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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Debatten über die soziale Frage.

daß die erster" mit den letztern zwar meist übereinstimmen "könnten," aber eben
doch noch nicht thatsächlich übereinstimmen, schon deshalb nicht, weil sie von
ihrer Hohe herab nicht recht erkennen können, was in der Tiefe vorgeht, und
weil sie daher diesen Vorgängen auch nicht entfernt die gebührende Bedeutung bei¬
legen. Allein in den kommenden Kämpfen, die immer noch in unblutigen Be¬
wegungen zum Austrag kommen mögen, ist es von großer Bedeutung, wenn
ein der Sache an sich fremdes Element leitend eingreift, um die Bewegung selbst
zu einem neuen Machtträger für sich zu machen.

Diese Bedeutung wächst aber ungeheuer an, sobald wir nun von dem Brenn¬
punkt der sozialen Debatte, in dem sich der katholische Geist spiegelte, uns hin¬
wenden zu jenen weiter" Brennpunkten, in denen der nichtkatholische und zum
Teil sogar kirchenfeindliche Geist heraustrat. Hier begegnen wir einem so er¬
staunlichen Abfall in Erörterung und Erkenntnis des Wesens und Umfanges
der sozialen Bewegung, daß wir sofort erkennen, daß hier noch nicht einmal
der Standpunkt der "hohen Politiker" des Ultramontnnismus erreicht, und daß
von einer tiefern Erfassung der einflußreichen oder entscheidenden Fragen nicht
eine Spur vorhanden ist.

Betrachten wir zunächst die merkwürdige Verhandlung des Juristentages
in Kassel! Diese Verhandlung samt ihren Ergebnissen hat freilich für den
Beobachter des öffentlichen Lebens, der tiefer in die Verhältnisse eindringt, kaum
viel überraschendes. Denn insbesondre die praktischen Juristen des Richter-
staudes stehen den sozialen Verhältnisse" merkwürdig indifferent gegenüber; sie
beugen sich über ihre Paragraphen, aber das Leben mit seinen Wellen und der
Verkehr mit seinen Subtilitäten bleibt ihnen fremd. Ist es doch dnrch einen merk¬
würdigen Prozeß festgestellt, daß die Richter in einer bedeutenden Börsenstadt
nicht den Unterschied zwischen der Beteiligung eines Kapitalisten an einem Finanz-
Unternehmen und der Konsvrtialbeteiligung eines Publizisten begreifen konnten!
Sie hielten wirklich beides für dasselbe. Die Zwecke eines Emissiouskousvrtiums,
die Verpflichtung eines Mitgliedes oder Beteiligten bei- demselben waren ihnen
völlig dunkel. Und dies, nachdem eine aufklärende Gründerepoche nicht wenig Licht
über diese Dinge gebreitet hatte.

Die Kasseler Verhandlung und das Gutachten des Professors Gareis ans
Gießen (einer Stadt, die freilich, abgesehen von der Tabakfrage, wenig soziale
Anregung bietet) sind geradeso merkwürdig wie die im letzten Hefte charnkteri-
sirte Verhandlung, und zwar aus dein entgegengesetzten Grunde. Dort nämlich,
in Frankfurt, war man sich der hohen Bedeutung der verhandelten Angelegen¬
heiten wohlbewußt, und von dem Standpunkte der Versammlung aus waren
alle Erörterungen und praktischen Vorschläge wohl angemessen. In Kassel war
von alledem nichts vorhanden. Man erörterte und begutachtete die Differenz¬
geschäfte der Börsen, ohne sich über das soziale Wesen dieser Geschäfte klar zu
Werden. Diese gelehrte Versammlung erinnerte wieder einmal so recht um die


Debatten über die soziale Frage.

daß die erster» mit den letztern zwar meist übereinstimmen „könnten," aber eben
doch noch nicht thatsächlich übereinstimmen, schon deshalb nicht, weil sie von
ihrer Hohe herab nicht recht erkennen können, was in der Tiefe vorgeht, und
weil sie daher diesen Vorgängen auch nicht entfernt die gebührende Bedeutung bei¬
legen. Allein in den kommenden Kämpfen, die immer noch in unblutigen Be¬
wegungen zum Austrag kommen mögen, ist es von großer Bedeutung, wenn
ein der Sache an sich fremdes Element leitend eingreift, um die Bewegung selbst
zu einem neuen Machtträger für sich zu machen.

Diese Bedeutung wächst aber ungeheuer an, sobald wir nun von dem Brenn¬
punkt der sozialen Debatte, in dem sich der katholische Geist spiegelte, uns hin¬
wenden zu jenen weiter» Brennpunkten, in denen der nichtkatholische und zum
Teil sogar kirchenfeindliche Geist heraustrat. Hier begegnen wir einem so er¬
staunlichen Abfall in Erörterung und Erkenntnis des Wesens und Umfanges
der sozialen Bewegung, daß wir sofort erkennen, daß hier noch nicht einmal
der Standpunkt der „hohen Politiker" des Ultramontnnismus erreicht, und daß
von einer tiefern Erfassung der einflußreichen oder entscheidenden Fragen nicht
eine Spur vorhanden ist.

Betrachten wir zunächst die merkwürdige Verhandlung des Juristentages
in Kassel! Diese Verhandlung samt ihren Ergebnissen hat freilich für den
Beobachter des öffentlichen Lebens, der tiefer in die Verhältnisse eindringt, kaum
viel überraschendes. Denn insbesondre die praktischen Juristen des Richter-
staudes stehen den sozialen Verhältnisse» merkwürdig indifferent gegenüber; sie
beugen sich über ihre Paragraphen, aber das Leben mit seinen Wellen und der
Verkehr mit seinen Subtilitäten bleibt ihnen fremd. Ist es doch dnrch einen merk¬
würdigen Prozeß festgestellt, daß die Richter in einer bedeutenden Börsenstadt
nicht den Unterschied zwischen der Beteiligung eines Kapitalisten an einem Finanz-
Unternehmen und der Konsvrtialbeteiligung eines Publizisten begreifen konnten!
Sie hielten wirklich beides für dasselbe. Die Zwecke eines Emissiouskousvrtiums,
die Verpflichtung eines Mitgliedes oder Beteiligten bei- demselben waren ihnen
völlig dunkel. Und dies, nachdem eine aufklärende Gründerepoche nicht wenig Licht
über diese Dinge gebreitet hatte.

Die Kasseler Verhandlung und das Gutachten des Professors Gareis ans
Gießen (einer Stadt, die freilich, abgesehen von der Tabakfrage, wenig soziale
Anregung bietet) sind geradeso merkwürdig wie die im letzten Hefte charnkteri-
sirte Verhandlung, und zwar aus dein entgegengesetzten Grunde. Dort nämlich,
in Frankfurt, war man sich der hohen Bedeutung der verhandelten Angelegen¬
heiten wohlbewußt, und von dem Standpunkte der Versammlung aus waren
alle Erörterungen und praktischen Vorschläge wohl angemessen. In Kassel war
von alledem nichts vorhanden. Man erörterte und begutachtete die Differenz¬
geschäfte der Börsen, ohne sich über das soziale Wesen dieser Geschäfte klar zu
Werden. Diese gelehrte Versammlung erinnerte wieder einmal so recht um die


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[0476] Debatten über die soziale Frage. daß die erster» mit den letztern zwar meist übereinstimmen „könnten," aber eben doch noch nicht thatsächlich übereinstimmen, schon deshalb nicht, weil sie von ihrer Hohe herab nicht recht erkennen können, was in der Tiefe vorgeht, und weil sie daher diesen Vorgängen auch nicht entfernt die gebührende Bedeutung bei¬ legen. Allein in den kommenden Kämpfen, die immer noch in unblutigen Be¬ wegungen zum Austrag kommen mögen, ist es von großer Bedeutung, wenn ein der Sache an sich fremdes Element leitend eingreift, um die Bewegung selbst zu einem neuen Machtträger für sich zu machen. Diese Bedeutung wächst aber ungeheuer an, sobald wir nun von dem Brenn¬ punkt der sozialen Debatte, in dem sich der katholische Geist spiegelte, uns hin¬ wenden zu jenen weiter» Brennpunkten, in denen der nichtkatholische und zum Teil sogar kirchenfeindliche Geist heraustrat. Hier begegnen wir einem so er¬ staunlichen Abfall in Erörterung und Erkenntnis des Wesens und Umfanges der sozialen Bewegung, daß wir sofort erkennen, daß hier noch nicht einmal der Standpunkt der „hohen Politiker" des Ultramontnnismus erreicht, und daß von einer tiefern Erfassung der einflußreichen oder entscheidenden Fragen nicht eine Spur vorhanden ist. Betrachten wir zunächst die merkwürdige Verhandlung des Juristentages in Kassel! Diese Verhandlung samt ihren Ergebnissen hat freilich für den Beobachter des öffentlichen Lebens, der tiefer in die Verhältnisse eindringt, kaum viel überraschendes. Denn insbesondre die praktischen Juristen des Richter- staudes stehen den sozialen Verhältnisse» merkwürdig indifferent gegenüber; sie beugen sich über ihre Paragraphen, aber das Leben mit seinen Wellen und der Verkehr mit seinen Subtilitäten bleibt ihnen fremd. Ist es doch dnrch einen merk¬ würdigen Prozeß festgestellt, daß die Richter in einer bedeutenden Börsenstadt nicht den Unterschied zwischen der Beteiligung eines Kapitalisten an einem Finanz- Unternehmen und der Konsvrtialbeteiligung eines Publizisten begreifen konnten! Sie hielten wirklich beides für dasselbe. Die Zwecke eines Emissiouskousvrtiums, die Verpflichtung eines Mitgliedes oder Beteiligten bei- demselben waren ihnen völlig dunkel. Und dies, nachdem eine aufklärende Gründerepoche nicht wenig Licht über diese Dinge gebreitet hatte. Die Kasseler Verhandlung und das Gutachten des Professors Gareis ans Gießen (einer Stadt, die freilich, abgesehen von der Tabakfrage, wenig soziale Anregung bietet) sind geradeso merkwürdig wie die im letzten Hefte charnkteri- sirte Verhandlung, und zwar aus dein entgegengesetzten Grunde. Dort nämlich, in Frankfurt, war man sich der hohen Bedeutung der verhandelten Angelegen¬ heiten wohlbewußt, und von dem Standpunkte der Versammlung aus waren alle Erörterungen und praktischen Vorschläge wohl angemessen. In Kassel war von alledem nichts vorhanden. Man erörterte und begutachtete die Differenz¬ geschäfte der Börsen, ohne sich über das soziale Wesen dieser Geschäfte klar zu Werden. Diese gelehrte Versammlung erinnerte wieder einmal so recht um die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/476>, abgerufen am 28.09.2024.