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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Verstaatlichung der Armenlasten.

dann die Verpflichtung heran, sie in der Fremde zu verpflegen oder, da das
meistens zu teuer sein wird, sie auf Gemeindeunkosten nach Hause zurückzuschaffen.
Welch enorme Summen das in Anspruch nimmt, falls es sich um ganze Fa¬
milien handelt, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden.

Die andre Möglichkeit wird durch Epidemien hervorgerufen, die mitunter
an derselben Ortschaft eine größere Anzahl von Familienvätern hinwegraffen,
deren Angehörige dann, des Ernährers beraubt, von der Gemeinde erhalten
werden müssen. Solche bedauerliche Verhältnisse bilden die Choleraepidemien
von 1866 und zu Anfang der siebziger Jahre vielfach hervorgerufen.

Es ließen sich noch eine ganze Menge ähnlicher Fälle anführen, doch würde
das zu weit führen; jedenfalls genügt das Gesagte, um klarzumachen, daß die
jetzige Organisation der Armenpflege zahlreiche tückische Möglichkeiten in sich
schließt, die, wenn sie sich derselben Kommune gegeuüber wiederholt verwirklichen,
diese an den Rand des Bankerotts bringen können.

Die Vereinigung einer Mehrheit von Gemeinden zu einem großen Armen-
verbande würde nun die einzelne Gemeinde vor zu großen, ihre Existenz be¬
drohenden Verlusten schützen, da sich ja die unerwartet entstandenen Kosten aus
eine Mehrheit verteilen würden. Dafür würde allerdings jede einzelne Gemeinde
häufiger, ja vielleicht alle Jahre ihre frühern Armenlnsten um einen bestimmten
Betrag erhöht sehen, die einmaligen großen außerordentlichen Ausgaben würden
sich in eine in bestimmten Zeiträumen wiederkehrende regelmäßige Ausgabe ver¬
wandeln, die sich gewissermaßen als eine Versicherungsprämie gegen Armen¬
schaden darstellte; aber dafür wäre die einzelne Gemeinde auch gegen etwaige
außergewöhnliche Tücken des Zufalls geschützt.

Das wäre nun gewiß sehr schön. Indessen entsteht hier sofort die Frage:
Nach welchem Maßstabe könnte der große Armenverband die Armenkosten auf
seine einzelnen Mitglieder verteilen? Die Gerechtigkeit verlangte, daß bei der Un¬
gleichheit der Armenlasten bestimmte Gefahrenklassen wie bei Fenerversichernngs-
gesellschaften gebildet würden, nach denen man die Armeubeiträge einzöge. Nun
fehlt aber zur Feststellung der Gefahrenklassen jedes statistische Material, und es
würde Jahrzehnte in Anspruch nehmen, um ein solches auch nur mit annähernder
Nichtigkeit zu beschaffen; es bliebe also nichts übrig, als entweder nach der
Kopfzahl oder nach den Real- und Personalsteuern die Beiträge zu erheben --
ein Verfahren, das die bereits oben geschilderten Ungerechtigkeiten mit sich bringen
und die großen Armenverbände ihrer Ähnlichkeit mit Versicherungsgesellschaften
vollständig berauben würde; dieselben ließen sich dann höchstens mit einer Fener-
versicherungsgesellschaft vergleichen, die für Stein- und Strohdach eine gleiche
Prämie einforderte.

Aus diesem Grunde hat auch der bisher schon so oft ausgesprochene Wunsch
nach Gründung von Versicherungsgesellschaften gegen Armenschaden nicht ver¬
wirklicht werden können: es fehlen eben alle Vorarbeiten, und zu warten, bis


«SW«»«

Die Verstaatlichung der Armenlasten.

dann die Verpflichtung heran, sie in der Fremde zu verpflegen oder, da das
meistens zu teuer sein wird, sie auf Gemeindeunkosten nach Hause zurückzuschaffen.
Welch enorme Summen das in Anspruch nimmt, falls es sich um ganze Fa¬
milien handelt, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden.

Die andre Möglichkeit wird durch Epidemien hervorgerufen, die mitunter
an derselben Ortschaft eine größere Anzahl von Familienvätern hinwegraffen,
deren Angehörige dann, des Ernährers beraubt, von der Gemeinde erhalten
werden müssen. Solche bedauerliche Verhältnisse bilden die Choleraepidemien
von 1866 und zu Anfang der siebziger Jahre vielfach hervorgerufen.

Es ließen sich noch eine ganze Menge ähnlicher Fälle anführen, doch würde
das zu weit führen; jedenfalls genügt das Gesagte, um klarzumachen, daß die
jetzige Organisation der Armenpflege zahlreiche tückische Möglichkeiten in sich
schließt, die, wenn sie sich derselben Kommune gegeuüber wiederholt verwirklichen,
diese an den Rand des Bankerotts bringen können.

Die Vereinigung einer Mehrheit von Gemeinden zu einem großen Armen-
verbande würde nun die einzelne Gemeinde vor zu großen, ihre Existenz be¬
drohenden Verlusten schützen, da sich ja die unerwartet entstandenen Kosten aus
eine Mehrheit verteilen würden. Dafür würde allerdings jede einzelne Gemeinde
häufiger, ja vielleicht alle Jahre ihre frühern Armenlnsten um einen bestimmten
Betrag erhöht sehen, die einmaligen großen außerordentlichen Ausgaben würden
sich in eine in bestimmten Zeiträumen wiederkehrende regelmäßige Ausgabe ver¬
wandeln, die sich gewissermaßen als eine Versicherungsprämie gegen Armen¬
schaden darstellte; aber dafür wäre die einzelne Gemeinde auch gegen etwaige
außergewöhnliche Tücken des Zufalls geschützt.

Das wäre nun gewiß sehr schön. Indessen entsteht hier sofort die Frage:
Nach welchem Maßstabe könnte der große Armenverband die Armenkosten auf
seine einzelnen Mitglieder verteilen? Die Gerechtigkeit verlangte, daß bei der Un¬
gleichheit der Armenlasten bestimmte Gefahrenklassen wie bei Fenerversichernngs-
gesellschaften gebildet würden, nach denen man die Armeubeiträge einzöge. Nun
fehlt aber zur Feststellung der Gefahrenklassen jedes statistische Material, und es
würde Jahrzehnte in Anspruch nehmen, um ein solches auch nur mit annähernder
Nichtigkeit zu beschaffen; es bliebe also nichts übrig, als entweder nach der
Kopfzahl oder nach den Real- und Personalsteuern die Beiträge zu erheben —
ein Verfahren, das die bereits oben geschilderten Ungerechtigkeiten mit sich bringen
und die großen Armenverbände ihrer Ähnlichkeit mit Versicherungsgesellschaften
vollständig berauben würde; dieselben ließen sich dann höchstens mit einer Fener-
versicherungsgesellschaft vergleichen, die für Stein- und Strohdach eine gleiche
Prämie einforderte.

Aus diesem Grunde hat auch der bisher schon so oft ausgesprochene Wunsch
nach Gründung von Versicherungsgesellschaften gegen Armenschaden nicht ver¬
wirklicht werden können: es fehlen eben alle Vorarbeiten, und zu warten, bis


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[0585] Die Verstaatlichung der Armenlasten. «SW«»« dann die Verpflichtung heran, sie in der Fremde zu verpflegen oder, da das meistens zu teuer sein wird, sie auf Gemeindeunkosten nach Hause zurückzuschaffen. Welch enorme Summen das in Anspruch nimmt, falls es sich um ganze Fa¬ milien handelt, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Die andre Möglichkeit wird durch Epidemien hervorgerufen, die mitunter an derselben Ortschaft eine größere Anzahl von Familienvätern hinwegraffen, deren Angehörige dann, des Ernährers beraubt, von der Gemeinde erhalten werden müssen. Solche bedauerliche Verhältnisse bilden die Choleraepidemien von 1866 und zu Anfang der siebziger Jahre vielfach hervorgerufen. Es ließen sich noch eine ganze Menge ähnlicher Fälle anführen, doch würde das zu weit führen; jedenfalls genügt das Gesagte, um klarzumachen, daß die jetzige Organisation der Armenpflege zahlreiche tückische Möglichkeiten in sich schließt, die, wenn sie sich derselben Kommune gegeuüber wiederholt verwirklichen, diese an den Rand des Bankerotts bringen können. Die Vereinigung einer Mehrheit von Gemeinden zu einem großen Armen- verbande würde nun die einzelne Gemeinde vor zu großen, ihre Existenz be¬ drohenden Verlusten schützen, da sich ja die unerwartet entstandenen Kosten aus eine Mehrheit verteilen würden. Dafür würde allerdings jede einzelne Gemeinde häufiger, ja vielleicht alle Jahre ihre frühern Armenlnsten um einen bestimmten Betrag erhöht sehen, die einmaligen großen außerordentlichen Ausgaben würden sich in eine in bestimmten Zeiträumen wiederkehrende regelmäßige Ausgabe ver¬ wandeln, die sich gewissermaßen als eine Versicherungsprämie gegen Armen¬ schaden darstellte; aber dafür wäre die einzelne Gemeinde auch gegen etwaige außergewöhnliche Tücken des Zufalls geschützt. Das wäre nun gewiß sehr schön. Indessen entsteht hier sofort die Frage: Nach welchem Maßstabe könnte der große Armenverband die Armenkosten auf seine einzelnen Mitglieder verteilen? Die Gerechtigkeit verlangte, daß bei der Un¬ gleichheit der Armenlasten bestimmte Gefahrenklassen wie bei Fenerversichernngs- gesellschaften gebildet würden, nach denen man die Armeubeiträge einzöge. Nun fehlt aber zur Feststellung der Gefahrenklassen jedes statistische Material, und es würde Jahrzehnte in Anspruch nehmen, um ein solches auch nur mit annähernder Nichtigkeit zu beschaffen; es bliebe also nichts übrig, als entweder nach der Kopfzahl oder nach den Real- und Personalsteuern die Beiträge zu erheben — ein Verfahren, das die bereits oben geschilderten Ungerechtigkeiten mit sich bringen und die großen Armenverbände ihrer Ähnlichkeit mit Versicherungsgesellschaften vollständig berauben würde; dieselben ließen sich dann höchstens mit einer Fener- versicherungsgesellschaft vergleichen, die für Stein- und Strohdach eine gleiche Prämie einforderte. Aus diesem Grunde hat auch der bisher schon so oft ausgesprochene Wunsch nach Gründung von Versicherungsgesellschaften gegen Armenschaden nicht ver¬ wirklicht werden können: es fehlen eben alle Vorarbeiten, und zu warten, bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/585>, abgerufen am 28.09.2024.