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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Heinrich Seidel.

"welche, sobald mein sich nicht genügend mit ihr beschäftigte, einen Dunst von
Vernachlässigung und Kränkung um sich verbreitete"?

Ebenso treffend ist oft sein Ausdruck für die Erscheinungen der Natur: "Ein
eiliger Frühling," "ein rechter Mui von Gottes Gnaden" sind ebenso bezeichnend
wie "das einförmige Sieden der Einsamkeit im Ohr," "das Ganze war ein hörbar
Schweigen nur."

Aber auch den einzelnen Menschen kennt Seidel und weis; ihn köstlich
zu schildern. Als Jorinde dem unerfahrenen Pastorssohne vorvhcmtasirt,
daß sie Kunstreiterin werden wolle und daß dann die Husarcnleutnants ihr
Blumensträuße zuwerfen würden, läßt Seidel ihn erzählen: "Mir erschienen
diese Zukunftsbilder märchenhaft verlockend, und obgleich ich weder eine Kunst¬
reiterin noch einen Husaren in meinem Leben gesehen hatte, leuchtete mir doch
ein, daß schwerlich schönere Berufsarten ausgedacht werden könnten." Wie aller¬
liebst ist die Schilderung der Zeichenstnnde, die das dreizehnjährige Töchterlein
der Wirtin bei dem Maler Wolfgang nimmt oder nehmen muß. "Ein Mahnruf
von Wolfgang schreckte sie ans und trieb sie an die vernachlässigte Arbeit. Wenn
ihr nur nicht der Zopf in die Quere gekommen wäre. Die Spitze desselben
war ausgegangen, und die Beseitigung dieser Unordnung war heilige Pflicht, die
allem vorging. Dabei erschien ihr die Ähnlichkeit dieser Zopfspitze mit einem
Pinsel höchst bemerkenswert und einer nähern Untersuchung würdig. Ein in
der Nähe befindlicher Tuschnapf und ein Blatt weißes Papier leisteten diesem
Forschuugstrieb Vorschub, und das Resultat war ein schauderhaftes mit der
Zovfspitzc gemaltes Münnerantlitz, welches selbst durch die darunter angebrachte
deutliche Unterschrist uicht bewogen werden konnte, die gewünschte Ähnlichkeit
mit Wolfgang anzunehmen." Zum Schluß sagt der Maler: "Für heute kannst
du aufhören. So, nnn kannst du mir einen Kuß geben und zur Mutter gehen."
Helene engcgnet, das würde sie nie thun, dann thut sie es doch, schlägt ihn mit
dem Zopf und läuft zur Thür hinaus. Wie treffend ist in "Jorinde" der Unter¬
schied zwischen? dem Garten, der dem Helden als weites Paradies in seiner Jugend¬
erinnerung steht, und dem, den er dann halb verfallen, klein, verwildert wieder findet!
Man könnte noch lange fortfahren, wenn man alle die feinen und sinnigen Beobach¬
tungen hervorheben wollte. Sie bilden den Hauptvorzug der Seidelschen Darstellung.

Seiner Stärke in diesen Einzelheiten hält nun freilich seine Erfindungs¬
gabe und seine dichterische Gestaltungskraft nicht die Wage. Seine Erzählungen
heben vielversprechend an, ihre Entwicklung entspricht aber nie dein Anfange.
Eine Verwicklung fehlt in den meisten fast gänzlich, das "Rotkehlchen" z. B.
in dem letzten Bändchen erzählt, wie ein wohlhabender junger Mann, der init
der Sammelwut behaftet ist, zu einem alten Beamten geht, um dessen abgerich¬
teten Papagei zu kaufen; dort findet er eine hübsche Tochter, wird Freund der
Familie und heiratet das Mädchen. In dem "Alten Haus" (Vorstadtgeschichten)
erregt ein junges Mädchen, das bei ihrer alten Tante, der Hüterin des alten


Heinrich Seidel.

„welche, sobald mein sich nicht genügend mit ihr beschäftigte, einen Dunst von
Vernachlässigung und Kränkung um sich verbreitete"?

Ebenso treffend ist oft sein Ausdruck für die Erscheinungen der Natur: „Ein
eiliger Frühling," „ein rechter Mui von Gottes Gnaden" sind ebenso bezeichnend
wie „das einförmige Sieden der Einsamkeit im Ohr," „das Ganze war ein hörbar
Schweigen nur."

Aber auch den einzelnen Menschen kennt Seidel und weis; ihn köstlich
zu schildern. Als Jorinde dem unerfahrenen Pastorssohne vorvhcmtasirt,
daß sie Kunstreiterin werden wolle und daß dann die Husarcnleutnants ihr
Blumensträuße zuwerfen würden, läßt Seidel ihn erzählen: „Mir erschienen
diese Zukunftsbilder märchenhaft verlockend, und obgleich ich weder eine Kunst¬
reiterin noch einen Husaren in meinem Leben gesehen hatte, leuchtete mir doch
ein, daß schwerlich schönere Berufsarten ausgedacht werden könnten." Wie aller¬
liebst ist die Schilderung der Zeichenstnnde, die das dreizehnjährige Töchterlein
der Wirtin bei dem Maler Wolfgang nimmt oder nehmen muß. „Ein Mahnruf
von Wolfgang schreckte sie ans und trieb sie an die vernachlässigte Arbeit. Wenn
ihr nur nicht der Zopf in die Quere gekommen wäre. Die Spitze desselben
war ausgegangen, und die Beseitigung dieser Unordnung war heilige Pflicht, die
allem vorging. Dabei erschien ihr die Ähnlichkeit dieser Zopfspitze mit einem
Pinsel höchst bemerkenswert und einer nähern Untersuchung würdig. Ein in
der Nähe befindlicher Tuschnapf und ein Blatt weißes Papier leisteten diesem
Forschuugstrieb Vorschub, und das Resultat war ein schauderhaftes mit der
Zovfspitzc gemaltes Münnerantlitz, welches selbst durch die darunter angebrachte
deutliche Unterschrist uicht bewogen werden konnte, die gewünschte Ähnlichkeit
mit Wolfgang anzunehmen." Zum Schluß sagt der Maler: „Für heute kannst
du aufhören. So, nnn kannst du mir einen Kuß geben und zur Mutter gehen."
Helene engcgnet, das würde sie nie thun, dann thut sie es doch, schlägt ihn mit
dem Zopf und läuft zur Thür hinaus. Wie treffend ist in „Jorinde" der Unter¬
schied zwischen? dem Garten, der dem Helden als weites Paradies in seiner Jugend¬
erinnerung steht, und dem, den er dann halb verfallen, klein, verwildert wieder findet!
Man könnte noch lange fortfahren, wenn man alle die feinen und sinnigen Beobach¬
tungen hervorheben wollte. Sie bilden den Hauptvorzug der Seidelschen Darstellung.

Seiner Stärke in diesen Einzelheiten hält nun freilich seine Erfindungs¬
gabe und seine dichterische Gestaltungskraft nicht die Wage. Seine Erzählungen
heben vielversprechend an, ihre Entwicklung entspricht aber nie dein Anfange.
Eine Verwicklung fehlt in den meisten fast gänzlich, das „Rotkehlchen" z. B.
in dem letzten Bändchen erzählt, wie ein wohlhabender junger Mann, der init
der Sammelwut behaftet ist, zu einem alten Beamten geht, um dessen abgerich¬
teten Papagei zu kaufen; dort findet er eine hübsche Tochter, wird Freund der
Familie und heiratet das Mädchen. In dem „Alten Haus" (Vorstadtgeschichten)
erregt ein junges Mädchen, das bei ihrer alten Tante, der Hüterin des alten


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[0498] Heinrich Seidel. „welche, sobald mein sich nicht genügend mit ihr beschäftigte, einen Dunst von Vernachlässigung und Kränkung um sich verbreitete"? Ebenso treffend ist oft sein Ausdruck für die Erscheinungen der Natur: „Ein eiliger Frühling," „ein rechter Mui von Gottes Gnaden" sind ebenso bezeichnend wie „das einförmige Sieden der Einsamkeit im Ohr," „das Ganze war ein hörbar Schweigen nur." Aber auch den einzelnen Menschen kennt Seidel und weis; ihn köstlich zu schildern. Als Jorinde dem unerfahrenen Pastorssohne vorvhcmtasirt, daß sie Kunstreiterin werden wolle und daß dann die Husarcnleutnants ihr Blumensträuße zuwerfen würden, läßt Seidel ihn erzählen: „Mir erschienen diese Zukunftsbilder märchenhaft verlockend, und obgleich ich weder eine Kunst¬ reiterin noch einen Husaren in meinem Leben gesehen hatte, leuchtete mir doch ein, daß schwerlich schönere Berufsarten ausgedacht werden könnten." Wie aller¬ liebst ist die Schilderung der Zeichenstnnde, die das dreizehnjährige Töchterlein der Wirtin bei dem Maler Wolfgang nimmt oder nehmen muß. „Ein Mahnruf von Wolfgang schreckte sie ans und trieb sie an die vernachlässigte Arbeit. Wenn ihr nur nicht der Zopf in die Quere gekommen wäre. Die Spitze desselben war ausgegangen, und die Beseitigung dieser Unordnung war heilige Pflicht, die allem vorging. Dabei erschien ihr die Ähnlichkeit dieser Zopfspitze mit einem Pinsel höchst bemerkenswert und einer nähern Untersuchung würdig. Ein in der Nähe befindlicher Tuschnapf und ein Blatt weißes Papier leisteten diesem Forschuugstrieb Vorschub, und das Resultat war ein schauderhaftes mit der Zovfspitzc gemaltes Münnerantlitz, welches selbst durch die darunter angebrachte deutliche Unterschrist uicht bewogen werden konnte, die gewünschte Ähnlichkeit mit Wolfgang anzunehmen." Zum Schluß sagt der Maler: „Für heute kannst du aufhören. So, nnn kannst du mir einen Kuß geben und zur Mutter gehen." Helene engcgnet, das würde sie nie thun, dann thut sie es doch, schlägt ihn mit dem Zopf und läuft zur Thür hinaus. Wie treffend ist in „Jorinde" der Unter¬ schied zwischen? dem Garten, der dem Helden als weites Paradies in seiner Jugend¬ erinnerung steht, und dem, den er dann halb verfallen, klein, verwildert wieder findet! Man könnte noch lange fortfahren, wenn man alle die feinen und sinnigen Beobach¬ tungen hervorheben wollte. Sie bilden den Hauptvorzug der Seidelschen Darstellung. Seiner Stärke in diesen Einzelheiten hält nun freilich seine Erfindungs¬ gabe und seine dichterische Gestaltungskraft nicht die Wage. Seine Erzählungen heben vielversprechend an, ihre Entwicklung entspricht aber nie dein Anfange. Eine Verwicklung fehlt in den meisten fast gänzlich, das „Rotkehlchen" z. B. in dem letzten Bändchen erzählt, wie ein wohlhabender junger Mann, der init der Sammelwut behaftet ist, zu einem alten Beamten geht, um dessen abgerich¬ teten Papagei zu kaufen; dort findet er eine hübsche Tochter, wird Freund der Familie und heiratet das Mädchen. In dem „Alten Haus" (Vorstadtgeschichten) erregt ein junges Mädchen, das bei ihrer alten Tante, der Hüterin des alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/498>, abgerufen am 26.06.2024.