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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Heinrich Seidel.

schränkung ans eine geringe Personenzahl und die dadurch bedingte Ausführlich¬
keit der seelischen Schilderung. Auch Imsen geht hier ins Einzelne, Kleine,
aber in ganz andrer Weise als Seidel; des letztern Vorzug besteht nicht in
einer Gesnmtschilderung eines seelischen Prozesses, sondern in einer Menge von
einzelnen fein belauschten Zügen, nicht individueller, sondern allgemein mensch¬
licher Art, wie sie sich in allen seinen Erzählungen und Skizzen finden und den
Hauptreiz derselben ausmachen, und während bei Imsen das Ganze einen ans
Tragische streifenden Charakter hat, sind Seidels Erzählungen durchaus friedlich
heiterer Art. Ju seiner Art, die Menschen zu nehmen, berührt er sich hier mit
einem Manne, den er selbst einmal rühmend als "Menschenkenner" nennt, mit --
Wilhelm Busch. Dieselbe feine Beobachtung für das Komische im alltäglichen
Laufe des Lebens und die Gabe der behaglichen Abmalung der "gemütlichen"
Vorzüge des Menschenlebens. Die Schilderung des Abends eines begeisterten
Leihbibliothekslesers, wie sie im "Ballon" gegeben wird, erinnert lebhaft an einen
der köstlichen Bnschischen Bilderbogen, der einen ähnlichen Vorwurf hat, nur daß
bei Seidel eine größere Gemütstiefe und ein wirklich dichterischer Sinn dem
Spiele des Scherzes einen bedeutenderen Hintergrund geben.

Seidel ist sich selbst der Grenzen seiner dichterischen Befähigung sehr wohl
bewußt. Nicht nur in den seinen Büchern vorgesetzten Mottos und den Einleitungen
spricht er dies wiederholt aus, auch die vierte der Erzählungen, die er unter
dem Namen "Vier Freunde" in dem Bändchen "Aus der Heimat" vereinigt,
hat geradezu deu Zweck, seine Ansicht über seine Stellung zur Poesie zum Aus¬
druck zu bringen. Der Heinrich, der dort anstatt der erwarteten Brautwerbungs¬
geschichte seinen Freunden ein seltsames Abenteuer erzählt, wie er durch Zufall
in den Garten der Poesie geführt worden ist, das ist unser Dichter selbst, und
er läßt diesen Heinrich der Göttin der Poesie gegenüber seine Stellung selbst
so aussprechen: "Ich weiß es wohl, nicht brennt auf meiner Stirn die heilige
Flamme des Genius, nicht bin ich berufen, erfüllt von deinem Segen voran-
zuleuchten der Menschheit! Und dennoch wage ich es, sehnend die Arme nach
dir auszustrecken, dein: oft hat mich umweht der Hauch deines Geistes, und ich
habe nach dir gestrebt mit der ganzen Kraft meines Herzens. Nicht im Donner-
gewölk bist du mir erschienen, nicht im wilden Stnrmgewühl der Leidenschaften,
mit der Strahlenkrone auf dem Haupte, aber in der stillen Schönheit der Natur
und in den sanften Regungen des Gemütes habe ich dich gesucht und in stummer
Inbrunst geküßt den Saum deines Gewandes. Und wie ich dir nachgestrebt
habe mit sehnenden Herzen all die Zeit meines Lebens, so will ich auch hier
niederknien und beide Arme nach dir ausbreiten und dich anflehen, daß dn einen
Hauch deines Segens auch auf meine Stirn niedersenkest!" Und in halber
Selbstverspottung läßt er dann seinen Heinrich weiter erzählen: "Schon streifte
mich der sanfte Hauch ihres Mundes, als sie plötzlich wie von einer fremden
Hand zurückgezogen ward, und mich eine unbekannte Kraft vom Boden empvrriß.


Heinrich Seidel.

schränkung ans eine geringe Personenzahl und die dadurch bedingte Ausführlich¬
keit der seelischen Schilderung. Auch Imsen geht hier ins Einzelne, Kleine,
aber in ganz andrer Weise als Seidel; des letztern Vorzug besteht nicht in
einer Gesnmtschilderung eines seelischen Prozesses, sondern in einer Menge von
einzelnen fein belauschten Zügen, nicht individueller, sondern allgemein mensch¬
licher Art, wie sie sich in allen seinen Erzählungen und Skizzen finden und den
Hauptreiz derselben ausmachen, und während bei Imsen das Ganze einen ans
Tragische streifenden Charakter hat, sind Seidels Erzählungen durchaus friedlich
heiterer Art. Ju seiner Art, die Menschen zu nehmen, berührt er sich hier mit
einem Manne, den er selbst einmal rühmend als „Menschenkenner" nennt, mit —
Wilhelm Busch. Dieselbe feine Beobachtung für das Komische im alltäglichen
Laufe des Lebens und die Gabe der behaglichen Abmalung der „gemütlichen"
Vorzüge des Menschenlebens. Die Schilderung des Abends eines begeisterten
Leihbibliothekslesers, wie sie im „Ballon" gegeben wird, erinnert lebhaft an einen
der köstlichen Bnschischen Bilderbogen, der einen ähnlichen Vorwurf hat, nur daß
bei Seidel eine größere Gemütstiefe und ein wirklich dichterischer Sinn dem
Spiele des Scherzes einen bedeutenderen Hintergrund geben.

Seidel ist sich selbst der Grenzen seiner dichterischen Befähigung sehr wohl
bewußt. Nicht nur in den seinen Büchern vorgesetzten Mottos und den Einleitungen
spricht er dies wiederholt aus, auch die vierte der Erzählungen, die er unter
dem Namen „Vier Freunde" in dem Bändchen „Aus der Heimat" vereinigt,
hat geradezu deu Zweck, seine Ansicht über seine Stellung zur Poesie zum Aus¬
druck zu bringen. Der Heinrich, der dort anstatt der erwarteten Brautwerbungs¬
geschichte seinen Freunden ein seltsames Abenteuer erzählt, wie er durch Zufall
in den Garten der Poesie geführt worden ist, das ist unser Dichter selbst, und
er läßt diesen Heinrich der Göttin der Poesie gegenüber seine Stellung selbst
so aussprechen: „Ich weiß es wohl, nicht brennt auf meiner Stirn die heilige
Flamme des Genius, nicht bin ich berufen, erfüllt von deinem Segen voran-
zuleuchten der Menschheit! Und dennoch wage ich es, sehnend die Arme nach
dir auszustrecken, dein: oft hat mich umweht der Hauch deines Geistes, und ich
habe nach dir gestrebt mit der ganzen Kraft meines Herzens. Nicht im Donner-
gewölk bist du mir erschienen, nicht im wilden Stnrmgewühl der Leidenschaften,
mit der Strahlenkrone auf dem Haupte, aber in der stillen Schönheit der Natur
und in den sanften Regungen des Gemütes habe ich dich gesucht und in stummer
Inbrunst geküßt den Saum deines Gewandes. Und wie ich dir nachgestrebt
habe mit sehnenden Herzen all die Zeit meines Lebens, so will ich auch hier
niederknien und beide Arme nach dir ausbreiten und dich anflehen, daß dn einen
Hauch deines Segens auch auf meine Stirn niedersenkest!" Und in halber
Selbstverspottung läßt er dann seinen Heinrich weiter erzählen: „Schon streifte
mich der sanfte Hauch ihres Mundes, als sie plötzlich wie von einer fremden
Hand zurückgezogen ward, und mich eine unbekannte Kraft vom Boden empvrriß.


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[0500] Heinrich Seidel. schränkung ans eine geringe Personenzahl und die dadurch bedingte Ausführlich¬ keit der seelischen Schilderung. Auch Imsen geht hier ins Einzelne, Kleine, aber in ganz andrer Weise als Seidel; des letztern Vorzug besteht nicht in einer Gesnmtschilderung eines seelischen Prozesses, sondern in einer Menge von einzelnen fein belauschten Zügen, nicht individueller, sondern allgemein mensch¬ licher Art, wie sie sich in allen seinen Erzählungen und Skizzen finden und den Hauptreiz derselben ausmachen, und während bei Imsen das Ganze einen ans Tragische streifenden Charakter hat, sind Seidels Erzählungen durchaus friedlich heiterer Art. Ju seiner Art, die Menschen zu nehmen, berührt er sich hier mit einem Manne, den er selbst einmal rühmend als „Menschenkenner" nennt, mit — Wilhelm Busch. Dieselbe feine Beobachtung für das Komische im alltäglichen Laufe des Lebens und die Gabe der behaglichen Abmalung der „gemütlichen" Vorzüge des Menschenlebens. Die Schilderung des Abends eines begeisterten Leihbibliothekslesers, wie sie im „Ballon" gegeben wird, erinnert lebhaft an einen der köstlichen Bnschischen Bilderbogen, der einen ähnlichen Vorwurf hat, nur daß bei Seidel eine größere Gemütstiefe und ein wirklich dichterischer Sinn dem Spiele des Scherzes einen bedeutenderen Hintergrund geben. Seidel ist sich selbst der Grenzen seiner dichterischen Befähigung sehr wohl bewußt. Nicht nur in den seinen Büchern vorgesetzten Mottos und den Einleitungen spricht er dies wiederholt aus, auch die vierte der Erzählungen, die er unter dem Namen „Vier Freunde" in dem Bändchen „Aus der Heimat" vereinigt, hat geradezu deu Zweck, seine Ansicht über seine Stellung zur Poesie zum Aus¬ druck zu bringen. Der Heinrich, der dort anstatt der erwarteten Brautwerbungs¬ geschichte seinen Freunden ein seltsames Abenteuer erzählt, wie er durch Zufall in den Garten der Poesie geführt worden ist, das ist unser Dichter selbst, und er läßt diesen Heinrich der Göttin der Poesie gegenüber seine Stellung selbst so aussprechen: „Ich weiß es wohl, nicht brennt auf meiner Stirn die heilige Flamme des Genius, nicht bin ich berufen, erfüllt von deinem Segen voran- zuleuchten der Menschheit! Und dennoch wage ich es, sehnend die Arme nach dir auszustrecken, dein: oft hat mich umweht der Hauch deines Geistes, und ich habe nach dir gestrebt mit der ganzen Kraft meines Herzens. Nicht im Donner- gewölk bist du mir erschienen, nicht im wilden Stnrmgewühl der Leidenschaften, mit der Strahlenkrone auf dem Haupte, aber in der stillen Schönheit der Natur und in den sanften Regungen des Gemütes habe ich dich gesucht und in stummer Inbrunst geküßt den Saum deines Gewandes. Und wie ich dir nachgestrebt habe mit sehnenden Herzen all die Zeit meines Lebens, so will ich auch hier niederknien und beide Arme nach dir ausbreiten und dich anflehen, daß dn einen Hauch deines Segens auch auf meine Stirn niedersenkest!" Und in halber Selbstverspottung läßt er dann seinen Heinrich weiter erzählen: „Schon streifte mich der sanfte Hauch ihres Mundes, als sie plötzlich wie von einer fremden Hand zurückgezogen ward, und mich eine unbekannte Kraft vom Boden empvrriß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/500>, abgerufen am 28.09.2024.