonders wichtiger ist. Es sind die
Berichte über die Aufführung von Glucks "Alceste" und von Lessings "Minna
von Varnhelm." Sie mögen hier, in Anbetracht ihres nnveralteten Wertes,
wenigstens auszugsweise mitgeteilt sein.

"Ich befinde mich in dem Lande der Wunderwerke!" beginnt die Be-
sprechung der "Alceste." "Ein ernsthaftes Singspiel ohne Kastraten -- eine Musik
ohne Solfezieren, oder wie ich es lieber nennen möchte, ohne Gurgelet) -- ein
wälsches Gedicht ohne Schwulst und Flitterwitz. Mit diesem dreifachen Wunder¬
werke ist die Schaubühne nächst der Burg wieder eröffnet worden. . . . Das
eigne und große Verdienst des walischen Dichters ist ohne Zweifel der Mut,
mit welchem er den strotzenden, und von tändelnden Spitzfindigkeiten über¬
laufenden Stil seiner Nativnaldichter verließ, und das Erhabene nicht in den Stelzen
des Ausdruckes, das Rührende nicht in dem Pathos der Empfindungen, in dem
Schnirkelwerke verstandloser Einfälle suchte. Kalfabigis Sprache ist die unge-
künstelte Sprache der Empfindung; eine Quelle, die keinen andern Lauf hält,
als nach dein sanften Hange des Erdreichs, worüber sie wegfließt; die überall
sich ins Gleichgewicht setzet, und nur da ein wenig ausschäumt, wo sie an einen
in den Weg gestürzten Stein stößt." Weiterhin wird die laue Aufnahme bei der
großen Menge, der das Stück zu ernst war, geschildert. ""Das ist erbaulich!
neun Tage ohne Schauspiele, und am zehnten ein Deprofnndis." -- "Wie ich
denke, hier ists aus Thränen angesehen? Kann sein, daß ich welche vergiesse --
aus langer Weile." -- "Nein! Das heißt, sein Geld weggeworfen! eine vor¬
treffliche Ergötzung, eine Närrin, die für ihren Mann stirbt!" -- Wo ungefähr
glauben Sie, daß ich Sie hingebracht habe? -- auf das Paradies! Sie hätten
Recht, nach dem Gespräche, so zu denken; aber Sie sitzen mitten auf dem adelichen
Parterre." Nach manchen Zwischenbemerkungen, namentlich über die mächtigen
Wirkungen, welche der Tonkunst im Altertum zugeschrieben wurden und seitdem
nachgelassen zu haben schienen, wird auf die Setzart Glucks hingewiesen. "Glucks
Einbildungskraft ist ungeheuer: daher siud ihm die Schranken aller National¬
musiken zu enge. Er hat aus der wälschen, aus der französischen, aus den
Musiken aller Völker eine Musik gemacht, die seine eigne ist: oder vielmehr, er
hat in der Natur alle Töne des wahren Ausdrucks aufgesuchet, und sich der¬
selben bemächtiget. Die Grundzüge seines Satzes sind immer dem Gegenstand
angemessen, und gleichsam ein richtiger, freier Umriß, durch ein schönes Kolorit
bearbeitet, worin das Licht mit der Häuslichkeit eines scharfen Benrteilens ver-


Joseph von Sonnenfels.

vcmber, worin die Frage aufgeworfen wird: „Wie hat der Dichter die Sprache
der niedern Rollen zu geben, welche er von ungefähr in seine Schauspiele mit
einzieht?" Auch der Brief vom 19. Juni 1768 über die Eigenschaften, die ein
nationaler Dichter haben soll, ist beachtenswert.

Das meiste Interesse in den „Briefen über die Wienerische Schaubühne"
haben zwei längere Partien, bei denen die Behandlung von vielem Geschmack
und Urteil zeugt und der Gegenstand ein besonders wichtiger ist. Es sind die
Berichte über die Aufführung von Glucks „Alceste" und von Lessings „Minna
von Varnhelm." Sie mögen hier, in Anbetracht ihres nnveralteten Wertes,
wenigstens auszugsweise mitgeteilt sein.

„Ich befinde mich in dem Lande der Wunderwerke!" beginnt die Be-
sprechung der „Alceste." „Ein ernsthaftes Singspiel ohne Kastraten — eine Musik
ohne Solfezieren, oder wie ich es lieber nennen möchte, ohne Gurgelet) — ein
wälsches Gedicht ohne Schwulst und Flitterwitz. Mit diesem dreifachen Wunder¬
werke ist die Schaubühne nächst der Burg wieder eröffnet worden. . . . Das
eigne und große Verdienst des walischen Dichters ist ohne Zweifel der Mut,
mit welchem er den strotzenden, und von tändelnden Spitzfindigkeiten über¬
laufenden Stil seiner Nativnaldichter verließ, und das Erhabene nicht in den Stelzen
des Ausdruckes, das Rührende nicht in dem Pathos der Empfindungen, in dem
Schnirkelwerke verstandloser Einfälle suchte. Kalfabigis Sprache ist die unge-
künstelte Sprache der Empfindung; eine Quelle, die keinen andern Lauf hält,
als nach dein sanften Hange des Erdreichs, worüber sie wegfließt; die überall
sich ins Gleichgewicht setzet, und nur da ein wenig ausschäumt, wo sie an einen
in den Weg gestürzten Stein stößt." Weiterhin wird die laue Aufnahme bei der
großen Menge, der das Stück zu ernst war, geschildert. „»Das ist erbaulich!
neun Tage ohne Schauspiele, und am zehnten ein Deprofnndis.« — »Wie ich
denke, hier ists aus Thränen angesehen? Kann sein, daß ich welche vergiesse —
aus langer Weile.« — »Nein! Das heißt, sein Geld weggeworfen! eine vor¬
treffliche Ergötzung, eine Närrin, die für ihren Mann stirbt!« — Wo ungefähr
glauben Sie, daß ich Sie hingebracht habe? — auf das Paradies! Sie hätten
Recht, nach dem Gespräche, so zu denken; aber Sie sitzen mitten auf dem adelichen
Parterre." Nach manchen Zwischenbemerkungen, namentlich über die mächtigen
Wirkungen, welche der Tonkunst im Altertum zugeschrieben wurden und seitdem
nachgelassen zu haben schienen, wird auf die Setzart Glucks hingewiesen. „Glucks
Einbildungskraft ist ungeheuer: daher siud ihm die Schranken aller National¬
musiken zu enge. Er hat aus der wälschen, aus der französischen, aus den
Musiken aller Völker eine Musik gemacht, die seine eigne ist: oder vielmehr, er
hat in der Natur alle Töne des wahren Ausdrucks aufgesuchet, und sich der¬
selben bemächtiget. Die Grundzüge seines Satzes sind immer dem Gegenstand
angemessen, und gleichsam ein richtiger, freier Umriß, durch ein schönes Kolorit
bearbeitet, worin das Licht mit der Häuslichkeit eines scharfen Benrteilens ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/660>, abgerufen am 29.06.2024.