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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Lisinarck und die Religion.

ficht, für den der Tod die Ruhe, der Schlaf ist, den Hamlet ersehnt, der traum¬
lose, nicht zumuten, bei solcher Auffassung in der engen Zelle eines Gefäng¬
nisses, bemüht von allem, was dem Leben einen Reiz verleihen kann, . . . das
Phosphoresziren seines Gehirnes noch eine Zeit lang fortzusetzen. . . Ich habe
ferner den Eindruck gehabt, daß die gegnerische Auffassung von eiuer gewissen
krankhaften Neigung geleitet war, den Verbrecher mit mehr Sorgfalt zu schonen
und vor Unrecht zu schützen als sein Opfer. . . Ich bin gern bereit, zu erklären,
daß die fortschreitende Vervollkommnung der menschlichen Einsicht und Bildung,
alle die Güter der Zivilisation, die wir mit Recht rühmen hören, das Fort¬
schreiten der Gesittung nicht ohne Anteil um der Sache s der Minderung der
Verbrechens ist, es ist aber das Fortschreiten derjenigen Gesittung, deren Grund¬
lage sich auf das Christentum unsrer Väter zurückführen läßt; sie wirkt anch
noch heute in allen Schichten des Volkes, sie trägt Sie noch heute, die Sitte;
die Abschaffung der Todesstrafe dagegen hat nur auf sehr kurze und kleine Be¬
zirke beschränkte Erfahrungen für sich. Ich halte mich meinerseits nicht für
berechtigt, die Mehrheit der friedlichen Bürger dem Experiment ohne weiteres
preiszugeben. . . Ich mochte also an die Herrn Juristen die Aufforderung richten:
Schrecken Sie angesichts der hohen Aufgabe, die Ihnen von der Vorsehung auf¬
erlegt ist, nicht vor Erfüllung derselben in ihrem höchsten Stadium zurück,
und werfen Sie das Richtschwert nicht von sich. Sie können sich dazu nur ge¬
drungen fühlen, wenn Sie Ihrem Arm in feiner Handhabung lediglich mensch¬
liche Kraft zutrauen. Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung von
oben in sich spürt, ist allerdings zur Führung des Richtschwertes nicht
stark genug."

Wir haben keinerlei Grund, die Aufrichtigkeit des Glaubens Bismarcks an
die persönliche Fortdauer uach dem Tode in Zweifel zu ziehen. Aber wir
dürfen uns wohl die Frage vorlegen, was er, welcher erklärt, ohne die zuver¬
sichtliche Überzeugung, >"<"linn vssv ^iZ-nnÄur vitiiv, sei das Leben wertlos, dazu
sagen würde, wenn jemand ihm den "Faust" aufschlüge und aus folgende Stelle
hinwiese:


Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken Seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen?
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.

Das folgende Zitat, welches teilweise schon zu den Belegen für unsre dritte
Behauptung in Betreff der Ursachen und Motive der religiösen Richtung Bis¬
marcks gehört, liefert den Nachweis, daß er hierin seinen frühern Anschauungen
im wesentlichen treu geblieben ist. In einer der Knltnrtninpfsdebatten des
preußischen Abgeordnetenhauses, am 10. Februar 1872, antwortete der Reichs-


Lisinarck und die Religion.

ficht, für den der Tod die Ruhe, der Schlaf ist, den Hamlet ersehnt, der traum¬
lose, nicht zumuten, bei solcher Auffassung in der engen Zelle eines Gefäng¬
nisses, bemüht von allem, was dem Leben einen Reiz verleihen kann, . . . das
Phosphoresziren seines Gehirnes noch eine Zeit lang fortzusetzen. . . Ich habe
ferner den Eindruck gehabt, daß die gegnerische Auffassung von eiuer gewissen
krankhaften Neigung geleitet war, den Verbrecher mit mehr Sorgfalt zu schonen
und vor Unrecht zu schützen als sein Opfer. . . Ich bin gern bereit, zu erklären,
daß die fortschreitende Vervollkommnung der menschlichen Einsicht und Bildung,
alle die Güter der Zivilisation, die wir mit Recht rühmen hören, das Fort¬
schreiten der Gesittung nicht ohne Anteil um der Sache s der Minderung der
Verbrechens ist, es ist aber das Fortschreiten derjenigen Gesittung, deren Grund¬
lage sich auf das Christentum unsrer Väter zurückführen läßt; sie wirkt anch
noch heute in allen Schichten des Volkes, sie trägt Sie noch heute, die Sitte;
die Abschaffung der Todesstrafe dagegen hat nur auf sehr kurze und kleine Be¬
zirke beschränkte Erfahrungen für sich. Ich halte mich meinerseits nicht für
berechtigt, die Mehrheit der friedlichen Bürger dem Experiment ohne weiteres
preiszugeben. . . Ich mochte also an die Herrn Juristen die Aufforderung richten:
Schrecken Sie angesichts der hohen Aufgabe, die Ihnen von der Vorsehung auf¬
erlegt ist, nicht vor Erfüllung derselben in ihrem höchsten Stadium zurück,
und werfen Sie das Richtschwert nicht von sich. Sie können sich dazu nur ge¬
drungen fühlen, wenn Sie Ihrem Arm in feiner Handhabung lediglich mensch¬
liche Kraft zutrauen. Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung von
oben in sich spürt, ist allerdings zur Führung des Richtschwertes nicht
stark genug."

Wir haben keinerlei Grund, die Aufrichtigkeit des Glaubens Bismarcks an
die persönliche Fortdauer uach dem Tode in Zweifel zu ziehen. Aber wir
dürfen uns wohl die Frage vorlegen, was er, welcher erklärt, ohne die zuver¬
sichtliche Überzeugung, >»<»linn vssv ^iZ-nnÄur vitiiv, sei das Leben wertlos, dazu
sagen würde, wenn jemand ihm den „Faust" aufschlüge und aus folgende Stelle
hinwiese:


Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken Seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen?
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.

Das folgende Zitat, welches teilweise schon zu den Belegen für unsre dritte
Behauptung in Betreff der Ursachen und Motive der religiösen Richtung Bis¬
marcks gehört, liefert den Nachweis, daß er hierin seinen frühern Anschauungen
im wesentlichen treu geblieben ist. In einer der Knltnrtninpfsdebatten des
preußischen Abgeordnetenhauses, am 10. Februar 1872, antwortete der Reichs-


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[0600] Lisinarck und die Religion. ficht, für den der Tod die Ruhe, der Schlaf ist, den Hamlet ersehnt, der traum¬ lose, nicht zumuten, bei solcher Auffassung in der engen Zelle eines Gefäng¬ nisses, bemüht von allem, was dem Leben einen Reiz verleihen kann, . . . das Phosphoresziren seines Gehirnes noch eine Zeit lang fortzusetzen. . . Ich habe ferner den Eindruck gehabt, daß die gegnerische Auffassung von eiuer gewissen krankhaften Neigung geleitet war, den Verbrecher mit mehr Sorgfalt zu schonen und vor Unrecht zu schützen als sein Opfer. . . Ich bin gern bereit, zu erklären, daß die fortschreitende Vervollkommnung der menschlichen Einsicht und Bildung, alle die Güter der Zivilisation, die wir mit Recht rühmen hören, das Fort¬ schreiten der Gesittung nicht ohne Anteil um der Sache s der Minderung der Verbrechens ist, es ist aber das Fortschreiten derjenigen Gesittung, deren Grund¬ lage sich auf das Christentum unsrer Väter zurückführen läßt; sie wirkt anch noch heute in allen Schichten des Volkes, sie trägt Sie noch heute, die Sitte; die Abschaffung der Todesstrafe dagegen hat nur auf sehr kurze und kleine Be¬ zirke beschränkte Erfahrungen für sich. Ich halte mich meinerseits nicht für berechtigt, die Mehrheit der friedlichen Bürger dem Experiment ohne weiteres preiszugeben. . . Ich mochte also an die Herrn Juristen die Aufforderung richten: Schrecken Sie angesichts der hohen Aufgabe, die Ihnen von der Vorsehung auf¬ erlegt ist, nicht vor Erfüllung derselben in ihrem höchsten Stadium zurück, und werfen Sie das Richtschwert nicht von sich. Sie können sich dazu nur ge¬ drungen fühlen, wenn Sie Ihrem Arm in feiner Handhabung lediglich mensch¬ liche Kraft zutrauen. Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung von oben in sich spürt, ist allerdings zur Führung des Richtschwertes nicht stark genug." Wir haben keinerlei Grund, die Aufrichtigkeit des Glaubens Bismarcks an die persönliche Fortdauer uach dem Tode in Zweifel zu ziehen. Aber wir dürfen uns wohl die Frage vorlegen, was er, welcher erklärt, ohne die zuver¬ sichtliche Überzeugung, >»<»linn vssv ^iZ-nnÄur vitiiv, sei das Leben wertlos, dazu sagen würde, wenn jemand ihm den „Faust" aufschlüge und aus folgende Stelle hinwiese: Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet, Sich über Wolken Seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe hier sich um, Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? Was er erkennt, läßt sich ergreifen. Das folgende Zitat, welches teilweise schon zu den Belegen für unsre dritte Behauptung in Betreff der Ursachen und Motive der religiösen Richtung Bis¬ marcks gehört, liefert den Nachweis, daß er hierin seinen frühern Anschauungen im wesentlichen treu geblieben ist. In einer der Knltnrtninpfsdebatten des preußischen Abgeordnetenhauses, am 10. Februar 1872, antwortete der Reichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/600>, abgerufen am 28.09.2024.