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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Joseph von Sonnenfels.

Kinder ersonnenen Erzählungen vom "daumenlangen Männchen mit dem spannen¬
langen Barte" mit offnem Munde anzuhören, und ein Fremder träte herbei,
und erführe, was uns da zusammengebracht hat: "Hui! würde er sagen, eine
Nation bärtiger Kiuder!" Und was kann der Fremde denken, wenn er von
ungefähr in unsre Schaubühne eintritt, und uns drei, vier Stunden hinbringen
sieht, eine Geschichte, die jene nur erzählt, in der Handlung vorstellen zu sehen
und dabei so mutig in die Hände klatschen?" Man darf übrigens nicht glauben,
daß hier das Kinderhafte, welches in der Kunst noch hente so viel Raum ein¬
nimmt, schärfer ins Auge gefaßt wäre, oder daß die niedere Vorstellungsart,
wonach das Theater zum großen Amüsement da ist, damals wirklich aus¬
schließlich geherrscht hätte. Es gab ja -- in Wien wie anderwärts -- das
französische Schauspiel und die italienische Oper, zwei Kunsterscheinungen vor¬
nehmerer Art, und darau hielt sich das eigentliche gebildete Publikum. Der
Fortschritt, für den Sonnenfels wirkte, bestand zunächst in der Erkenntnis, daß
man das bessere nicht mehr vom Auslande beziehen, sondern selbst kultiviren
müsse. Der Begriff des Vergnügens, den man auf den Theaterbesuch umzu-
wenden Pflegt, blieb unangetastet. Sonnenfels sagt ausdrücklich einmal, daß
wir "in die Schaubühne gingen, um ergötzet zu werden," und daß "von der
Schaubühne keine erbnnlichen Vorstellungen" gefordert werden sollten. Auch
sonst pflegen sich die ästhetischen Ansichten des Wiener Dramaturgen anf einem
mittlern Niveau zu halten. Der Brief vom 20. Mai 1768 zeigt, bei Gelegen¬
heit einer Verteidigung des frühern Lustspieles, eine Auffassung der hergebrachten
Tragödie, die in ihrer Gewöhnlichkeit und Ungründlichkeit uicht bloß auf Rechnung
des einseitigen, steifen Tones zu setzen ist, welchen die Trauerspieldichter ange¬
nommen hatten. Die Aussprüche von Corneille und Dacier, die dabei angeführt
werden, würden sich bei einer weniger leicht gehaltenen Darlegung fruchtbar er¬
wiesen haben. So aber werden sie verwandt, um das bürgerliche Drama anf
Unkosten der Heldenstücke, der eigentlichen Tragödien, in günstiges Licht zu
setzen. Eine ähnliche Verkennung des Tragischen liegt in einer Stelle im
"Mann ohne Vorurteil" (3, 1, 14), welche sich gegen die Neigung wendet, den
großen Dramen einen traurigen Ausgang zu gebe:?. Man könnte noch andres
vergleichen. Doch find viele Ausführungen auch fein und geistvoll; namentlich
die über die Unwahrscheinlichkeiteu, welche bei Aufrechterhaltung des Prinzips
der lokalen Einheit entstehen. Wo es sich um sekundäre und praktische Dinge
handelt, kommt überhaupt die Klarheit und Verständigkeit, die man an Souueufels
rühmen muß. zur Geltung. Von solchen Auslassungen, die wirklich einnehmend
und schön siud, heben nur hervor den Brief vom 14. Juli 1768, über "die
Ordnung, welche sowohl in Vvrschlagung der Stücke als in Besetzung der Rollen
und in den Proben beobachtet werden soll," den Brief vom 30. Juli von den
Worten an: "Von den, Übersetzer eines dramatischen Stückes hat man gewisser¬
maßen mehr als von einem andern zu fordern," und den Brief vom 21. No-


Joseph von Sonnenfels.

Kinder ersonnenen Erzählungen vom »daumenlangen Männchen mit dem spannen¬
langen Barte« mit offnem Munde anzuhören, und ein Fremder träte herbei,
und erführe, was uns da zusammengebracht hat: »Hui! würde er sagen, eine
Nation bärtiger Kiuder!« Und was kann der Fremde denken, wenn er von
ungefähr in unsre Schaubühne eintritt, und uns drei, vier Stunden hinbringen
sieht, eine Geschichte, die jene nur erzählt, in der Handlung vorstellen zu sehen
und dabei so mutig in die Hände klatschen?" Man darf übrigens nicht glauben,
daß hier das Kinderhafte, welches in der Kunst noch hente so viel Raum ein¬
nimmt, schärfer ins Auge gefaßt wäre, oder daß die niedere Vorstellungsart,
wonach das Theater zum großen Amüsement da ist, damals wirklich aus¬
schließlich geherrscht hätte. Es gab ja — in Wien wie anderwärts — das
französische Schauspiel und die italienische Oper, zwei Kunsterscheinungen vor¬
nehmerer Art, und darau hielt sich das eigentliche gebildete Publikum. Der
Fortschritt, für den Sonnenfels wirkte, bestand zunächst in der Erkenntnis, daß
man das bessere nicht mehr vom Auslande beziehen, sondern selbst kultiviren
müsse. Der Begriff des Vergnügens, den man auf den Theaterbesuch umzu-
wenden Pflegt, blieb unangetastet. Sonnenfels sagt ausdrücklich einmal, daß
wir „in die Schaubühne gingen, um ergötzet zu werden," und daß „von der
Schaubühne keine erbnnlichen Vorstellungen" gefordert werden sollten. Auch
sonst pflegen sich die ästhetischen Ansichten des Wiener Dramaturgen anf einem
mittlern Niveau zu halten. Der Brief vom 20. Mai 1768 zeigt, bei Gelegen¬
heit einer Verteidigung des frühern Lustspieles, eine Auffassung der hergebrachten
Tragödie, die in ihrer Gewöhnlichkeit und Ungründlichkeit uicht bloß auf Rechnung
des einseitigen, steifen Tones zu setzen ist, welchen die Trauerspieldichter ange¬
nommen hatten. Die Aussprüche von Corneille und Dacier, die dabei angeführt
werden, würden sich bei einer weniger leicht gehaltenen Darlegung fruchtbar er¬
wiesen haben. So aber werden sie verwandt, um das bürgerliche Drama anf
Unkosten der Heldenstücke, der eigentlichen Tragödien, in günstiges Licht zu
setzen. Eine ähnliche Verkennung des Tragischen liegt in einer Stelle im
„Mann ohne Vorurteil" (3, 1, 14), welche sich gegen die Neigung wendet, den
großen Dramen einen traurigen Ausgang zu gebe:?. Man könnte noch andres
vergleichen. Doch find viele Ausführungen auch fein und geistvoll; namentlich
die über die Unwahrscheinlichkeiteu, welche bei Aufrechterhaltung des Prinzips
der lokalen Einheit entstehen. Wo es sich um sekundäre und praktische Dinge
handelt, kommt überhaupt die Klarheit und Verständigkeit, die man an Souueufels
rühmen muß. zur Geltung. Von solchen Auslassungen, die wirklich einnehmend
und schön siud, heben nur hervor den Brief vom 14. Juli 1768, über „die
Ordnung, welche sowohl in Vvrschlagung der Stücke als in Besetzung der Rollen
und in den Proben beobachtet werden soll," den Brief vom 30. Juli von den
Worten an: „Von den, Übersetzer eines dramatischen Stückes hat man gewisser¬
maßen mehr als von einem andern zu fordern," und den Brief vom 21. No-


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[0659] Joseph von Sonnenfels. Kinder ersonnenen Erzählungen vom »daumenlangen Männchen mit dem spannen¬ langen Barte« mit offnem Munde anzuhören, und ein Fremder träte herbei, und erführe, was uns da zusammengebracht hat: »Hui! würde er sagen, eine Nation bärtiger Kiuder!« Und was kann der Fremde denken, wenn er von ungefähr in unsre Schaubühne eintritt, und uns drei, vier Stunden hinbringen sieht, eine Geschichte, die jene nur erzählt, in der Handlung vorstellen zu sehen und dabei so mutig in die Hände klatschen?" Man darf übrigens nicht glauben, daß hier das Kinderhafte, welches in der Kunst noch hente so viel Raum ein¬ nimmt, schärfer ins Auge gefaßt wäre, oder daß die niedere Vorstellungsart, wonach das Theater zum großen Amüsement da ist, damals wirklich aus¬ schließlich geherrscht hätte. Es gab ja — in Wien wie anderwärts — das französische Schauspiel und die italienische Oper, zwei Kunsterscheinungen vor¬ nehmerer Art, und darau hielt sich das eigentliche gebildete Publikum. Der Fortschritt, für den Sonnenfels wirkte, bestand zunächst in der Erkenntnis, daß man das bessere nicht mehr vom Auslande beziehen, sondern selbst kultiviren müsse. Der Begriff des Vergnügens, den man auf den Theaterbesuch umzu- wenden Pflegt, blieb unangetastet. Sonnenfels sagt ausdrücklich einmal, daß wir „in die Schaubühne gingen, um ergötzet zu werden," und daß „von der Schaubühne keine erbnnlichen Vorstellungen" gefordert werden sollten. Auch sonst pflegen sich die ästhetischen Ansichten des Wiener Dramaturgen anf einem mittlern Niveau zu halten. Der Brief vom 20. Mai 1768 zeigt, bei Gelegen¬ heit einer Verteidigung des frühern Lustspieles, eine Auffassung der hergebrachten Tragödie, die in ihrer Gewöhnlichkeit und Ungründlichkeit uicht bloß auf Rechnung des einseitigen, steifen Tones zu setzen ist, welchen die Trauerspieldichter ange¬ nommen hatten. Die Aussprüche von Corneille und Dacier, die dabei angeführt werden, würden sich bei einer weniger leicht gehaltenen Darlegung fruchtbar er¬ wiesen haben. So aber werden sie verwandt, um das bürgerliche Drama anf Unkosten der Heldenstücke, der eigentlichen Tragödien, in günstiges Licht zu setzen. Eine ähnliche Verkennung des Tragischen liegt in einer Stelle im „Mann ohne Vorurteil" (3, 1, 14), welche sich gegen die Neigung wendet, den großen Dramen einen traurigen Ausgang zu gebe:?. Man könnte noch andres vergleichen. Doch find viele Ausführungen auch fein und geistvoll; namentlich die über die Unwahrscheinlichkeiteu, welche bei Aufrechterhaltung des Prinzips der lokalen Einheit entstehen. Wo es sich um sekundäre und praktische Dinge handelt, kommt überhaupt die Klarheit und Verständigkeit, die man an Souueufels rühmen muß. zur Geltung. Von solchen Auslassungen, die wirklich einnehmend und schön siud, heben nur hervor den Brief vom 14. Juli 1768, über „die Ordnung, welche sowohl in Vvrschlagung der Stücke als in Besetzung der Rollen und in den Proben beobachtet werden soll," den Brief vom 30. Juli von den Worten an: „Von den, Übersetzer eines dramatischen Stückes hat man gewisser¬ maßen mehr als von einem andern zu fordern," und den Brief vom 21. No-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/659>, abgerufen am 29.06.2024.