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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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politische Briefe.

weit ginge lind nicht in die Tanzmeistermanieren des Rococo zurückfiele. Wenn
ich die Herren jetzt so durch die grimmische Gasse -- Pardon, Grimmaische
Straße, wollt' ich sagen, auch die Gassen wollen jn jetzt keine Gassen mehr
sein! -- flaniren sehe, am Hinterhaupt gescheitelt und das unvermeidliche
Stückchen, das heute, Gott sei's geklagt, für ein paar Pfennige bei jedem Cigarren¬
trödler zu haben ist, in der Überziehertasche (!), die Zwinge nach oben gekehrt,
so füllt mir jedesmal der Brief ein, den der 27 jährige Goethe, als er im März
1776 zum erstenmal seit seiner Studentenzeit wieder in Leipzig war, an seinen
"lieben Herrn" nach Weimar schrieb und worin er "nicht genug sagen kann,
wie sich sein Erdgeruch und Erdgefühl gegen die schwarz, grau, strcifröckigen,
krummbeinigen, perrückenbeklebten, degcnschwänzlicheu Magisters, gegen die
feiertagsberockte, altmodische, schlankliche, vieldünkliche Studentenbnben, gegen
die zuckende, triefende, schnäbelnde und schwämelnde Mägdlein und gegen
die strotzliche, schwünzliche und sinzliche Jnngemägde aufnehme, welcher
Gräuel ihm alle heut um die Thore als am Marienfesttage entgegnet sei." Wenn
man irgendwo wünschen möchte, daß Einfachheit und Natürlichkeit der Sitte,
Offenheit, Herzlichkeit, ja selbst eine gewisse Anfgeknöpftheit des Verkehrs ge¬
wahrt bleibell möge, so sind es die Kreise der akademischen Jugend. Diese sind
aber gegenwärtig auf dem beseelt Wege, die Rolle zu übernehmen, die früher
der "Ladenschwnngel" und der "Gardelcutnnnt" gespielt haben. Während seit
dem Kriege und offenbar unter dem Eindrucke ernster Erfahrungen in den
deutschen Offizierskreiscn eine bemerkenswerte Schlichtheit der Umgangsformen
Platz gegriffen hat, während die knnfmännische Jugend mehr und mehr ihr
früheres geckenhaftes Wesen abwirft und eine gesetzte, männliche Haltung an¬
nimmt, fängt der deutsche Student an, den "Schniepel" zu spielen.

Möchten doch die Universitätslehrer sich der Sache einnehmen. Sie haben
so vielfach Gelegenheit, bei nladeinischen Festlichkeiten wie im häuslichen Verkehr,
in ernster und in humoristischer Weise, darauf anzuspielen, wie schlecht dem
dentschen Studenten alle Ziererei zu Gesichte steht, daß die aufgekommene Unsitte
bei einigem guten Willen sehr bald wieder beseitigt sein könnte.




politische Briefe.
9. Die erste,: Verhandlungen des Abgeordnetenhauses.

le Bedeutung der Thronrede, mit welcher am 14. November der
Landtag eröffnet wurde, ist hier bereits auseinandergesetzt worden.
Am 17. November legte der Finnnzminister dem Abgeordneten¬
hause den Staatshaushaltsplan für das Finanzjahr vom 1. April
1883 bis zum 31. März 1884 vor. Der Minister begleitete die
Vorlage mit einer Rede, welche die Ankündigungen der Thronrede in Betreff


politische Briefe.

weit ginge lind nicht in die Tanzmeistermanieren des Rococo zurückfiele. Wenn
ich die Herren jetzt so durch die grimmische Gasse — Pardon, Grimmaische
Straße, wollt' ich sagen, auch die Gassen wollen jn jetzt keine Gassen mehr
sein! — flaniren sehe, am Hinterhaupt gescheitelt und das unvermeidliche
Stückchen, das heute, Gott sei's geklagt, für ein paar Pfennige bei jedem Cigarren¬
trödler zu haben ist, in der Überziehertasche (!), die Zwinge nach oben gekehrt,
so füllt mir jedesmal der Brief ein, den der 27 jährige Goethe, als er im März
1776 zum erstenmal seit seiner Studentenzeit wieder in Leipzig war, an seinen
„lieben Herrn" nach Weimar schrieb und worin er „nicht genug sagen kann,
wie sich sein Erdgeruch und Erdgefühl gegen die schwarz, grau, strcifröckigen,
krummbeinigen, perrückenbeklebten, degcnschwänzlicheu Magisters, gegen die
feiertagsberockte, altmodische, schlankliche, vieldünkliche Studentenbnben, gegen
die zuckende, triefende, schnäbelnde und schwämelnde Mägdlein und gegen
die strotzliche, schwünzliche und sinzliche Jnngemägde aufnehme, welcher
Gräuel ihm alle heut um die Thore als am Marienfesttage entgegnet sei." Wenn
man irgendwo wünschen möchte, daß Einfachheit und Natürlichkeit der Sitte,
Offenheit, Herzlichkeit, ja selbst eine gewisse Anfgeknöpftheit des Verkehrs ge¬
wahrt bleibell möge, so sind es die Kreise der akademischen Jugend. Diese sind
aber gegenwärtig auf dem beseelt Wege, die Rolle zu übernehmen, die früher
der „Ladenschwnngel" und der „Gardelcutnnnt" gespielt haben. Während seit
dem Kriege und offenbar unter dem Eindrucke ernster Erfahrungen in den
deutschen Offizierskreiscn eine bemerkenswerte Schlichtheit der Umgangsformen
Platz gegriffen hat, während die knnfmännische Jugend mehr und mehr ihr
früheres geckenhaftes Wesen abwirft und eine gesetzte, männliche Haltung an¬
nimmt, fängt der deutsche Student an, den „Schniepel" zu spielen.

Möchten doch die Universitätslehrer sich der Sache einnehmen. Sie haben
so vielfach Gelegenheit, bei nladeinischen Festlichkeiten wie im häuslichen Verkehr,
in ernster und in humoristischer Weise, darauf anzuspielen, wie schlecht dem
dentschen Studenten alle Ziererei zu Gesichte steht, daß die aufgekommene Unsitte
bei einigem guten Willen sehr bald wieder beseitigt sein könnte.




politische Briefe.
9. Die erste,: Verhandlungen des Abgeordnetenhauses.

le Bedeutung der Thronrede, mit welcher am 14. November der
Landtag eröffnet wurde, ist hier bereits auseinandergesetzt worden.
Am 17. November legte der Finnnzminister dem Abgeordneten¬
hause den Staatshaushaltsplan für das Finanzjahr vom 1. April
1883 bis zum 31. März 1884 vor. Der Minister begleitete die
Vorlage mit einer Rede, welche die Ankündigungen der Thronrede in Betreff


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/505>, abgerufen am 29.06.2024.