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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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muß bedeuten, daß es bei jedem zukünftigen Vorrücken über den Balkan das
Wohlwollen der beiden deutschen Mächte zu erkaufen oder deren Feindschaft dnrch
Zugeständnisse zu verhüten bereit ist. Das Geschäft in Bosnien hat dieses neue
Prinzip im Südosten Europas ein für allemal festgestellt. Aber Berlin und
Wien haben durchaus kein Interesse daran, das Wachsen Rußlands in Asien zu
erschweren, und es liegt in dessen Thätigkeit in diesem Weltteile nichts, was ein neues
Einverständnis zwischen den drei Mächten ausschlösse. Es ist natürlich leicht, von
dieser Lage der Dinge auf die Möglichkeit einer Teilung der Türkei als im Ein¬
vernehmen der drei großen Militärstaaten liegend zu schließen, aber die Wahrschein¬
lichkeit spricht unsrer Meinung nach doch mehr für Erhaltung des Friedens, weil
die Schwierigkeiten einer Verständigung, die dem Angriffe als Basis dienen müßte,
zu groß sind. (Wir würden sagen, weil Deutschland und Österreich-Ungarn kein Ver¬
langen nach fremdem Eigentum empfinden, sondern sich mit Sicherstellung des ihnen
gehörigen begnügen und Erhaltung des Friedens als alleiniges Ziel vor Augen
haben.) Rußland sieht sich zum erstenmale der Notwendigkeit gegenübergestellt,
bei jedem neuen Angriffe auf die europäische Türkei mit Österreich zu rechnen
und die Beute mit einem ebenfalls auf Erwerb ausgehenden Verbündeten zu
teilen. Es mag zögern, Millionen auf einen gemeinschaftlichen Angriff zu ver¬
wenden, welcher den alten Traum vou einer glorreichen russischen Armee ver¬
dunkeln würde, die allem und ohne Beistand wieder das Kreuz auf die Kuppel-
spitze der Hagia Sophia pflanzt. Dann aber, wenn ein Bündnis mit Frankreich
ein Ding der Unmöglichkeit ist, und wenn infolge der neuen Stellung Österreichs
in Bosnien, in der Flanke eines russischen Heeres, ein Krieg mit der Pforte
verschoben werden muß, so weisen unsers Erachtens alle Umstünde kluge russische
Staatsmänner daraus hin, in Wien und Berlin freundschaftliche Beziehungen
zu pflegeu und um den europäischen Frieden aufrecht zu erhalten. Mit dem General
Jguatiefs zog sich der Panslavismus ans dem Petersburger Kabinet zurück,
seiue soldatische Kraft rostet mit Skobeleffs Degen in dessen Gruft, ihn wieder
aufleben lassen hieße mit einem gefährlichen Feuer spielen, während die Nihilisten,
den ihren Plänen günstigen Augenblick erwartend, als Zuschauer dabei stünden.
Auch die Finanzen Rußlands, durch den letzten Krieg schwer geschädigt und
heruntergebracht, empfehlen gebieterisch den Frieden."

Manches hiervon ist unzweifelhaft richtig, andres zu weit hergeholt, wenn
es sich um die Bedeutung des Abstechers nach Varzin handelt, den der russische
Minister bei seiner Reise von Petersburg nach Pisa machte. Daß derselbe ein
Symptom friedlicher Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland ist, liegt
auf der Hand, daß der Kaiser Alexander von ihm vorher gewußt und ihn ge¬
billigt hat, ebenfalls, daß die Anzeichen einer Annäherung Englands an das
deutsche Reich und seinen Verbündeten an der Donan die Absicht zu dem Be¬
suche eingegeben haben, ist nicht undenkbar, aber auch nicht notwendig. Wir
möchten uns die Sache so vorstellen, daß Rußland mit der Giersschen Reise


muß bedeuten, daß es bei jedem zukünftigen Vorrücken über den Balkan das
Wohlwollen der beiden deutschen Mächte zu erkaufen oder deren Feindschaft dnrch
Zugeständnisse zu verhüten bereit ist. Das Geschäft in Bosnien hat dieses neue
Prinzip im Südosten Europas ein für allemal festgestellt. Aber Berlin und
Wien haben durchaus kein Interesse daran, das Wachsen Rußlands in Asien zu
erschweren, und es liegt in dessen Thätigkeit in diesem Weltteile nichts, was ein neues
Einverständnis zwischen den drei Mächten ausschlösse. Es ist natürlich leicht, von
dieser Lage der Dinge auf die Möglichkeit einer Teilung der Türkei als im Ein¬
vernehmen der drei großen Militärstaaten liegend zu schließen, aber die Wahrschein¬
lichkeit spricht unsrer Meinung nach doch mehr für Erhaltung des Friedens, weil
die Schwierigkeiten einer Verständigung, die dem Angriffe als Basis dienen müßte,
zu groß sind. (Wir würden sagen, weil Deutschland und Österreich-Ungarn kein Ver¬
langen nach fremdem Eigentum empfinden, sondern sich mit Sicherstellung des ihnen
gehörigen begnügen und Erhaltung des Friedens als alleiniges Ziel vor Augen
haben.) Rußland sieht sich zum erstenmale der Notwendigkeit gegenübergestellt,
bei jedem neuen Angriffe auf die europäische Türkei mit Österreich zu rechnen
und die Beute mit einem ebenfalls auf Erwerb ausgehenden Verbündeten zu
teilen. Es mag zögern, Millionen auf einen gemeinschaftlichen Angriff zu ver¬
wenden, welcher den alten Traum vou einer glorreichen russischen Armee ver¬
dunkeln würde, die allem und ohne Beistand wieder das Kreuz auf die Kuppel-
spitze der Hagia Sophia pflanzt. Dann aber, wenn ein Bündnis mit Frankreich
ein Ding der Unmöglichkeit ist, und wenn infolge der neuen Stellung Österreichs
in Bosnien, in der Flanke eines russischen Heeres, ein Krieg mit der Pforte
verschoben werden muß, so weisen unsers Erachtens alle Umstünde kluge russische
Staatsmänner daraus hin, in Wien und Berlin freundschaftliche Beziehungen
zu pflegeu und um den europäischen Frieden aufrecht zu erhalten. Mit dem General
Jguatiefs zog sich der Panslavismus ans dem Petersburger Kabinet zurück,
seiue soldatische Kraft rostet mit Skobeleffs Degen in dessen Gruft, ihn wieder
aufleben lassen hieße mit einem gefährlichen Feuer spielen, während die Nihilisten,
den ihren Plänen günstigen Augenblick erwartend, als Zuschauer dabei stünden.
Auch die Finanzen Rußlands, durch den letzten Krieg schwer geschädigt und
heruntergebracht, empfehlen gebieterisch den Frieden."

Manches hiervon ist unzweifelhaft richtig, andres zu weit hergeholt, wenn
es sich um die Bedeutung des Abstechers nach Varzin handelt, den der russische
Minister bei seiner Reise von Petersburg nach Pisa machte. Daß derselbe ein
Symptom friedlicher Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland ist, liegt
auf der Hand, daß der Kaiser Alexander von ihm vorher gewußt und ihn ge¬
billigt hat, ebenfalls, daß die Anzeichen einer Annäherung Englands an das
deutsche Reich und seinen Verbündeten an der Donan die Absicht zu dem Be¬
suche eingegeben haben, ist nicht undenkbar, aber auch nicht notwendig. Wir
möchten uns die Sache so vorstellen, daß Rußland mit der Giersschen Reise


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/473>, abgerufen am 29.06.2024.