Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Frcmdwörterseuche.

ab, man refüsirt. Selbst die Betrüger und Unterschlager heißen heutzutage
Defraudanten. Betrügen! Pfui, wer wird betrügen sagen? "(üonirriknt Niulv-
nivisLllL? -- ruft der Betrüger in Lessings "Minna von Barnhelm" aus --
betrügen? OorriAsr ig. lortune! Das neun die Deutsch betrügen? Betrügen!
O, was ist die deutsch Sprat für ein arm Sprat! für ein plump Sprat!" Die
"deutsch Sprnk" hat seitdem etwas gelernt, fie sagt jetzt ganz hofmüßig defrnudiren
und fraudiren.

Auch im entgegengesetzten Sinne, wenn einem anerkennenden Begriffe etwas
von seinem Werte entzogen werden soll, wird ein Fremdwort eingeschoben; so
wird statt achten estimiren gebraucht. Visweilen erscheint dem üblichen Fremd¬
worte gegenüber der echte, deutsche Ausdruck zu gewählt; man fürchtet gegen
die Gewohnheit zu verstoßen und fagt hundertmal für eins Friseur statt Friesler
oder Haarkrüusler, Coiffüre statt Kopfputz, gratuliren statt beglückwünschen,
Collier statt Halsschmuck u. s. w. Oder der deutsche Ausdruck erscheint zu
innerlich und gemütvoll im Vergleich zu dem mehr äußerlichen und kalten Fremd¬
wort, und man hält ihn deshalb zu Gunsten des letztern zurück. Deshalb sagt
man viel öfter intim statt vertraut. Wie auch immer das Verhältnis des einen
zum andern im einzelnen und besondern sei, im allgemeinen stellt das Fremdwort
eine Entfremdung von der Wahrheit, Schlichtheit und Einfachheit dar, eine Vor-
schiebung falschen Scheines und eine Verdunkelung echter deutscher Art, oder mit
einem Worte eine innere Abkehr von der Natur unsrer Sprache.

Wieviel aber wird gegen die Natur überhaupt fort und fort gesündigt und
verstoßen aus Dummheit, Eitelkeit und Ziererei! Da klemmt sich ein grüner
Jüngling im stolzen Unsterblichkeitsdrange einen Zwicker vor seine Augen, die
ihm die gütige Natur kerngesund bescheert hat, um, wie er meint, nach mehr
auszusehen. Oder ein junges Mädchen schnürt sich unsinnig, um, wie sie denkt,
schöner auszusehen, und dabei verkrüppelt ihre von Natur gesunde Leber. Aber
dem Zwickeraffen wie der Schnürncirrin ist beides Gewohnheit geworden, so hart
ihnen anfangs auch der Zwang ankam. Er kann den Klemmer nicht mehr entbehren,
ist wirklich kurzsichtig geworden und blickt ohne das Ding blöde und unsicher in
die Welt hinein; sie kann ohne festen Schnürleib nicht mehr gerade stehen, und
frei bewegen kann sie sich überhaupt nicht. Die Macht der Gewohnheit hat
die Natur überwunden, sie empfinden und kennen die Unnatur nicht mehr.
Wozu sie sich aus Eitelkeit und Narrheit erst haben zwingen müssen, ist ihnen
Lebensbedingung geworden -- auf Kosten ihrer Gesundheit, Tüchtigkeit und
Lebensdauer. So ist es auch mit der Sprache. Aus Afferei ist ihr Gewalt
angethan; die Afferei ist zur Gewohnheit geworden, und Afferei nährt fort und
fort die Krankheit. So ist die gesunde Natur unsrer edeln Sprache geschädigt
worden und unnatürliche Entartung eingerissen. Diejenigen, welchen der fremde
Wortimschmasch zur Gewohnheit geworden ist, haben einen Teil ihrer eignen
Muttersprache verlernt oder niemals gelernt. Sie haben den fremden Zwicker


Die Frcmdwörterseuche.

ab, man refüsirt. Selbst die Betrüger und Unterschlager heißen heutzutage
Defraudanten. Betrügen! Pfui, wer wird betrügen sagen? „(üonirriknt Niulv-
nivisLllL? — ruft der Betrüger in Lessings »Minna von Barnhelm« aus —
betrügen? OorriAsr ig. lortune! Das neun die Deutsch betrügen? Betrügen!
O, was ist die deutsch Sprat für ein arm Sprat! für ein plump Sprat!" Die
„deutsch Sprnk" hat seitdem etwas gelernt, fie sagt jetzt ganz hofmüßig defrnudiren
und fraudiren.

Auch im entgegengesetzten Sinne, wenn einem anerkennenden Begriffe etwas
von seinem Werte entzogen werden soll, wird ein Fremdwort eingeschoben; so
wird statt achten estimiren gebraucht. Visweilen erscheint dem üblichen Fremd¬
worte gegenüber der echte, deutsche Ausdruck zu gewählt; man fürchtet gegen
die Gewohnheit zu verstoßen und fagt hundertmal für eins Friseur statt Friesler
oder Haarkrüusler, Coiffüre statt Kopfputz, gratuliren statt beglückwünschen,
Collier statt Halsschmuck u. s. w. Oder der deutsche Ausdruck erscheint zu
innerlich und gemütvoll im Vergleich zu dem mehr äußerlichen und kalten Fremd¬
wort, und man hält ihn deshalb zu Gunsten des letztern zurück. Deshalb sagt
man viel öfter intim statt vertraut. Wie auch immer das Verhältnis des einen
zum andern im einzelnen und besondern sei, im allgemeinen stellt das Fremdwort
eine Entfremdung von der Wahrheit, Schlichtheit und Einfachheit dar, eine Vor-
schiebung falschen Scheines und eine Verdunkelung echter deutscher Art, oder mit
einem Worte eine innere Abkehr von der Natur unsrer Sprache.

Wieviel aber wird gegen die Natur überhaupt fort und fort gesündigt und
verstoßen aus Dummheit, Eitelkeit und Ziererei! Da klemmt sich ein grüner
Jüngling im stolzen Unsterblichkeitsdrange einen Zwicker vor seine Augen, die
ihm die gütige Natur kerngesund bescheert hat, um, wie er meint, nach mehr
auszusehen. Oder ein junges Mädchen schnürt sich unsinnig, um, wie sie denkt,
schöner auszusehen, und dabei verkrüppelt ihre von Natur gesunde Leber. Aber
dem Zwickeraffen wie der Schnürncirrin ist beides Gewohnheit geworden, so hart
ihnen anfangs auch der Zwang ankam. Er kann den Klemmer nicht mehr entbehren,
ist wirklich kurzsichtig geworden und blickt ohne das Ding blöde und unsicher in
die Welt hinein; sie kann ohne festen Schnürleib nicht mehr gerade stehen, und
frei bewegen kann sie sich überhaupt nicht. Die Macht der Gewohnheit hat
die Natur überwunden, sie empfinden und kennen die Unnatur nicht mehr.
Wozu sie sich aus Eitelkeit und Narrheit erst haben zwingen müssen, ist ihnen
Lebensbedingung geworden — auf Kosten ihrer Gesundheit, Tüchtigkeit und
Lebensdauer. So ist es auch mit der Sprache. Aus Afferei ist ihr Gewalt
angethan; die Afferei ist zur Gewohnheit geworden, und Afferei nährt fort und
fort die Krankheit. So ist die gesunde Natur unsrer edeln Sprache geschädigt
worden und unnatürliche Entartung eingerissen. Diejenigen, welchen der fremde
Wortimschmasch zur Gewohnheit geworden ist, haben einen Teil ihrer eignen
Muttersprache verlernt oder niemals gelernt. Sie haben den fremden Zwicker


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0486" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194464"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Frcmdwörterseuche.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1789" prev="#ID_1788"> ab, man refüsirt. Selbst die Betrüger und Unterschlager heißen heutzutage<lb/>
Defraudanten. Betrügen! Pfui, wer wird betrügen sagen? &#x201E;(üonirriknt Niulv-<lb/>
nivisLllL? &#x2014; ruft der Betrüger in Lessings »Minna von Barnhelm« aus &#x2014;<lb/>
betrügen? OorriAsr ig. lortune! Das neun die Deutsch betrügen? Betrügen!<lb/>
O, was ist die deutsch Sprat für ein arm Sprat! für ein plump Sprat!" Die<lb/>
&#x201E;deutsch Sprnk" hat seitdem etwas gelernt, fie sagt jetzt ganz hofmüßig defrnudiren<lb/>
und fraudiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1790"> Auch im entgegengesetzten Sinne, wenn einem anerkennenden Begriffe etwas<lb/>
von seinem Werte entzogen werden soll, wird ein Fremdwort eingeschoben; so<lb/>
wird statt achten estimiren gebraucht. Visweilen erscheint dem üblichen Fremd¬<lb/>
worte gegenüber der echte, deutsche Ausdruck zu gewählt; man fürchtet gegen<lb/>
die Gewohnheit zu verstoßen und fagt hundertmal für eins Friseur statt Friesler<lb/>
oder Haarkrüusler, Coiffüre statt Kopfputz, gratuliren statt beglückwünschen,<lb/>
Collier statt Halsschmuck u. s. w. Oder der deutsche Ausdruck erscheint zu<lb/>
innerlich und gemütvoll im Vergleich zu dem mehr äußerlichen und kalten Fremd¬<lb/>
wort, und man hält ihn deshalb zu Gunsten des letztern zurück. Deshalb sagt<lb/>
man viel öfter intim statt vertraut. Wie auch immer das Verhältnis des einen<lb/>
zum andern im einzelnen und besondern sei, im allgemeinen stellt das Fremdwort<lb/>
eine Entfremdung von der Wahrheit, Schlichtheit und Einfachheit dar, eine Vor-<lb/>
schiebung falschen Scheines und eine Verdunkelung echter deutscher Art, oder mit<lb/>
einem Worte eine innere Abkehr von der Natur unsrer Sprache.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1791" next="#ID_1792"> Wieviel aber wird gegen die Natur überhaupt fort und fort gesündigt und<lb/>
verstoßen aus Dummheit, Eitelkeit und Ziererei! Da klemmt sich ein grüner<lb/>
Jüngling im stolzen Unsterblichkeitsdrange einen Zwicker vor seine Augen, die<lb/>
ihm die gütige Natur kerngesund bescheert hat, um, wie er meint, nach mehr<lb/>
auszusehen. Oder ein junges Mädchen schnürt sich unsinnig, um, wie sie denkt,<lb/>
schöner auszusehen, und dabei verkrüppelt ihre von Natur gesunde Leber. Aber<lb/>
dem Zwickeraffen wie der Schnürncirrin ist beides Gewohnheit geworden, so hart<lb/>
ihnen anfangs auch der Zwang ankam. Er kann den Klemmer nicht mehr entbehren,<lb/>
ist wirklich kurzsichtig geworden und blickt ohne das Ding blöde und unsicher in<lb/>
die Welt hinein; sie kann ohne festen Schnürleib nicht mehr gerade stehen, und<lb/>
frei bewegen kann sie sich überhaupt nicht. Die Macht der Gewohnheit hat<lb/>
die Natur überwunden, sie empfinden und kennen die Unnatur nicht mehr.<lb/>
Wozu sie sich aus Eitelkeit und Narrheit erst haben zwingen müssen, ist ihnen<lb/>
Lebensbedingung geworden &#x2014; auf Kosten ihrer Gesundheit, Tüchtigkeit und<lb/>
Lebensdauer. So ist es auch mit der Sprache. Aus Afferei ist ihr Gewalt<lb/>
angethan; die Afferei ist zur Gewohnheit geworden, und Afferei nährt fort und<lb/>
fort die Krankheit. So ist die gesunde Natur unsrer edeln Sprache geschädigt<lb/>
worden und unnatürliche Entartung eingerissen. Diejenigen, welchen der fremde<lb/>
Wortimschmasch zur Gewohnheit geworden ist, haben einen Teil ihrer eignen<lb/>
Muttersprache verlernt oder niemals gelernt.  Sie haben den fremden Zwicker</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0486] Die Frcmdwörterseuche. ab, man refüsirt. Selbst die Betrüger und Unterschlager heißen heutzutage Defraudanten. Betrügen! Pfui, wer wird betrügen sagen? „(üonirriknt Niulv- nivisLllL? — ruft der Betrüger in Lessings »Minna von Barnhelm« aus — betrügen? OorriAsr ig. lortune! Das neun die Deutsch betrügen? Betrügen! O, was ist die deutsch Sprat für ein arm Sprat! für ein plump Sprat!" Die „deutsch Sprnk" hat seitdem etwas gelernt, fie sagt jetzt ganz hofmüßig defrnudiren und fraudiren. Auch im entgegengesetzten Sinne, wenn einem anerkennenden Begriffe etwas von seinem Werte entzogen werden soll, wird ein Fremdwort eingeschoben; so wird statt achten estimiren gebraucht. Visweilen erscheint dem üblichen Fremd¬ worte gegenüber der echte, deutsche Ausdruck zu gewählt; man fürchtet gegen die Gewohnheit zu verstoßen und fagt hundertmal für eins Friseur statt Friesler oder Haarkrüusler, Coiffüre statt Kopfputz, gratuliren statt beglückwünschen, Collier statt Halsschmuck u. s. w. Oder der deutsche Ausdruck erscheint zu innerlich und gemütvoll im Vergleich zu dem mehr äußerlichen und kalten Fremd¬ wort, und man hält ihn deshalb zu Gunsten des letztern zurück. Deshalb sagt man viel öfter intim statt vertraut. Wie auch immer das Verhältnis des einen zum andern im einzelnen und besondern sei, im allgemeinen stellt das Fremdwort eine Entfremdung von der Wahrheit, Schlichtheit und Einfachheit dar, eine Vor- schiebung falschen Scheines und eine Verdunkelung echter deutscher Art, oder mit einem Worte eine innere Abkehr von der Natur unsrer Sprache. Wieviel aber wird gegen die Natur überhaupt fort und fort gesündigt und verstoßen aus Dummheit, Eitelkeit und Ziererei! Da klemmt sich ein grüner Jüngling im stolzen Unsterblichkeitsdrange einen Zwicker vor seine Augen, die ihm die gütige Natur kerngesund bescheert hat, um, wie er meint, nach mehr auszusehen. Oder ein junges Mädchen schnürt sich unsinnig, um, wie sie denkt, schöner auszusehen, und dabei verkrüppelt ihre von Natur gesunde Leber. Aber dem Zwickeraffen wie der Schnürncirrin ist beides Gewohnheit geworden, so hart ihnen anfangs auch der Zwang ankam. Er kann den Klemmer nicht mehr entbehren, ist wirklich kurzsichtig geworden und blickt ohne das Ding blöde und unsicher in die Welt hinein; sie kann ohne festen Schnürleib nicht mehr gerade stehen, und frei bewegen kann sie sich überhaupt nicht. Die Macht der Gewohnheit hat die Natur überwunden, sie empfinden und kennen die Unnatur nicht mehr. Wozu sie sich aus Eitelkeit und Narrheit erst haben zwingen müssen, ist ihnen Lebensbedingung geworden — auf Kosten ihrer Gesundheit, Tüchtigkeit und Lebensdauer. So ist es auch mit der Sprache. Aus Afferei ist ihr Gewalt angethan; die Afferei ist zur Gewohnheit geworden, und Afferei nährt fort und fort die Krankheit. So ist die gesunde Natur unsrer edeln Sprache geschädigt worden und unnatürliche Entartung eingerissen. Diejenigen, welchen der fremde Wortimschmasch zur Gewohnheit geworden ist, haben einen Teil ihrer eignen Muttersprache verlernt oder niemals gelernt. Sie haben den fremden Zwicker

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/486
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/486>, abgerufen am 29.06.2024.