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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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sonst nicht selten begegnen. Ein Wohlgefallen an den Süßlichkeiten des Hcrrn-
hutertums, Enthusiasmus für das Lämmleinspiel und das bedenkliche Schwelgen
in der Seitenwunde des Gekreuzigten werden wir bei ihm gewiß nicht vermuten
dürfen, wohl aber Freude an dem bessern Inhalte jener Form des Pietismus.
Auch Goethe, der "Heide,""') fühlte sich von dem Wesen der Brüdergemeinde,
"dieser Gesellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte," in seinen
jüngern Jahren lebhaft angezogen.

Die Zahl frommer, wenigstens kirchlicher Häuser war mittlerweile in den
Kreisel des preußische" Adels größer geworden. Bei den einen war es innerer
Drang, bei den andern Mode und guter Ton, wenn seit dem Regierungsantritte
Friedrich Wilhelms des Vierten supranaturalistische, pietistische und orthodoxe
Strömungen den bisher rationalistisch bestellten oder mit Gedanken Rousseaus
und Voltaires besäten Boden der höhern Schichten der Gesellschaft überfluteten
und durchtränkten. Der Nationalismus war gar zu flach, trocken und un¬
fruchtbar und nebenbei vulgär gewesen, er hatte dem Herzen und der Phan¬
tasie zu wenig geboten, und er war mit dem Liberalismus verwandt, der sich
anschickte, die Reste der feudalen Rechte, welche die Stein-Hardcnbergsche Gesetz¬
gebung übrig gelassen, ebenfalls zu beseitigen. Die Lehre Hegels war nicht für
Damen und ihnen nahestehende Gefühlsmenschen, lind sie hatte im Jung-
hegelianismils einen Zweig getrieben, der das Bestehende noch mehr gefährdete
als die rationalistische Doktrin. Die Revolution zeigte sich als Gewitterwolke
am westlichen und südlichen Horizont, und das Christentum mit seiner Predigt
der Demut, Entsagung und Entbehrung erschien vielen besorgten Geistern als
die einzige Macht, welche die Gefahr zerstreuen konnte. Auf der ganzen Ver¬
teidigungslinie von Vnnsen bis zu Stahl und Gerlach gewöhnte man sich nach
dem Beispiel an Allerhöchster Stelle an salbungsvolle Rede. Das alte Dogma
von der Erbsünde, von der gründlichen Verderbnis der menschlichen Natur wurde
wieder ausgegraben und in den Vordergrund gerückt. Die ganze sichtbare Welt
war von der Zeit des Sündenfalles her böse, alles war böse, was der Nntnr
nicht widersprach, Selbstzufriedenheit das größte Verbrechen; nicht ans dem
Innern, von außen, von obenher kam das Heil.

In einen Kreis ähnlicher Ideen trat Bismarck um die Zeit seiner Ver¬
heiratung ein. Derselbe umgab ihn auch von andrer Seite her als ans der
Pnttkamerschen Familie und war die Atmosphäre, in welcher der junge Edel¬
mann von jetzt an einige Jahre zum guten Teile lebte. Diese Auffassung des
Mensche" und der Welt schloß sich eng an die trübe, unbefriedigte, sehnsüchtige
Stimmung an, mit der er ihr entgegengekommen war. Bismarck fühlte sich
-- so haben wir uns die Sache ungefähr vorzustellen -- durch das Positive,
das er mit jenen Ideen gewann, gehoben und innerlich vertieft, gestärkt und be-



*) A. a. O., Band 22, S. 229.

sonst nicht selten begegnen. Ein Wohlgefallen an den Süßlichkeiten des Hcrrn-
hutertums, Enthusiasmus für das Lämmleinspiel und das bedenkliche Schwelgen
in der Seitenwunde des Gekreuzigten werden wir bei ihm gewiß nicht vermuten
dürfen, wohl aber Freude an dem bessern Inhalte jener Form des Pietismus.
Auch Goethe, der „Heide,""') fühlte sich von dem Wesen der Brüdergemeinde,
„dieser Gesellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte," in seinen
jüngern Jahren lebhaft angezogen.

Die Zahl frommer, wenigstens kirchlicher Häuser war mittlerweile in den
Kreisel des preußische» Adels größer geworden. Bei den einen war es innerer
Drang, bei den andern Mode und guter Ton, wenn seit dem Regierungsantritte
Friedrich Wilhelms des Vierten supranaturalistische, pietistische und orthodoxe
Strömungen den bisher rationalistisch bestellten oder mit Gedanken Rousseaus
und Voltaires besäten Boden der höhern Schichten der Gesellschaft überfluteten
und durchtränkten. Der Nationalismus war gar zu flach, trocken und un¬
fruchtbar und nebenbei vulgär gewesen, er hatte dem Herzen und der Phan¬
tasie zu wenig geboten, und er war mit dem Liberalismus verwandt, der sich
anschickte, die Reste der feudalen Rechte, welche die Stein-Hardcnbergsche Gesetz¬
gebung übrig gelassen, ebenfalls zu beseitigen. Die Lehre Hegels war nicht für
Damen und ihnen nahestehende Gefühlsmenschen, lind sie hatte im Jung-
hegelianismils einen Zweig getrieben, der das Bestehende noch mehr gefährdete
als die rationalistische Doktrin. Die Revolution zeigte sich als Gewitterwolke
am westlichen und südlichen Horizont, und das Christentum mit seiner Predigt
der Demut, Entsagung und Entbehrung erschien vielen besorgten Geistern als
die einzige Macht, welche die Gefahr zerstreuen konnte. Auf der ganzen Ver¬
teidigungslinie von Vnnsen bis zu Stahl und Gerlach gewöhnte man sich nach
dem Beispiel an Allerhöchster Stelle an salbungsvolle Rede. Das alte Dogma
von der Erbsünde, von der gründlichen Verderbnis der menschlichen Natur wurde
wieder ausgegraben und in den Vordergrund gerückt. Die ganze sichtbare Welt
war von der Zeit des Sündenfalles her böse, alles war böse, was der Nntnr
nicht widersprach, Selbstzufriedenheit das größte Verbrechen; nicht ans dem
Innern, von außen, von obenher kam das Heil.

In einen Kreis ähnlicher Ideen trat Bismarck um die Zeit seiner Ver¬
heiratung ein. Derselbe umgab ihn auch von andrer Seite her als ans der
Pnttkamerschen Familie und war die Atmosphäre, in welcher der junge Edel¬
mann von jetzt an einige Jahre zum guten Teile lebte. Diese Auffassung des
Mensche» und der Welt schloß sich eng an die trübe, unbefriedigte, sehnsüchtige
Stimmung an, mit der er ihr entgegengekommen war. Bismarck fühlte sich
— so haben wir uns die Sache ungefähr vorzustellen — durch das Positive,
das er mit jenen Ideen gewann, gehoben und innerlich vertieft, gestärkt und be-



*) A. a. O., Band 22, S. 229.
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[0593] sonst nicht selten begegnen. Ein Wohlgefallen an den Süßlichkeiten des Hcrrn- hutertums, Enthusiasmus für das Lämmleinspiel und das bedenkliche Schwelgen in der Seitenwunde des Gekreuzigten werden wir bei ihm gewiß nicht vermuten dürfen, wohl aber Freude an dem bessern Inhalte jener Form des Pietismus. Auch Goethe, der „Heide,""') fühlte sich von dem Wesen der Brüdergemeinde, „dieser Gesellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte," in seinen jüngern Jahren lebhaft angezogen. Die Zahl frommer, wenigstens kirchlicher Häuser war mittlerweile in den Kreisel des preußische» Adels größer geworden. Bei den einen war es innerer Drang, bei den andern Mode und guter Ton, wenn seit dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelms des Vierten supranaturalistische, pietistische und orthodoxe Strömungen den bisher rationalistisch bestellten oder mit Gedanken Rousseaus und Voltaires besäten Boden der höhern Schichten der Gesellschaft überfluteten und durchtränkten. Der Nationalismus war gar zu flach, trocken und un¬ fruchtbar und nebenbei vulgär gewesen, er hatte dem Herzen und der Phan¬ tasie zu wenig geboten, und er war mit dem Liberalismus verwandt, der sich anschickte, die Reste der feudalen Rechte, welche die Stein-Hardcnbergsche Gesetz¬ gebung übrig gelassen, ebenfalls zu beseitigen. Die Lehre Hegels war nicht für Damen und ihnen nahestehende Gefühlsmenschen, lind sie hatte im Jung- hegelianismils einen Zweig getrieben, der das Bestehende noch mehr gefährdete als die rationalistische Doktrin. Die Revolution zeigte sich als Gewitterwolke am westlichen und südlichen Horizont, und das Christentum mit seiner Predigt der Demut, Entsagung und Entbehrung erschien vielen besorgten Geistern als die einzige Macht, welche die Gefahr zerstreuen konnte. Auf der ganzen Ver¬ teidigungslinie von Vnnsen bis zu Stahl und Gerlach gewöhnte man sich nach dem Beispiel an Allerhöchster Stelle an salbungsvolle Rede. Das alte Dogma von der Erbsünde, von der gründlichen Verderbnis der menschlichen Natur wurde wieder ausgegraben und in den Vordergrund gerückt. Die ganze sichtbare Welt war von der Zeit des Sündenfalles her böse, alles war böse, was der Nntnr nicht widersprach, Selbstzufriedenheit das größte Verbrechen; nicht ans dem Innern, von außen, von obenher kam das Heil. In einen Kreis ähnlicher Ideen trat Bismarck um die Zeit seiner Ver¬ heiratung ein. Derselbe umgab ihn auch von andrer Seite her als ans der Pnttkamerschen Familie und war die Atmosphäre, in welcher der junge Edel¬ mann von jetzt an einige Jahre zum guten Teile lebte. Diese Auffassung des Mensche» und der Welt schloß sich eng an die trübe, unbefriedigte, sehnsüchtige Stimmung an, mit der er ihr entgegengekommen war. Bismarck fühlte sich — so haben wir uns die Sache ungefähr vorzustellen — durch das Positive, das er mit jenen Ideen gewann, gehoben und innerlich vertieft, gestärkt und be- *) A. a. O., Band 22, S. 229.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/593>, abgerufen am 29.06.2024.