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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Charakter nicht hin ausreicht. Einige Partien mögen hier hervorgehoben
werden.

Die Erzählung von Erast und Serinen (1, 10) stellt im Grunde genommen
einen Konflikt dar, der nicht sobald ans der Welt geschaffen sein wird. Aber
sie würde gewinnen, wenn das Moment, worauf sich der Verfasser stützt, uicht
ein bloßes Vorurteil des Adels wäre, sodaß die Schuld des Sohnes, sowie der
blinde Gehorsam desselben unverständlich wird. Wäre der reale Fall sublimer
gewählt, so müßte gerade darin die Pointe liegen, daß der fehlende Sohn, der
bloß scheinbar das Opfer einer Tyrannei ist, sich belehren läßt und einer Er¬
kenntnis gegenüber nachgiebt, welche nicht gleich zu Tage liegt, sondern nur dem
gewählteren Sinne zugänglich ist. Ähnlich macht die ideale Liebesgeschichte
(Anhang, S. 53) keinen reinen Eindruck. Unter den Händen eines Rousseau
werden derartige Schilderungen, bei denen die einfache Natur der vorhistorischen
Menschen der modernen Korruption gegenübergestellt wird, packend und groß.
Denn der Umstand, daß diese schäferlich-naiven Urmenschen sittlich und über¬
haupt fortgeschritten denken und handeln, wird umsoweniger nützlich, je um¬
fassender die Wendung zum Vvllkommneren ist, bei der das fragliche Vorbild
zur Aufmunterung verwendet wird. Wo das Genie den Gedanken einer neuen
Menschheit faßt, darf es, um ihn deutlich zu machen, zu einem Gegenstück greifen,
welches des Zusammenhanges mit der Wirklichkeit, mit der Kultur, entbehrt,
und infolge dessen für den, der nicht auf den Geist des Ganzen sieht, un¬
gereimt erscheint. Aber Sonnenfels wollte eher Verbesserungen im einzelnen.
Deshalb ist die Sphäre der Unbestimmtheit, in welche die Erzählung gerückt ist,
minder zweckmäßig. Vielleicht darf man sich hier an die "Germania" des
Tacitus erinnern, wo ja auch primitive Zustände mit der größten Zivilisations¬
stufe der damaligen Zeit sozusagen neidisch verglichen werden, aber nicht bloß
Barbarei gegen Kultur in die Schranken tritt, sondern auch unter Abstraktion
dieses Punktes ein renler Typus aufgestellt wird, der eine unvollkommnere
Menschheitsbildnng aussticht.

Beachtenswert sind serner die Stellen, wo die übertriebene Höflichkeit und
Galanterie der modernen Gesellschaft ironisch gestreift wird -- Kapa-tu-um will
nichts von Schmeicheleien gegen die Frauenwelt wissen --, wo die Schatten¬
seiten Erwähnung finden, welche bei dem vulgären Bestreben, standesgemäß zu
leben, hervortreten können, oder wo über harmonische Erziehung gesprochen wird.
Etwas grobfädig freilich ist die Behandlung der Fragen auch hier.

Mai, versäumt gegenwärtig, die praktische Sittlichkeit zum Gegenstande
wissenschaftlicher Darstellungen zu machen. Umsomehr muß die Thatsache, wie
eingehend die Früheren rein verstandesmnßige moralische Untersuchungen an¬
stellten, betont werden; wenngleich in unserm Fall nicht verschwiegen werden
soll, daß sich das meiste der hierher gehörigen Sonnenfelsischen Arbeiten auf
zu niederem Boden bewegt, als daß es tiefere Teilnahme erwecken könnte. Die


Charakter nicht hin ausreicht. Einige Partien mögen hier hervorgehoben
werden.

Die Erzählung von Erast und Serinen (1, 10) stellt im Grunde genommen
einen Konflikt dar, der nicht sobald ans der Welt geschaffen sein wird. Aber
sie würde gewinnen, wenn das Moment, worauf sich der Verfasser stützt, uicht
ein bloßes Vorurteil des Adels wäre, sodaß die Schuld des Sohnes, sowie der
blinde Gehorsam desselben unverständlich wird. Wäre der reale Fall sublimer
gewählt, so müßte gerade darin die Pointe liegen, daß der fehlende Sohn, der
bloß scheinbar das Opfer einer Tyrannei ist, sich belehren läßt und einer Er¬
kenntnis gegenüber nachgiebt, welche nicht gleich zu Tage liegt, sondern nur dem
gewählteren Sinne zugänglich ist. Ähnlich macht die ideale Liebesgeschichte
(Anhang, S. 53) keinen reinen Eindruck. Unter den Händen eines Rousseau
werden derartige Schilderungen, bei denen die einfache Natur der vorhistorischen
Menschen der modernen Korruption gegenübergestellt wird, packend und groß.
Denn der Umstand, daß diese schäferlich-naiven Urmenschen sittlich und über¬
haupt fortgeschritten denken und handeln, wird umsoweniger nützlich, je um¬
fassender die Wendung zum Vvllkommneren ist, bei der das fragliche Vorbild
zur Aufmunterung verwendet wird. Wo das Genie den Gedanken einer neuen
Menschheit faßt, darf es, um ihn deutlich zu machen, zu einem Gegenstück greifen,
welches des Zusammenhanges mit der Wirklichkeit, mit der Kultur, entbehrt,
und infolge dessen für den, der nicht auf den Geist des Ganzen sieht, un¬
gereimt erscheint. Aber Sonnenfels wollte eher Verbesserungen im einzelnen.
Deshalb ist die Sphäre der Unbestimmtheit, in welche die Erzählung gerückt ist,
minder zweckmäßig. Vielleicht darf man sich hier an die „Germania" des
Tacitus erinnern, wo ja auch primitive Zustände mit der größten Zivilisations¬
stufe der damaligen Zeit sozusagen neidisch verglichen werden, aber nicht bloß
Barbarei gegen Kultur in die Schranken tritt, sondern auch unter Abstraktion
dieses Punktes ein renler Typus aufgestellt wird, der eine unvollkommnere
Menschheitsbildnng aussticht.

Beachtenswert sind serner die Stellen, wo die übertriebene Höflichkeit und
Galanterie der modernen Gesellschaft ironisch gestreift wird — Kapa-tu-um will
nichts von Schmeicheleien gegen die Frauenwelt wissen —, wo die Schatten¬
seiten Erwähnung finden, welche bei dem vulgären Bestreben, standesgemäß zu
leben, hervortreten können, oder wo über harmonische Erziehung gesprochen wird.
Etwas grobfädig freilich ist die Behandlung der Fragen auch hier.

Mai, versäumt gegenwärtig, die praktische Sittlichkeit zum Gegenstande
wissenschaftlicher Darstellungen zu machen. Umsomehr muß die Thatsache, wie
eingehend die Früheren rein verstandesmnßige moralische Untersuchungen an¬
stellten, betont werden; wenngleich in unserm Fall nicht verschwiegen werden
soll, daß sich das meiste der hierher gehörigen Sonnenfelsischen Arbeiten auf
zu niederem Boden bewegt, als daß es tiefere Teilnahme erwecken könnte. Die


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[0655] Charakter nicht hin ausreicht. Einige Partien mögen hier hervorgehoben werden. Die Erzählung von Erast und Serinen (1, 10) stellt im Grunde genommen einen Konflikt dar, der nicht sobald ans der Welt geschaffen sein wird. Aber sie würde gewinnen, wenn das Moment, worauf sich der Verfasser stützt, uicht ein bloßes Vorurteil des Adels wäre, sodaß die Schuld des Sohnes, sowie der blinde Gehorsam desselben unverständlich wird. Wäre der reale Fall sublimer gewählt, so müßte gerade darin die Pointe liegen, daß der fehlende Sohn, der bloß scheinbar das Opfer einer Tyrannei ist, sich belehren läßt und einer Er¬ kenntnis gegenüber nachgiebt, welche nicht gleich zu Tage liegt, sondern nur dem gewählteren Sinne zugänglich ist. Ähnlich macht die ideale Liebesgeschichte (Anhang, S. 53) keinen reinen Eindruck. Unter den Händen eines Rousseau werden derartige Schilderungen, bei denen die einfache Natur der vorhistorischen Menschen der modernen Korruption gegenübergestellt wird, packend und groß. Denn der Umstand, daß diese schäferlich-naiven Urmenschen sittlich und über¬ haupt fortgeschritten denken und handeln, wird umsoweniger nützlich, je um¬ fassender die Wendung zum Vvllkommneren ist, bei der das fragliche Vorbild zur Aufmunterung verwendet wird. Wo das Genie den Gedanken einer neuen Menschheit faßt, darf es, um ihn deutlich zu machen, zu einem Gegenstück greifen, welches des Zusammenhanges mit der Wirklichkeit, mit der Kultur, entbehrt, und infolge dessen für den, der nicht auf den Geist des Ganzen sieht, un¬ gereimt erscheint. Aber Sonnenfels wollte eher Verbesserungen im einzelnen. Deshalb ist die Sphäre der Unbestimmtheit, in welche die Erzählung gerückt ist, minder zweckmäßig. Vielleicht darf man sich hier an die „Germania" des Tacitus erinnern, wo ja auch primitive Zustände mit der größten Zivilisations¬ stufe der damaligen Zeit sozusagen neidisch verglichen werden, aber nicht bloß Barbarei gegen Kultur in die Schranken tritt, sondern auch unter Abstraktion dieses Punktes ein renler Typus aufgestellt wird, der eine unvollkommnere Menschheitsbildnng aussticht. Beachtenswert sind serner die Stellen, wo die übertriebene Höflichkeit und Galanterie der modernen Gesellschaft ironisch gestreift wird — Kapa-tu-um will nichts von Schmeicheleien gegen die Frauenwelt wissen —, wo die Schatten¬ seiten Erwähnung finden, welche bei dem vulgären Bestreben, standesgemäß zu leben, hervortreten können, oder wo über harmonische Erziehung gesprochen wird. Etwas grobfädig freilich ist die Behandlung der Fragen auch hier. Mai, versäumt gegenwärtig, die praktische Sittlichkeit zum Gegenstande wissenschaftlicher Darstellungen zu machen. Umsomehr muß die Thatsache, wie eingehend die Früheren rein verstandesmnßige moralische Untersuchungen an¬ stellten, betont werden; wenngleich in unserm Fall nicht verschwiegen werden soll, daß sich das meiste der hierher gehörigen Sonnenfelsischen Arbeiten auf zu niederem Boden bewegt, als daß es tiefere Teilnahme erwecken könnte. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/655>, abgerufen am 26.06.2024.