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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Herr von Giers in Varzin.

wirrnug und Enttäuschung." Deutschland sei, so heißt es dann weiter, so
mächtig, daß (hier möchten wir selbst nicht so zuversichtlich sprechen, sondern
ein vor Frevel bewahrendes "unberufen" einfügen) weder ein Krieg im Osten,
noch Umtriebe im Westen oder Unruhen im Süden seine Stellung erschüttern
könnten; Rnßlnnd dagegen sei durch seine geographische Lage wie durch seine
diplomatische Stellung auf ein freundschaftliches Einvernehmen mit Deutschland
angewiesen. In Betreff Englands aber sagt das Blatt: "Kein Volk hat mehr
Grund als wir, sich dazu Glück zu wünschen, daß der Mittel- und Schwerpunkt
des politischen Lebens Europas gegenwärtig in Berlin ist. Dies schreibt sich
von dem Vertrage von 1878 her, von welchem die englischen Politiker, die ihn
tadelten, vor kurzem so in die Augen fallende Vorteile geerntet haben. . . Dieser
Einfluß der beiden Kaiserreiche (Deutschland und Österreich sind gemeint) ist
durchweg konservativer Natur und der Entschlossenheit des Fürsten Vismarck
zu verdanken. Er hat für Mitteleuropa gethan, was Lord Beaconsfield und
Lord Salisbury für England gethan haben: er hat ihm Frieden mit Ehren
verschafft. Ohne Zweifel ist Rnßlnnd nicht die einzige unzufriedene Macht.
Zwar ist die Unbeständigkeit Italiens einer verständigen Haltung gewichen, aber
jene Nation, welche vor zwölf Jahren auf dem Festlande das Schiedsrichteramt
übte, bleibt im tiefsten Grunde ihres Herzens unversöhnlich. Der vollständige
Sieg Deutschlands ans dem Gebiete staatsmännischer Kunst wie auf dem Schlacht-
felde kann Frankreich natürlich nicht wohlthun. Vergleicht man jedoch un¬
parteiisch die heutige Lage Europas mit der in jener Zeit, in welcher der Traum
Victor Hugos Wirklichkeit geworden und Paris der Mittelpunkt der Welt war,
so wird man sich der Überzeugung nicht verschließen können, daß wir jetzt besser
daran siud als damals. Der Friede ist viel mehr gesichert, und der Einfluß
Englands wird weiter empfunden. Die Ursache dieser Erscheinung liegt darin,
daß unsre Bedürfnisse gegenwärtig natürliche sind, während sie damals er¬
künstelte waren. So können wir nicht umhin, uns die Gefahr hin, einige senti¬
mentale Lesarten der Geschichte, wie sie sich vom Standpunkte der Radikalen
ausnimmt, zu verletzen, die Bemerkung zu machen, daß die alte Torypolitik,
die ans Anschluß an die deutschen Mächte ging, wieder zur Geltung ge¬
kommen ist."

Auch wir nehmen an, daß etwas der Art im Gange ist oder sich wenigstens
vorbereitet. Aber von einem förmlichen Bündnisse zwischen den beiden mittel¬
europäischen Alliirten und Großbritannien oder etwas dem ähnlichen ist schwerlich
schon die Rede gewesen und wird auch vermutlich nicht sobald die Rede sein,
da die englische Politik sich auf völkerrechtliche Bündnisse von Dauer und ohne
einen bestimmten und beschränkten Zweck bisher niemals eingelassen hat. Die
Entfremdung zwischen England und Frankreich, die sich aus der ägyptischen
Frage entwickelt hat, mag die Staatsmänner, die in London an der Spitze der
Geschäfte stehen, auf eine Annäherung an Deutschland hinweisen. Von dieser


Herr von Giers in Varzin.

wirrnug und Enttäuschung." Deutschland sei, so heißt es dann weiter, so
mächtig, daß (hier möchten wir selbst nicht so zuversichtlich sprechen, sondern
ein vor Frevel bewahrendes „unberufen" einfügen) weder ein Krieg im Osten,
noch Umtriebe im Westen oder Unruhen im Süden seine Stellung erschüttern
könnten; Rnßlnnd dagegen sei durch seine geographische Lage wie durch seine
diplomatische Stellung auf ein freundschaftliches Einvernehmen mit Deutschland
angewiesen. In Betreff Englands aber sagt das Blatt: „Kein Volk hat mehr
Grund als wir, sich dazu Glück zu wünschen, daß der Mittel- und Schwerpunkt
des politischen Lebens Europas gegenwärtig in Berlin ist. Dies schreibt sich
von dem Vertrage von 1878 her, von welchem die englischen Politiker, die ihn
tadelten, vor kurzem so in die Augen fallende Vorteile geerntet haben. . . Dieser
Einfluß der beiden Kaiserreiche (Deutschland und Österreich sind gemeint) ist
durchweg konservativer Natur und der Entschlossenheit des Fürsten Vismarck
zu verdanken. Er hat für Mitteleuropa gethan, was Lord Beaconsfield und
Lord Salisbury für England gethan haben: er hat ihm Frieden mit Ehren
verschafft. Ohne Zweifel ist Rnßlnnd nicht die einzige unzufriedene Macht.
Zwar ist die Unbeständigkeit Italiens einer verständigen Haltung gewichen, aber
jene Nation, welche vor zwölf Jahren auf dem Festlande das Schiedsrichteramt
übte, bleibt im tiefsten Grunde ihres Herzens unversöhnlich. Der vollständige
Sieg Deutschlands ans dem Gebiete staatsmännischer Kunst wie auf dem Schlacht-
felde kann Frankreich natürlich nicht wohlthun. Vergleicht man jedoch un¬
parteiisch die heutige Lage Europas mit der in jener Zeit, in welcher der Traum
Victor Hugos Wirklichkeit geworden und Paris der Mittelpunkt der Welt war,
so wird man sich der Überzeugung nicht verschließen können, daß wir jetzt besser
daran siud als damals. Der Friede ist viel mehr gesichert, und der Einfluß
Englands wird weiter empfunden. Die Ursache dieser Erscheinung liegt darin,
daß unsre Bedürfnisse gegenwärtig natürliche sind, während sie damals er¬
künstelte waren. So können wir nicht umhin, uns die Gefahr hin, einige senti¬
mentale Lesarten der Geschichte, wie sie sich vom Standpunkte der Radikalen
ausnimmt, zu verletzen, die Bemerkung zu machen, daß die alte Torypolitik,
die ans Anschluß an die deutschen Mächte ging, wieder zur Geltung ge¬
kommen ist."

Auch wir nehmen an, daß etwas der Art im Gange ist oder sich wenigstens
vorbereitet. Aber von einem förmlichen Bündnisse zwischen den beiden mittel¬
europäischen Alliirten und Großbritannien oder etwas dem ähnlichen ist schwerlich
schon die Rede gewesen und wird auch vermutlich nicht sobald die Rede sein,
da die englische Politik sich auf völkerrechtliche Bündnisse von Dauer und ohne
einen bestimmten und beschränkten Zweck bisher niemals eingelassen hat. Die
Entfremdung zwischen England und Frankreich, die sich aus der ägyptischen
Frage entwickelt hat, mag die Staatsmänner, die in London an der Spitze der
Geschäfte stehen, auf eine Annäherung an Deutschland hinweisen. Von dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/471>, abgerufen am 29.06.2024.