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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Heinrich Seidel.

Eine mächtige drohe nde Greisen gestalt in einem weiten Talar, bis an den Gürtel
umwallt von einem grauen Bart, stand mir gegenüber. Mit einem Blick voll
unendlicher Strenge und Erhabenheit schaute er mich an. "Eitler Menschensohn!"
rief er, und seine Stimme tönte gewaltig in der hohen Halle, "wer hat dir er¬
laubt, dich einzudrängen, wo nur die Geweihten wandeln dürfen? Glaubst du
dnrch Bitten und Flehen zu erlange", was keine Macht zu erringen imstande
ist? Hinweg voll hier! Schafft ihn hinaus!"" Darauf wird der Arme von
vier feuerfarb gekleideten Mohren eiligst hinausgeschafft, und der schöne Traum
hat ein Ende.

Diese Selbstschilderung des Dichters ist im wesentlichen richtig. Seine
Selbsterkenntnis in Verbindung mit einem ehrlichen Ringen und Streben nach
Vervollkommnung hat ihn im Laufe der Jahre wesentlich gefördert; seine spätern
Schriften stehen an Reife und Tiefe und an Kunst der Komposition wesentlich
über den frühern. Ohne an Sinnigkeit einzubüßen, hat er eine Neigung zur
weiblichen Gefühlsseligkeit, die in frühern Märchen und in einzelnen Gedichten
unangenehm auffällt, glücklich überwunden; er ist männlicher geworden. Einen
wesentlichen Fortschritt bekundet z. B. die Art, wie er den Stoff vom reichen
jungen Manne, der sich arm stellt und dadurch seine Umgebung entlarvt, in
der "Geschichte des jungen Herrn Anton" (in "?") und in seinem neuesten
Bändchen in der "Schleppe" behandelt. Dort muß noch ein zauberhafter Stein
herhalten, hier geht alles natürlich zu; und die Idee, daß Holting an der Art,
wie seine erste Braut und die von ihm später erkorene sich bei einer abge¬
tretenen Schleppe gegen den Schuldigen benehmen, den verschiedenen Charakter
beider erkeimt, ist originell. Auch die glückliche Gegenüberstellung der beiden
Lebensbilder des Leberecht Hühnchen und des Herrn Kniller beweist die Schärfung
seines Auges für die Mittel wirksamer Darstellung.

Die übrigen Schöpfungen Seidels stehen wie gesagt, hinter den Erzählungen
und Studien zurück. Während sich Seidel in diesen als eine eigenartige
dichterische Persönlichkeit giebt, die den von außen kommenden Stoff so
umzuschmelzen und mit eigenem zu ersetzen weiß, daß er ein vollständig indivi¬
duelles Gepräge bekommt, tritt in den Gedichten neben manchem Eigenartigen
und Ansprechenden doch eine starke Fähigkeit der willkürlichen oder unwillkür¬
lichen Anpassung hervor. In diesem Punkte scheint sich Seidel doch selbst nicht
recht zu kennen. Gerade das Gedicht "Schnelle Verdauung," in dem er die
Nachahmung verspottet, hat in seiner Schlußwendung:


Und so dichtet ohne Stauung
Er im Dunstkreis des Propheten;
Ich bewundre die Verdauung
Dieses trefflichen Poeten

eine starke Verwandtschaft mit dem Schillerschen Pentameter: "Ach, was haben
die Herrn doch für ein kurzes Gedärm." Der Einfluß Mörikes und Sturms


Grenzboien IV. >882. W
Heinrich Seidel.

Eine mächtige drohe nde Greisen gestalt in einem weiten Talar, bis an den Gürtel
umwallt von einem grauen Bart, stand mir gegenüber. Mit einem Blick voll
unendlicher Strenge und Erhabenheit schaute er mich an. »Eitler Menschensohn!«
rief er, und seine Stimme tönte gewaltig in der hohen Halle, »wer hat dir er¬
laubt, dich einzudrängen, wo nur die Geweihten wandeln dürfen? Glaubst du
dnrch Bitten und Flehen zu erlange», was keine Macht zu erringen imstande
ist? Hinweg voll hier! Schafft ihn hinaus!«" Darauf wird der Arme von
vier feuerfarb gekleideten Mohren eiligst hinausgeschafft, und der schöne Traum
hat ein Ende.

Diese Selbstschilderung des Dichters ist im wesentlichen richtig. Seine
Selbsterkenntnis in Verbindung mit einem ehrlichen Ringen und Streben nach
Vervollkommnung hat ihn im Laufe der Jahre wesentlich gefördert; seine spätern
Schriften stehen an Reife und Tiefe und an Kunst der Komposition wesentlich
über den frühern. Ohne an Sinnigkeit einzubüßen, hat er eine Neigung zur
weiblichen Gefühlsseligkeit, die in frühern Märchen und in einzelnen Gedichten
unangenehm auffällt, glücklich überwunden; er ist männlicher geworden. Einen
wesentlichen Fortschritt bekundet z. B. die Art, wie er den Stoff vom reichen
jungen Manne, der sich arm stellt und dadurch seine Umgebung entlarvt, in
der „Geschichte des jungen Herrn Anton" (in „?") und in seinem neuesten
Bändchen in der „Schleppe" behandelt. Dort muß noch ein zauberhafter Stein
herhalten, hier geht alles natürlich zu; und die Idee, daß Holting an der Art,
wie seine erste Braut und die von ihm später erkorene sich bei einer abge¬
tretenen Schleppe gegen den Schuldigen benehmen, den verschiedenen Charakter
beider erkeimt, ist originell. Auch die glückliche Gegenüberstellung der beiden
Lebensbilder des Leberecht Hühnchen und des Herrn Kniller beweist die Schärfung
seines Auges für die Mittel wirksamer Darstellung.

Die übrigen Schöpfungen Seidels stehen wie gesagt, hinter den Erzählungen
und Studien zurück. Während sich Seidel in diesen als eine eigenartige
dichterische Persönlichkeit giebt, die den von außen kommenden Stoff so
umzuschmelzen und mit eigenem zu ersetzen weiß, daß er ein vollständig indivi¬
duelles Gepräge bekommt, tritt in den Gedichten neben manchem Eigenartigen
und Ansprechenden doch eine starke Fähigkeit der willkürlichen oder unwillkür¬
lichen Anpassung hervor. In diesem Punkte scheint sich Seidel doch selbst nicht
recht zu kennen. Gerade das Gedicht „Schnelle Verdauung," in dem er die
Nachahmung verspottet, hat in seiner Schlußwendung:


Und so dichtet ohne Stauung
Er im Dunstkreis des Propheten;
Ich bewundre die Verdauung
Dieses trefflichen Poeten

eine starke Verwandtschaft mit dem Schillerschen Pentameter: „Ach, was haben
die Herrn doch für ein kurzes Gedärm." Der Einfluß Mörikes und Sturms


Grenzboien IV. >882. W
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[0501] Heinrich Seidel. Eine mächtige drohe nde Greisen gestalt in einem weiten Talar, bis an den Gürtel umwallt von einem grauen Bart, stand mir gegenüber. Mit einem Blick voll unendlicher Strenge und Erhabenheit schaute er mich an. »Eitler Menschensohn!« rief er, und seine Stimme tönte gewaltig in der hohen Halle, »wer hat dir er¬ laubt, dich einzudrängen, wo nur die Geweihten wandeln dürfen? Glaubst du dnrch Bitten und Flehen zu erlange», was keine Macht zu erringen imstande ist? Hinweg voll hier! Schafft ihn hinaus!«" Darauf wird der Arme von vier feuerfarb gekleideten Mohren eiligst hinausgeschafft, und der schöne Traum hat ein Ende. Diese Selbstschilderung des Dichters ist im wesentlichen richtig. Seine Selbsterkenntnis in Verbindung mit einem ehrlichen Ringen und Streben nach Vervollkommnung hat ihn im Laufe der Jahre wesentlich gefördert; seine spätern Schriften stehen an Reife und Tiefe und an Kunst der Komposition wesentlich über den frühern. Ohne an Sinnigkeit einzubüßen, hat er eine Neigung zur weiblichen Gefühlsseligkeit, die in frühern Märchen und in einzelnen Gedichten unangenehm auffällt, glücklich überwunden; er ist männlicher geworden. Einen wesentlichen Fortschritt bekundet z. B. die Art, wie er den Stoff vom reichen jungen Manne, der sich arm stellt und dadurch seine Umgebung entlarvt, in der „Geschichte des jungen Herrn Anton" (in „?") und in seinem neuesten Bändchen in der „Schleppe" behandelt. Dort muß noch ein zauberhafter Stein herhalten, hier geht alles natürlich zu; und die Idee, daß Holting an der Art, wie seine erste Braut und die von ihm später erkorene sich bei einer abge¬ tretenen Schleppe gegen den Schuldigen benehmen, den verschiedenen Charakter beider erkeimt, ist originell. Auch die glückliche Gegenüberstellung der beiden Lebensbilder des Leberecht Hühnchen und des Herrn Kniller beweist die Schärfung seines Auges für die Mittel wirksamer Darstellung. Die übrigen Schöpfungen Seidels stehen wie gesagt, hinter den Erzählungen und Studien zurück. Während sich Seidel in diesen als eine eigenartige dichterische Persönlichkeit giebt, die den von außen kommenden Stoff so umzuschmelzen und mit eigenem zu ersetzen weiß, daß er ein vollständig indivi¬ duelles Gepräge bekommt, tritt in den Gedichten neben manchem Eigenartigen und Ansprechenden doch eine starke Fähigkeit der willkürlichen oder unwillkür¬ lichen Anpassung hervor. In diesem Punkte scheint sich Seidel doch selbst nicht recht zu kennen. Gerade das Gedicht „Schnelle Verdauung," in dem er die Nachahmung verspottet, hat in seiner Schlußwendung: Und so dichtet ohne Stauung Er im Dunstkreis des Propheten; Ich bewundre die Verdauung Dieses trefflichen Poeten eine starke Verwandtschaft mit dem Schillerschen Pentameter: „Ach, was haben die Herrn doch für ein kurzes Gedärm." Der Einfluß Mörikes und Sturms Grenzboien IV. >882. W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/501>, abgerufen am 28.09.2024.