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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Herren Studirenden.

soll Seidel nicht zum Vorwurfe gemacht werden, mit ihnen steht er ja in ent¬
schiedener Seelenverwandtschaft, aber anch an Heine, Goethe, Bodenstedt, Scheffel,
ja an Wilhelm Busch finden sich die entschiedensten Anklänge, die nicht auf einer
Verwandtschaft der Grundstimmung beruhen, sondern nur als Ausflüsse augen¬
blicklicher Laune und eines starken Anpassungsvermögens zu betrachten sind. Doch
welcher Mensch von einiger Phantasie hätte nicht Zeiten, in denen er heinisirte,
goethisirte u. s, w.? Als Probe von Seidels Eigenart sei wenigstens noch ein
Epigramm angeführt, das wegen seiner Fassung und wegen seines leise ironischen
Tones in dem Preis der Lebensklugheit für ihn gewiß bezeichnend ist. Es
heißt "Ermunterung" und ist von Karo an Phylax gerichtet:


Ein Thor, der sich mit Grillen Plage
Und winselt ob der Zeiten Schwung,
Mein Sohn, du Hofe genug genagt
Den Knochen der Erinnerung.
Dem dient die Welt, der nie verträumt
Die rechte Zeit, den rechten Ort!
Das schnelle Glück ist bald versäumt:
Zuschnappen! heißt das Zauberwort.

Seine Hauptstärke hat Seidel in der kleinen Erzählung, in der Skizze.
Und was dabei am meisten erfreut, ist das, daß man hier an ihm einen wirk¬
lichen Entwicklungsgang wahrnimmt. Er ist nicht mit einem glücklichen Wurfe
plötzlich aufgetaucht und schnell bekannt geworden, wie so mancher, der dann
durch verwässerte Wiederholung den schnell erworbenen Namen auszubeuten
suchte. Unter Beschränkung auf das ihn: zugängliche Gebiet hat er sich in
demselben mehr und mehr heimisch gemacht und ohne Raubbau zu treiben auf
dem sorglich gepflegten Acker immer bessere und reifere Früchte gezogen.

Seidel ist ein wirklicher Dichter und ein gemütstiefer Mensch, ihm sind
daher auch die Natur und der Menfch für die Betrachtung im Kleinen un¬
erschöpfliche Fundgruben für sein dichterisches Schaffen.




Die Herren Studirenden.

er jetzt in Leipzig um die Mittagsstunde durch die Hauptstraßen der
innern Stadt oder auch durch die Straßen desjenigen Stadtteils geht,
der sich im Laufe des letzten Jahrzehnts nach und nach zu einer
Art von lateinischen Viertel entwickelt hat (Sternwartenstraße,
Turnerstraße, Nürnbergerstraße, Liebigstraße), der macht eine eigen¬
tümliche Wahrnehmung. Kleine Gruppen von Studenten stehen hie und da an


Die Herren Studirenden.

soll Seidel nicht zum Vorwurfe gemacht werden, mit ihnen steht er ja in ent¬
schiedener Seelenverwandtschaft, aber anch an Heine, Goethe, Bodenstedt, Scheffel,
ja an Wilhelm Busch finden sich die entschiedensten Anklänge, die nicht auf einer
Verwandtschaft der Grundstimmung beruhen, sondern nur als Ausflüsse augen¬
blicklicher Laune und eines starken Anpassungsvermögens zu betrachten sind. Doch
welcher Mensch von einiger Phantasie hätte nicht Zeiten, in denen er heinisirte,
goethisirte u. s, w.? Als Probe von Seidels Eigenart sei wenigstens noch ein
Epigramm angeführt, das wegen seiner Fassung und wegen seines leise ironischen
Tones in dem Preis der Lebensklugheit für ihn gewiß bezeichnend ist. Es
heißt „Ermunterung" und ist von Karo an Phylax gerichtet:


Ein Thor, der sich mit Grillen Plage
Und winselt ob der Zeiten Schwung,
Mein Sohn, du Hofe genug genagt
Den Knochen der Erinnerung.
Dem dient die Welt, der nie verträumt
Die rechte Zeit, den rechten Ort!
Das schnelle Glück ist bald versäumt:
Zuschnappen! heißt das Zauberwort.

Seine Hauptstärke hat Seidel in der kleinen Erzählung, in der Skizze.
Und was dabei am meisten erfreut, ist das, daß man hier an ihm einen wirk¬
lichen Entwicklungsgang wahrnimmt. Er ist nicht mit einem glücklichen Wurfe
plötzlich aufgetaucht und schnell bekannt geworden, wie so mancher, der dann
durch verwässerte Wiederholung den schnell erworbenen Namen auszubeuten
suchte. Unter Beschränkung auf das ihn: zugängliche Gebiet hat er sich in
demselben mehr und mehr heimisch gemacht und ohne Raubbau zu treiben auf
dem sorglich gepflegten Acker immer bessere und reifere Früchte gezogen.

Seidel ist ein wirklicher Dichter und ein gemütstiefer Mensch, ihm sind
daher auch die Natur und der Menfch für die Betrachtung im Kleinen un¬
erschöpfliche Fundgruben für sein dichterisches Schaffen.




Die Herren Studirenden.

er jetzt in Leipzig um die Mittagsstunde durch die Hauptstraßen der
innern Stadt oder auch durch die Straßen desjenigen Stadtteils geht,
der sich im Laufe des letzten Jahrzehnts nach und nach zu einer
Art von lateinischen Viertel entwickelt hat (Sternwartenstraße,
Turnerstraße, Nürnbergerstraße, Liebigstraße), der macht eine eigen¬
tümliche Wahrnehmung. Kleine Gruppen von Studenten stehen hie und da an


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[0502] Die Herren Studirenden. soll Seidel nicht zum Vorwurfe gemacht werden, mit ihnen steht er ja in ent¬ schiedener Seelenverwandtschaft, aber anch an Heine, Goethe, Bodenstedt, Scheffel, ja an Wilhelm Busch finden sich die entschiedensten Anklänge, die nicht auf einer Verwandtschaft der Grundstimmung beruhen, sondern nur als Ausflüsse augen¬ blicklicher Laune und eines starken Anpassungsvermögens zu betrachten sind. Doch welcher Mensch von einiger Phantasie hätte nicht Zeiten, in denen er heinisirte, goethisirte u. s, w.? Als Probe von Seidels Eigenart sei wenigstens noch ein Epigramm angeführt, das wegen seiner Fassung und wegen seines leise ironischen Tones in dem Preis der Lebensklugheit für ihn gewiß bezeichnend ist. Es heißt „Ermunterung" und ist von Karo an Phylax gerichtet: Ein Thor, der sich mit Grillen Plage Und winselt ob der Zeiten Schwung, Mein Sohn, du Hofe genug genagt Den Knochen der Erinnerung. Dem dient die Welt, der nie verträumt Die rechte Zeit, den rechten Ort! Das schnelle Glück ist bald versäumt: Zuschnappen! heißt das Zauberwort. Seine Hauptstärke hat Seidel in der kleinen Erzählung, in der Skizze. Und was dabei am meisten erfreut, ist das, daß man hier an ihm einen wirk¬ lichen Entwicklungsgang wahrnimmt. Er ist nicht mit einem glücklichen Wurfe plötzlich aufgetaucht und schnell bekannt geworden, wie so mancher, der dann durch verwässerte Wiederholung den schnell erworbenen Namen auszubeuten suchte. Unter Beschränkung auf das ihn: zugängliche Gebiet hat er sich in demselben mehr und mehr heimisch gemacht und ohne Raubbau zu treiben auf dem sorglich gepflegten Acker immer bessere und reifere Früchte gezogen. Seidel ist ein wirklicher Dichter und ein gemütstiefer Mensch, ihm sind daher auch die Natur und der Menfch für die Betrachtung im Kleinen un¬ erschöpfliche Fundgruben für sein dichterisches Schaffen. Die Herren Studirenden. er jetzt in Leipzig um die Mittagsstunde durch die Hauptstraßen der innern Stadt oder auch durch die Straßen desjenigen Stadtteils geht, der sich im Laufe des letzten Jahrzehnts nach und nach zu einer Art von lateinischen Viertel entwickelt hat (Sternwartenstraße, Turnerstraße, Nürnbergerstraße, Liebigstraße), der macht eine eigen¬ tümliche Wahrnehmung. Kleine Gruppen von Studenten stehen hie und da an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/502>, abgerufen am 29.06.2024.