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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Herr von Giers in varzin.

aber ist zu einer Allianz, wie sie uns mit Österreich-Ungarn verknüpft, noch ein
weiter Weg, und daß derselbe betreten werden wird, erscheint uus auch im Hinblick
auf die Denkart Gladstones, der dabei seine ganze Vergangenheit verleugnen
müßte, solange zweifelhaft, als jene Entfremdung nicht zu offenem Zerwürfnis
geworden ist. Dann niber würde doch auch zu fragen sein, ob uns mit einem
englischen Bündnisse uuter allen Umständen so sehr gedient wäre, wie manche
Leute meinen.

Wir werfen uoch einen Blick ans die Betrachtungen, welche der "Daily
Telegraph" über den Giersschen Bestich in Varzin anstellt. Er sagt u. n.: "Die
Thatsache, welche gegenwärtig die Lage der Dinge beherrscht, ist der Zustand
Frankreichs. Den Roten genügt die Republik uicht, und niemand weiß, ob nicht
bald eine zweite Kommune in Paris gebieten wird. So müssen die drei östlichen
Kaiserreiche mit gleichen Befürchtungen nach Westen blicken, wo jeden Nngenblick
eine neue Feuersbrunst, von politischen Mordbrennern angelegt, aufgehen kann.
Die Folgen dieser Haltung können durch Schlüsse aus der Geschichte erkannt
werden. Wenn früher zwischen den drei Staaten Zwistigkeiten ausbrachen, machte
sich immer Frankreich den Streit zu nutze, sein Bündnis ermutigte einen der
Verbündeten zum Abfall oder zum Kriege. Eine Allianz mit dem Pariser Kabinet
ist gegenwärtig so schwierig, daß man sie für außerhalb des Gebiets praktischer
Politik liegend erklären kann. Ministerwechsel sind so möglich, daß eine für das
Ohr eines Ministers des Auswärtigen bestimmte Depesche, wenn sie Paris er¬
reicht, einem politischen Gegner desselben vor die Augen kommen kann. Niemand
ist einen Monat lang der Macht sicher, nichts ist für die Dauer festgestellt, uicht
einmal die republikanische Staatsform. Die Nihilisten, welche das Leben des
Zaren bedrohen, werden durch wütende Pariser Brandschriften inspirirt und er¬
mutigt und sind mit den Anarchisten von Lyon eng verbrüdert, die ihrerseits
in Mitarbeitern an den Blättern Gambettas Verteidiger finden. So machen
persönliche Interessen und Befürchtungen des russischen Hofes ein Zusammen¬
gehen mit der Republik unthunlich, selbst wenn das Schwanken und Wechseln
der Politik in Paris nicht genügende Gründe gegen Verträge mit den Eintags¬
fliegen lieferte, die man heutzutage in Frankreich Staatsminister nennt. Andrer¬
seits fühlt sich Rußland in seinem Kampfe mit den internationalen Meuchel¬
mördern zu Berlin und Wien hingezogen, wo die Polizei ihm die Pläne seiner
tätlichsten Feinde entdecken und vereiteln hilft. Das alles treibt auf Frieden
hin. Wird aber Nußland in seinem Eifer gegen die Nihilisten die alten Antriebe
seiner Politik zu territorialer Ausdehnung vergessen? Nein, aber die Richtung
kann geändert werden. Rußland hat sich, wenn wir nach der Vergangenheit
urteilen, langsam nach Europa hin ausgedehnt, wobei es sein Weiterschreiten
unterbrach, sobald sich ihm ein Hindernis in den Weg stellte; dagegen ist es in
Mittelasien mit großen Schritten weitergegangen und hat hier auf seinem Vor¬
marsche nur selten Halt gemacht. Sein Bündnis mit Österreich und Preußen


Herr von Giers in varzin.

aber ist zu einer Allianz, wie sie uns mit Österreich-Ungarn verknüpft, noch ein
weiter Weg, und daß derselbe betreten werden wird, erscheint uus auch im Hinblick
auf die Denkart Gladstones, der dabei seine ganze Vergangenheit verleugnen
müßte, solange zweifelhaft, als jene Entfremdung nicht zu offenem Zerwürfnis
geworden ist. Dann niber würde doch auch zu fragen sein, ob uns mit einem
englischen Bündnisse uuter allen Umständen so sehr gedient wäre, wie manche
Leute meinen.

Wir werfen uoch einen Blick ans die Betrachtungen, welche der „Daily
Telegraph" über den Giersschen Bestich in Varzin anstellt. Er sagt u. n.: „Die
Thatsache, welche gegenwärtig die Lage der Dinge beherrscht, ist der Zustand
Frankreichs. Den Roten genügt die Republik uicht, und niemand weiß, ob nicht
bald eine zweite Kommune in Paris gebieten wird. So müssen die drei östlichen
Kaiserreiche mit gleichen Befürchtungen nach Westen blicken, wo jeden Nngenblick
eine neue Feuersbrunst, von politischen Mordbrennern angelegt, aufgehen kann.
Die Folgen dieser Haltung können durch Schlüsse aus der Geschichte erkannt
werden. Wenn früher zwischen den drei Staaten Zwistigkeiten ausbrachen, machte
sich immer Frankreich den Streit zu nutze, sein Bündnis ermutigte einen der
Verbündeten zum Abfall oder zum Kriege. Eine Allianz mit dem Pariser Kabinet
ist gegenwärtig so schwierig, daß man sie für außerhalb des Gebiets praktischer
Politik liegend erklären kann. Ministerwechsel sind so möglich, daß eine für das
Ohr eines Ministers des Auswärtigen bestimmte Depesche, wenn sie Paris er¬
reicht, einem politischen Gegner desselben vor die Augen kommen kann. Niemand
ist einen Monat lang der Macht sicher, nichts ist für die Dauer festgestellt, uicht
einmal die republikanische Staatsform. Die Nihilisten, welche das Leben des
Zaren bedrohen, werden durch wütende Pariser Brandschriften inspirirt und er¬
mutigt und sind mit den Anarchisten von Lyon eng verbrüdert, die ihrerseits
in Mitarbeitern an den Blättern Gambettas Verteidiger finden. So machen
persönliche Interessen und Befürchtungen des russischen Hofes ein Zusammen¬
gehen mit der Republik unthunlich, selbst wenn das Schwanken und Wechseln
der Politik in Paris nicht genügende Gründe gegen Verträge mit den Eintags¬
fliegen lieferte, die man heutzutage in Frankreich Staatsminister nennt. Andrer¬
seits fühlt sich Rußland in seinem Kampfe mit den internationalen Meuchel¬
mördern zu Berlin und Wien hingezogen, wo die Polizei ihm die Pläne seiner
tätlichsten Feinde entdecken und vereiteln hilft. Das alles treibt auf Frieden
hin. Wird aber Nußland in seinem Eifer gegen die Nihilisten die alten Antriebe
seiner Politik zu territorialer Ausdehnung vergessen? Nein, aber die Richtung
kann geändert werden. Rußland hat sich, wenn wir nach der Vergangenheit
urteilen, langsam nach Europa hin ausgedehnt, wobei es sein Weiterschreiten
unterbrach, sobald sich ihm ein Hindernis in den Weg stellte; dagegen ist es in
Mittelasien mit großen Schritten weitergegangen und hat hier auf seinem Vor¬
marsche nur selten Halt gemacht. Sein Bündnis mit Österreich und Preußen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/472>, abgerufen am 29.06.2024.