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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Altfränkische Bilder und Geschichten ans dem Koburger Täubchen.

Hof laufe. Als der junge Gerichtshalter später der Mann Carolinens und Vater
Lillis geworden war, erhielt diese einmal von dem Freifräulein -- "Rickele" --
selbst die vertrauliche Mitteilung jenes Zwiegespräches.

Ein kulturhistorisch merkwürdiges Ereignis hatte sich damals bereits an
der kleinen Lilli, in ihrem vierten Jahre, selbst vollzogen, nämlich die Impfung,
und zwar, weil die Kuhpockenlymphe noch nicht bekannt war, die Impfung mit
Menschcnblattergift, ein Unternehmen, dessen gefährlicher Neuheit die ganze Stadt
mit Schrecken zusah, und dessen Gefahren auch der Arzt uur dadurch abwenden
zu können glaubte, daß er der kleinen Fieberkranken zur Zerstreuung eine laute
Janitscharenmusik im Zimmer verordnete, nebst einem von den Freunden und
Freundinnen des Hauses aufgeführten Kunstreitertanz auf Stühlen um den Tisch
heran. Und obwohl dieses bei offenen Fenstern angewandte Mittel den Ko-
bnrgcrn als eine neue Gottlosigkeit erschien, so gelang doch die Kur vortrefflich,
so vortrefflich, daß um auch die Prinzen und Prinzessinnen des herzoglichen
Hauses sofort, und zwar mit Lillis eignem Blattergift, geimpft wurden, und
daß dieses Gift so, wie unsre Erzählerin bemerkt, eine pathologische Quelle der
Gesundheit und Schönheit wurde, kraft deren das Koburger Haus sich seitdem
hervorgethan und auf drei europäischen Königsthronen neue Stammbäume ins
Leben gerufen hat. Den schönen Prinzen und Prinzessinnen aber, namentlich
der Prinzessin Victoria (der späteren Herzogin von Kent), wurde das Scholle
Jmpfschwesterlein bald auch für mehrere Jahre eine angenehme Gespielin.

Gewissermaßen einen gegensätzlichen Beweis für den Segen der Impfung
aber bietet der in unserm Vues als "liebenswürdiges Original" aufgeführte alte
Freund und Hausgenosse, Georg H., der durch die bösen natürlichen Blattern
nicht nur die ursprüngliche Schönheit seiner Gesichtszüge verloren, sondern auch
an der sonst wohlerhaltenen und entwickelten Schönheit seines Geistes und Ge¬
mütes insofern eine Einbuße erlitten hatte, als er, getren dem Grundsätze seiner
Nichtimpfung, vor allen Neuerungen, besonders politischen, einen krankhaften
Abscheu empfand und sich hierdurch von der Gesinnung seines Koburger Freundes¬
kreises, namentlich Stockmars, Rückerts und der Frau Bergner, fortdauernd
unterschied. Unsre poetische Teilnahme aber gewinnt der liebenswürdige alte
Herr und Hagestolz dadurch, daß er in seiner Jugend die von Rückert gefeierte
schöne Agnes, die Amtmannstochter von Gcrenth, liebte, und als er einmal,
um mit ihr zu tanzen, zum Sonntagsballe nach Gerards fuhr, dort gerade zu
ihrem Begräbnis eintraf und anstatt von der Tanzmusik vom Todesgeläute
begrüßt wurde.

Von seinen "Jugendliedern," zu denen die Aguesfeier gehört, teilte Rückert,
wie wir auch aus den hier gedruckten Briefen ersehen, die meisten und besten
seinem Freunde Stockmar und der Freundin Bergncr sofort handschriftlich mit,
namentlich die Amaryllis, die Drei Liedlein vom Gliicke, den Kleinen Haushalt,
die Geharnischten Sonette und die Fünf Märlein für seine kleine Schwester. Zu


Altfränkische Bilder und Geschichten ans dem Koburger Täubchen.

Hof laufe. Als der junge Gerichtshalter später der Mann Carolinens und Vater
Lillis geworden war, erhielt diese einmal von dem Freifräulein — „Rickele" —
selbst die vertrauliche Mitteilung jenes Zwiegespräches.

Ein kulturhistorisch merkwürdiges Ereignis hatte sich damals bereits an
der kleinen Lilli, in ihrem vierten Jahre, selbst vollzogen, nämlich die Impfung,
und zwar, weil die Kuhpockenlymphe noch nicht bekannt war, die Impfung mit
Menschcnblattergift, ein Unternehmen, dessen gefährlicher Neuheit die ganze Stadt
mit Schrecken zusah, und dessen Gefahren auch der Arzt uur dadurch abwenden
zu können glaubte, daß er der kleinen Fieberkranken zur Zerstreuung eine laute
Janitscharenmusik im Zimmer verordnete, nebst einem von den Freunden und
Freundinnen des Hauses aufgeführten Kunstreitertanz auf Stühlen um den Tisch
heran. Und obwohl dieses bei offenen Fenstern angewandte Mittel den Ko-
bnrgcrn als eine neue Gottlosigkeit erschien, so gelang doch die Kur vortrefflich,
so vortrefflich, daß um auch die Prinzen und Prinzessinnen des herzoglichen
Hauses sofort, und zwar mit Lillis eignem Blattergift, geimpft wurden, und
daß dieses Gift so, wie unsre Erzählerin bemerkt, eine pathologische Quelle der
Gesundheit und Schönheit wurde, kraft deren das Koburger Haus sich seitdem
hervorgethan und auf drei europäischen Königsthronen neue Stammbäume ins
Leben gerufen hat. Den schönen Prinzen und Prinzessinnen aber, namentlich
der Prinzessin Victoria (der späteren Herzogin von Kent), wurde das Scholle
Jmpfschwesterlein bald auch für mehrere Jahre eine angenehme Gespielin.

Gewissermaßen einen gegensätzlichen Beweis für den Segen der Impfung
aber bietet der in unserm Vues als „liebenswürdiges Original" aufgeführte alte
Freund und Hausgenosse, Georg H., der durch die bösen natürlichen Blattern
nicht nur die ursprüngliche Schönheit seiner Gesichtszüge verloren, sondern auch
an der sonst wohlerhaltenen und entwickelten Schönheit seines Geistes und Ge¬
mütes insofern eine Einbuße erlitten hatte, als er, getren dem Grundsätze seiner
Nichtimpfung, vor allen Neuerungen, besonders politischen, einen krankhaften
Abscheu empfand und sich hierdurch von der Gesinnung seines Koburger Freundes¬
kreises, namentlich Stockmars, Rückerts und der Frau Bergner, fortdauernd
unterschied. Unsre poetische Teilnahme aber gewinnt der liebenswürdige alte
Herr und Hagestolz dadurch, daß er in seiner Jugend die von Rückert gefeierte
schöne Agnes, die Amtmannstochter von Gcrenth, liebte, und als er einmal,
um mit ihr zu tanzen, zum Sonntagsballe nach Gerards fuhr, dort gerade zu
ihrem Begräbnis eintraf und anstatt von der Tanzmusik vom Todesgeläute
begrüßt wurde.

Von seinen „Jugendliedern," zu denen die Aguesfeier gehört, teilte Rückert,
wie wir auch aus den hier gedruckten Briefen ersehen, die meisten und besten
seinem Freunde Stockmar und der Freundin Bergncr sofort handschriftlich mit,
namentlich die Amaryllis, die Drei Liedlein vom Gliicke, den Kleinen Haushalt,
die Geharnischten Sonette und die Fünf Märlein für seine kleine Schwester. Zu


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[0617] Altfränkische Bilder und Geschichten ans dem Koburger Täubchen. Hof laufe. Als der junge Gerichtshalter später der Mann Carolinens und Vater Lillis geworden war, erhielt diese einmal von dem Freifräulein — „Rickele" — selbst die vertrauliche Mitteilung jenes Zwiegespräches. Ein kulturhistorisch merkwürdiges Ereignis hatte sich damals bereits an der kleinen Lilli, in ihrem vierten Jahre, selbst vollzogen, nämlich die Impfung, und zwar, weil die Kuhpockenlymphe noch nicht bekannt war, die Impfung mit Menschcnblattergift, ein Unternehmen, dessen gefährlicher Neuheit die ganze Stadt mit Schrecken zusah, und dessen Gefahren auch der Arzt uur dadurch abwenden zu können glaubte, daß er der kleinen Fieberkranken zur Zerstreuung eine laute Janitscharenmusik im Zimmer verordnete, nebst einem von den Freunden und Freundinnen des Hauses aufgeführten Kunstreitertanz auf Stühlen um den Tisch heran. Und obwohl dieses bei offenen Fenstern angewandte Mittel den Ko- bnrgcrn als eine neue Gottlosigkeit erschien, so gelang doch die Kur vortrefflich, so vortrefflich, daß um auch die Prinzen und Prinzessinnen des herzoglichen Hauses sofort, und zwar mit Lillis eignem Blattergift, geimpft wurden, und daß dieses Gift so, wie unsre Erzählerin bemerkt, eine pathologische Quelle der Gesundheit und Schönheit wurde, kraft deren das Koburger Haus sich seitdem hervorgethan und auf drei europäischen Königsthronen neue Stammbäume ins Leben gerufen hat. Den schönen Prinzen und Prinzessinnen aber, namentlich der Prinzessin Victoria (der späteren Herzogin von Kent), wurde das Scholle Jmpfschwesterlein bald auch für mehrere Jahre eine angenehme Gespielin. Gewissermaßen einen gegensätzlichen Beweis für den Segen der Impfung aber bietet der in unserm Vues als „liebenswürdiges Original" aufgeführte alte Freund und Hausgenosse, Georg H., der durch die bösen natürlichen Blattern nicht nur die ursprüngliche Schönheit seiner Gesichtszüge verloren, sondern auch an der sonst wohlerhaltenen und entwickelten Schönheit seines Geistes und Ge¬ mütes insofern eine Einbuße erlitten hatte, als er, getren dem Grundsätze seiner Nichtimpfung, vor allen Neuerungen, besonders politischen, einen krankhaften Abscheu empfand und sich hierdurch von der Gesinnung seines Koburger Freundes¬ kreises, namentlich Stockmars, Rückerts und der Frau Bergner, fortdauernd unterschied. Unsre poetische Teilnahme aber gewinnt der liebenswürdige alte Herr und Hagestolz dadurch, daß er in seiner Jugend die von Rückert gefeierte schöne Agnes, die Amtmannstochter von Gcrenth, liebte, und als er einmal, um mit ihr zu tanzen, zum Sonntagsballe nach Gerards fuhr, dort gerade zu ihrem Begräbnis eintraf und anstatt von der Tanzmusik vom Todesgeläute begrüßt wurde. Von seinen „Jugendliedern," zu denen die Aguesfeier gehört, teilte Rückert, wie wir auch aus den hier gedruckten Briefen ersehen, die meisten und besten seinem Freunde Stockmar und der Freundin Bergncr sofort handschriftlich mit, namentlich die Amaryllis, die Drei Liedlein vom Gliicke, den Kleinen Haushalt, die Geharnischten Sonette und die Fünf Märlein für seine kleine Schwester. Zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/617>, abgerufen am 01.07.2024.