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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Heinrich Seidel.

Hauses, wohnt, die Aufmerksamkeit des durch Erbschaft in den Besitz dieses
Hauses gelangten jungen Mannes und wird vou ihrer Taute deswegen entfernt;
er reist ihr nach, verfehlt sie zunächst, findet sie durch Zufall doch noch und
heiratet sie. Es laufen da auch mancherlei verbrauchte Stoffe unter: der reiche
Mann, der sich, um seine Freunde zu prüfen, arm stellt, der Pflegevater, der
sich in seine Pflegetochter verliebt.

Nicht das, was er erzählt, sondern wie ers erzählt, ist eben bei Seidel die
Hauptsache. Die Schilderung und nicht die Erzühlnng ist seine starke Seite.
Im "Rotkehlchen" liegt in der Schilderung der Sammelwut der Hauptreiz, im
"Alten Haus" in dem geheimnisvollen Leben, das in so einem alten Gebäude
steckt. Auch in den besten seiner erzählenden Dichtungen, etwa dem "Atelier"
(Vorstadtgeschichten) oder der "Schleppe" (in seinem neuesten Bändchen), stehen
ausführliche Schilderungen -- dort des Malerateliers, hier des Lebens anf dem
Lande im Mittelpunkte. Am glänzendsten tritt diese Gabe in seinen Studien
hervor; "Leberecht Hühnchen," "Eine Weinlese bei Hühnchen," "Eugen Kuiller"
sind Kabinetstücke dieser Kunstfertigkeit. Namentlich auch die Tiergeschichten, deren
er einige aufgenommen hat, gehören hierher. Seine Befähigung, auch das All¬
täglichste dichterisch zu verwerten, zeigt sich am besten in einer der kleinen
Hnndegeschichten. Er trifft ein kleines verwahrlostes Hündchen ans der Straße,
das ihm folgt; er beschließt es zu sich zu nehmen und ihm eine gute Pflege an-
gedeihen zu lassen und malt nun ein schönes Zukunftsbild behagliche" Hunde¬
lebens. Doch der Gedanke an seine hundefeindliche Wirtin und an die hohe
Steuer läßt ihn schließlich wieder davon absehen, er benutzt eine Straßenkreuzung,
um dus Hündchen von seiner Spur abzubringen. Für dieses armselige, uns
der Stellensuche befindliche Hündchen weiß Seidel ein solches Interesse zu wecke",
daß der Leser mit herzlicher Teilnahme das lockende Bild einer gesicherten Zukunft
für dasselbe verschwinden und es in seine traurige Verlassenheit zurücksinken sieht.

Auch in psychologischer Beziehung ist die Kunst Seidels vorzugsweise eine
Seelenlleinmalerei. Große psychologische Probleme nimmt er sich garnicht oder
selten zum Vorwurf, und da, wo es geschieht, wird ihre Lösung mehr ange¬
deutet als wirklich durchgeführt. So in dem mehrfach wiederkehrenden Thema
vom jungen reichen Manne, der sich aus der durch deu ererbten Reichtum
hervorgerufenen und durch Nichtsthun genährten schrullenhafter Seelenstimmung
heraus in eine zweckvvlle Thätigkeit rettet, ein Umschwung, der durch die Er¬
kenntnis, daß die den betreffenden umgebende Bewunderung und Freundschaft
nur seinem Reichtum gilt, veranlaßt und durch erwachende Liebe gefördert wird.
Hier ist der Vergleich mit Imsen nicht uninteressant. Dieser hat in seinein
neuesten Roman "Metamorphosen" einen ähnlichen Vorwurf, wenn auch in viel
breiterer Ausführung und mit Hereinziehung noch andrer Motive behandelt.
Beiden Dichtern gemeinschaftlich aber ist der Ausgang, daß die Helden einen
Beruf schließlich in der Landwirtschaft finden, gemeinschaftlich auch die Be-


Heinrich Seidel.

Hauses, wohnt, die Aufmerksamkeit des durch Erbschaft in den Besitz dieses
Hauses gelangten jungen Mannes und wird vou ihrer Taute deswegen entfernt;
er reist ihr nach, verfehlt sie zunächst, findet sie durch Zufall doch noch und
heiratet sie. Es laufen da auch mancherlei verbrauchte Stoffe unter: der reiche
Mann, der sich, um seine Freunde zu prüfen, arm stellt, der Pflegevater, der
sich in seine Pflegetochter verliebt.

Nicht das, was er erzählt, sondern wie ers erzählt, ist eben bei Seidel die
Hauptsache. Die Schilderung und nicht die Erzühlnng ist seine starke Seite.
Im „Rotkehlchen" liegt in der Schilderung der Sammelwut der Hauptreiz, im
„Alten Haus" in dem geheimnisvollen Leben, das in so einem alten Gebäude
steckt. Auch in den besten seiner erzählenden Dichtungen, etwa dem „Atelier"
(Vorstadtgeschichten) oder der „Schleppe" (in seinem neuesten Bändchen), stehen
ausführliche Schilderungen — dort des Malerateliers, hier des Lebens anf dem
Lande im Mittelpunkte. Am glänzendsten tritt diese Gabe in seinen Studien
hervor; „Leberecht Hühnchen," „Eine Weinlese bei Hühnchen," „Eugen Kuiller"
sind Kabinetstücke dieser Kunstfertigkeit. Namentlich auch die Tiergeschichten, deren
er einige aufgenommen hat, gehören hierher. Seine Befähigung, auch das All¬
täglichste dichterisch zu verwerten, zeigt sich am besten in einer der kleinen
Hnndegeschichten. Er trifft ein kleines verwahrlostes Hündchen ans der Straße,
das ihm folgt; er beschließt es zu sich zu nehmen und ihm eine gute Pflege an-
gedeihen zu lassen und malt nun ein schönes Zukunftsbild behagliche» Hunde¬
lebens. Doch der Gedanke an seine hundefeindliche Wirtin und an die hohe
Steuer läßt ihn schließlich wieder davon absehen, er benutzt eine Straßenkreuzung,
um dus Hündchen von seiner Spur abzubringen. Für dieses armselige, uns
der Stellensuche befindliche Hündchen weiß Seidel ein solches Interesse zu wecke»,
daß der Leser mit herzlicher Teilnahme das lockende Bild einer gesicherten Zukunft
für dasselbe verschwinden und es in seine traurige Verlassenheit zurücksinken sieht.

Auch in psychologischer Beziehung ist die Kunst Seidels vorzugsweise eine
Seelenlleinmalerei. Große psychologische Probleme nimmt er sich garnicht oder
selten zum Vorwurf, und da, wo es geschieht, wird ihre Lösung mehr ange¬
deutet als wirklich durchgeführt. So in dem mehrfach wiederkehrenden Thema
vom jungen reichen Manne, der sich aus der durch deu ererbten Reichtum
hervorgerufenen und durch Nichtsthun genährten schrullenhafter Seelenstimmung
heraus in eine zweckvvlle Thätigkeit rettet, ein Umschwung, der durch die Er¬
kenntnis, daß die den betreffenden umgebende Bewunderung und Freundschaft
nur seinem Reichtum gilt, veranlaßt und durch erwachende Liebe gefördert wird.
Hier ist der Vergleich mit Imsen nicht uninteressant. Dieser hat in seinein
neuesten Roman „Metamorphosen" einen ähnlichen Vorwurf, wenn auch in viel
breiterer Ausführung und mit Hereinziehung noch andrer Motive behandelt.
Beiden Dichtern gemeinschaftlich aber ist der Ausgang, daß die Helden einen
Beruf schließlich in der Landwirtschaft finden, gemeinschaftlich auch die Be-


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[0499] Heinrich Seidel. Hauses, wohnt, die Aufmerksamkeit des durch Erbschaft in den Besitz dieses Hauses gelangten jungen Mannes und wird vou ihrer Taute deswegen entfernt; er reist ihr nach, verfehlt sie zunächst, findet sie durch Zufall doch noch und heiratet sie. Es laufen da auch mancherlei verbrauchte Stoffe unter: der reiche Mann, der sich, um seine Freunde zu prüfen, arm stellt, der Pflegevater, der sich in seine Pflegetochter verliebt. Nicht das, was er erzählt, sondern wie ers erzählt, ist eben bei Seidel die Hauptsache. Die Schilderung und nicht die Erzühlnng ist seine starke Seite. Im „Rotkehlchen" liegt in der Schilderung der Sammelwut der Hauptreiz, im „Alten Haus" in dem geheimnisvollen Leben, das in so einem alten Gebäude steckt. Auch in den besten seiner erzählenden Dichtungen, etwa dem „Atelier" (Vorstadtgeschichten) oder der „Schleppe" (in seinem neuesten Bändchen), stehen ausführliche Schilderungen — dort des Malerateliers, hier des Lebens anf dem Lande im Mittelpunkte. Am glänzendsten tritt diese Gabe in seinen Studien hervor; „Leberecht Hühnchen," „Eine Weinlese bei Hühnchen," „Eugen Kuiller" sind Kabinetstücke dieser Kunstfertigkeit. Namentlich auch die Tiergeschichten, deren er einige aufgenommen hat, gehören hierher. Seine Befähigung, auch das All¬ täglichste dichterisch zu verwerten, zeigt sich am besten in einer der kleinen Hnndegeschichten. Er trifft ein kleines verwahrlostes Hündchen ans der Straße, das ihm folgt; er beschließt es zu sich zu nehmen und ihm eine gute Pflege an- gedeihen zu lassen und malt nun ein schönes Zukunftsbild behagliche» Hunde¬ lebens. Doch der Gedanke an seine hundefeindliche Wirtin und an die hohe Steuer läßt ihn schließlich wieder davon absehen, er benutzt eine Straßenkreuzung, um dus Hündchen von seiner Spur abzubringen. Für dieses armselige, uns der Stellensuche befindliche Hündchen weiß Seidel ein solches Interesse zu wecke», daß der Leser mit herzlicher Teilnahme das lockende Bild einer gesicherten Zukunft für dasselbe verschwinden und es in seine traurige Verlassenheit zurücksinken sieht. Auch in psychologischer Beziehung ist die Kunst Seidels vorzugsweise eine Seelenlleinmalerei. Große psychologische Probleme nimmt er sich garnicht oder selten zum Vorwurf, und da, wo es geschieht, wird ihre Lösung mehr ange¬ deutet als wirklich durchgeführt. So in dem mehrfach wiederkehrenden Thema vom jungen reichen Manne, der sich aus der durch deu ererbten Reichtum hervorgerufenen und durch Nichtsthun genährten schrullenhafter Seelenstimmung heraus in eine zweckvvlle Thätigkeit rettet, ein Umschwung, der durch die Er¬ kenntnis, daß die den betreffenden umgebende Bewunderung und Freundschaft nur seinem Reichtum gilt, veranlaßt und durch erwachende Liebe gefördert wird. Hier ist der Vergleich mit Imsen nicht uninteressant. Dieser hat in seinein neuesten Roman „Metamorphosen" einen ähnlichen Vorwurf, wenn auch in viel breiterer Ausführung und mit Hereinziehung noch andrer Motive behandelt. Beiden Dichtern gemeinschaftlich aber ist der Ausgang, daß die Helden einen Beruf schließlich in der Landwirtschaft finden, gemeinschaftlich auch die Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/499>, abgerufen am 29.06.2024.