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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Verstaatlichung der Armenlasten.

diese vielleicht in einem halben Menschenalter vollendet sind, dazu hat unsre
heutige schnelllebende Generation keine Zeit.

Giebt es denn nun aber gar keinen Weg, die Härten, welche die Bildung
großer Armenverbände mit sich brächte, zu mildern? Wir antworten: Es giebt
allerdings einen Weg, aber augenblicklich auch nur einen einzigen, nämlich den:
die Armenverbände so groß wie nur irgend möglich zu bilden, denn je größer
der Armenverband, desto weniger wird der einzelne Benachteiligte die größere
Belastung empfinden, weil sie eben auf viele sich verteilt. Der größte denk¬
bare Armen verband aber ist der Staat, und den Staat als einen einzigen
Armenverband zu proklamiren, das ist wieder nichts andres als die Über¬
nahme der Armenlasten auf den Staat -- der Gedanke des Fürsten
Bismarck.

Wiederum sehen wir, wie der Reichskanzler aus dem Ideenkreise seiner
Gegner den richtigen Kern, nach welchem letztere, gleichsam wie im Dunkeln
tappend, haschen und zu welchem sie nicht gelangen können, weil sie aus mangel¬
hafter Kenntnis des Staates ganz falsche Wege einschlagen, herausschält und
zugleich zeigt, wie dieser Kern praktisch erreicht, wie die Frage allein gelöst
werden kann. Und im vorliegenden Falle gestaltet diese Lösung, die Verstaat¬
lichung der Armenlasten, sich dadurch so überaus glücklich, daß Fürst Bismarck
sie mit einer Reform unsers Steuersystems kombinirt und durch eine Erhöhung
der indirekten Steuern, die in Wahrheit kaum jemand fühlt, die nötigen Gelder
beschaffen will. Damit sind alle Fehler, alle Härten, die von der Bildung großer
Armenverbände unzertrennlich schienen, beseitigt, und die Notwendigkeit, einen
Weg zu finden, auf welchem die Armenbciträge von den einzelnen Gemeinden
eingezogen werden können, ist aufgehoben. Fürst Bismarck hat damit gezeigt,
daß er einen gordischen Knoten nicht bloß zerhauen, sondern daß er ihn wirklich
lösen kann. Nur ein fanatischer Freihändler kann dieser so glücklichen, allen
Umständen Rechnung tragenden Lösung seine Zustimmung versagen.

Die Idee, den ganzen Staat als eine einzige große Gemeinde aufzufassen,
ist übrigens bereits in dem Freizügigkeitsgesetze, das wesentlich unter Mitwirkung
der liberalen Parteien zustande gekommen ist, ausgedrückt, und es müssen daher
folgerichtig auf dasselbe Prinzip auch die mit dem genannten in Wechselbeziehung
stehenden Gesetze begründet werden. Nun ist aber das Unterstützungswohnsitzgesetz
das natürliche Korrelat des Freizügigkeitsgesetzes. Hat das letztere den ganzen Staat
dem Ansiedlnngsrecht des Einzelnen gegenüber als eine Gemeinde aufgefaßt, so
muß auch die mit diesem Ansiedlungsrechte korrespondirende kommunale Pflicht
der Armenpflege in eine staatliche erweitert werden: der ganze Staat muß als
der Unterstützungswohnsitz jedes einzelnen Staatsbürgers angesehen werden.

Bis jetzt war die Herstellung eines einheitlichen Prinzips in der betreffenden
Gesetzgebung eine Unmöglichkeit; erst Fürst Bismarck hat gezeigt, wie durch eine
kombinirte Gesetzreform das Unmögliche möglich gemacht werden kann. Dem


Die Verstaatlichung der Armenlasten.

diese vielleicht in einem halben Menschenalter vollendet sind, dazu hat unsre
heutige schnelllebende Generation keine Zeit.

Giebt es denn nun aber gar keinen Weg, die Härten, welche die Bildung
großer Armenverbände mit sich brächte, zu mildern? Wir antworten: Es giebt
allerdings einen Weg, aber augenblicklich auch nur einen einzigen, nämlich den:
die Armenverbände so groß wie nur irgend möglich zu bilden, denn je größer
der Armenverband, desto weniger wird der einzelne Benachteiligte die größere
Belastung empfinden, weil sie eben auf viele sich verteilt. Der größte denk¬
bare Armen verband aber ist der Staat, und den Staat als einen einzigen
Armenverband zu proklamiren, das ist wieder nichts andres als die Über¬
nahme der Armenlasten auf den Staat — der Gedanke des Fürsten
Bismarck.

Wiederum sehen wir, wie der Reichskanzler aus dem Ideenkreise seiner
Gegner den richtigen Kern, nach welchem letztere, gleichsam wie im Dunkeln
tappend, haschen und zu welchem sie nicht gelangen können, weil sie aus mangel¬
hafter Kenntnis des Staates ganz falsche Wege einschlagen, herausschält und
zugleich zeigt, wie dieser Kern praktisch erreicht, wie die Frage allein gelöst
werden kann. Und im vorliegenden Falle gestaltet diese Lösung, die Verstaat¬
lichung der Armenlasten, sich dadurch so überaus glücklich, daß Fürst Bismarck
sie mit einer Reform unsers Steuersystems kombinirt und durch eine Erhöhung
der indirekten Steuern, die in Wahrheit kaum jemand fühlt, die nötigen Gelder
beschaffen will. Damit sind alle Fehler, alle Härten, die von der Bildung großer
Armenverbände unzertrennlich schienen, beseitigt, und die Notwendigkeit, einen
Weg zu finden, auf welchem die Armenbciträge von den einzelnen Gemeinden
eingezogen werden können, ist aufgehoben. Fürst Bismarck hat damit gezeigt,
daß er einen gordischen Knoten nicht bloß zerhauen, sondern daß er ihn wirklich
lösen kann. Nur ein fanatischer Freihändler kann dieser so glücklichen, allen
Umständen Rechnung tragenden Lösung seine Zustimmung versagen.

Die Idee, den ganzen Staat als eine einzige große Gemeinde aufzufassen,
ist übrigens bereits in dem Freizügigkeitsgesetze, das wesentlich unter Mitwirkung
der liberalen Parteien zustande gekommen ist, ausgedrückt, und es müssen daher
folgerichtig auf dasselbe Prinzip auch die mit dem genannten in Wechselbeziehung
stehenden Gesetze begründet werden. Nun ist aber das Unterstützungswohnsitzgesetz
das natürliche Korrelat des Freizügigkeitsgesetzes. Hat das letztere den ganzen Staat
dem Ansiedlnngsrecht des Einzelnen gegenüber als eine Gemeinde aufgefaßt, so
muß auch die mit diesem Ansiedlungsrechte korrespondirende kommunale Pflicht
der Armenpflege in eine staatliche erweitert werden: der ganze Staat muß als
der Unterstützungswohnsitz jedes einzelnen Staatsbürgers angesehen werden.

Bis jetzt war die Herstellung eines einheitlichen Prinzips in der betreffenden
Gesetzgebung eine Unmöglichkeit; erst Fürst Bismarck hat gezeigt, wie durch eine
kombinirte Gesetzreform das Unmögliche möglich gemacht werden kann. Dem


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[0586] Die Verstaatlichung der Armenlasten. diese vielleicht in einem halben Menschenalter vollendet sind, dazu hat unsre heutige schnelllebende Generation keine Zeit. Giebt es denn nun aber gar keinen Weg, die Härten, welche die Bildung großer Armenverbände mit sich brächte, zu mildern? Wir antworten: Es giebt allerdings einen Weg, aber augenblicklich auch nur einen einzigen, nämlich den: die Armenverbände so groß wie nur irgend möglich zu bilden, denn je größer der Armenverband, desto weniger wird der einzelne Benachteiligte die größere Belastung empfinden, weil sie eben auf viele sich verteilt. Der größte denk¬ bare Armen verband aber ist der Staat, und den Staat als einen einzigen Armenverband zu proklamiren, das ist wieder nichts andres als die Über¬ nahme der Armenlasten auf den Staat — der Gedanke des Fürsten Bismarck. Wiederum sehen wir, wie der Reichskanzler aus dem Ideenkreise seiner Gegner den richtigen Kern, nach welchem letztere, gleichsam wie im Dunkeln tappend, haschen und zu welchem sie nicht gelangen können, weil sie aus mangel¬ hafter Kenntnis des Staates ganz falsche Wege einschlagen, herausschält und zugleich zeigt, wie dieser Kern praktisch erreicht, wie die Frage allein gelöst werden kann. Und im vorliegenden Falle gestaltet diese Lösung, die Verstaat¬ lichung der Armenlasten, sich dadurch so überaus glücklich, daß Fürst Bismarck sie mit einer Reform unsers Steuersystems kombinirt und durch eine Erhöhung der indirekten Steuern, die in Wahrheit kaum jemand fühlt, die nötigen Gelder beschaffen will. Damit sind alle Fehler, alle Härten, die von der Bildung großer Armenverbände unzertrennlich schienen, beseitigt, und die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, auf welchem die Armenbciträge von den einzelnen Gemeinden eingezogen werden können, ist aufgehoben. Fürst Bismarck hat damit gezeigt, daß er einen gordischen Knoten nicht bloß zerhauen, sondern daß er ihn wirklich lösen kann. Nur ein fanatischer Freihändler kann dieser so glücklichen, allen Umständen Rechnung tragenden Lösung seine Zustimmung versagen. Die Idee, den ganzen Staat als eine einzige große Gemeinde aufzufassen, ist übrigens bereits in dem Freizügigkeitsgesetze, das wesentlich unter Mitwirkung der liberalen Parteien zustande gekommen ist, ausgedrückt, und es müssen daher folgerichtig auf dasselbe Prinzip auch die mit dem genannten in Wechselbeziehung stehenden Gesetze begründet werden. Nun ist aber das Unterstützungswohnsitzgesetz das natürliche Korrelat des Freizügigkeitsgesetzes. Hat das letztere den ganzen Staat dem Ansiedlnngsrecht des Einzelnen gegenüber als eine Gemeinde aufgefaßt, so muß auch die mit diesem Ansiedlungsrechte korrespondirende kommunale Pflicht der Armenpflege in eine staatliche erweitert werden: der ganze Staat muß als der Unterstützungswohnsitz jedes einzelnen Staatsbürgers angesehen werden. Bis jetzt war die Herstellung eines einheitlichen Prinzips in der betreffenden Gesetzgebung eine Unmöglichkeit; erst Fürst Bismarck hat gezeigt, wie durch eine kombinirte Gesetzreform das Unmögliche möglich gemacht werden kann. Dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/586>, abgerufen am 29.06.2024.